»So, dann erzähl mal, was es mit dem Brief auf sich hat?« Dave und ich hatten nach der Probe noch mit Lance bei Pizza Hut gegessen und befanden uns nun wieder bei mir im Wohnzimmer. Lance war so nett gewesen, uns nach Hause zu fahren.
Dave verzog ein paar Mal das Gesicht, offenbar überlegte er, ob es einen Ausweg gab. Doch ich ließ ihn damit nicht davonkommen. Betreten sah er zu Boden. »Ich hab’s vergessen.«
»Vergessen? Das ist sicher nicht das erste Mal, dass du deine Hausaufgaben nicht gemacht hast. Sonst hättest du dafür keinen Brief kassiert.«
Auch wenn er mich noch immer nicht ansah, konnte ich sehen, dass er die Augenbrauen wütend verzog.
Seufzend ließ ich mich neben ihm auf dem Sofa nieder und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Na los, erzähl schon, was los ist.«
Heftig schüttelte er den Kopf und verschränkte zusätzlich noch die Arme, nachdem er meine Hand mit einem Schulterzucken abgeschüttelt hatte.
Eine ganze Weile sah ich ihn forschend an, wartete, ob er es sich vielleicht doch noch überlegte. Doch er blieb bei seiner Haltung. Ich stand auf. »Gut, dann musst du das morgen deiner Mum allein erklären, wenn du dir nicht helfen lassen möchtest. Hast du heute welche auf?«
»Hab ich schon gemacht.« Auch wenn er noch immer bockig klang, ich war mir sicher, dass er mich nicht anlog.
»Dann ab ins Bad und mach dich fürs Bett fertig«, forderte ich ihn auf und scheuchte ihn von der Couch.
Mit großen bittenden Augen sah er mich an. »Kann ich nicht noch ein bisschen aufbleiben? Es ist doch noch nicht sooo spät. Bitte!«
Ich erwiderte sein Betteln mit einem Großer-Bruder-Blick. »Deine Mum wird schon wütend sein, wenn du morgen mit dem Schrieb nach Hause kommst und weil du hiergeblieben bist, du willst doch nicht auch noch Ärger, weil du zu lange wach warst, oder?«
»Isi, bitte!« Seine Augen wurden noch größer.
»Nur, wenn du mir ehrlich sagst, was es hiermit auf sich hat.« Ich nahm den Brief vom Tisch und wedelte damit vor seiner Nase.
Noch einmal verzog er bockig das Gesicht, nickte dann aber.
Mit einer Geste lud ich ihn erneut ein, sich auf die Couch zu setzen und machte es mir daneben bequem. »Also, dann erzähl mal. Das passt so gar nicht zu dir.«
Er kaute ein wenig auf seiner Unterlippe herum, bevor er leise antwortete: »Die anderen sagen, ich bin ein Streber.«
Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch. Okay, er war ein guter Schüler, aber ganz sicher kein Streber! »Was sind das denn für Deppen?! Wie kommen die darauf?«
Dave zog die Schultern hoch und sah mich betroffen an. »Ich weiß nicht. Sie haben auf einmal damit angefangen.«
»Auf einmal?« Das konnte ich mir kaum vorstellen. Es waren Arschlöcher, meinen kleinen Bruder zu beleidigen, ich konnte mir dennoch nicht vorstellen, dass es aus dem Nichts kam. »Sicher, dass es nicht doch einen Auslöser gab?«
Die Art, wie er den Kopf zu Seite drehte, bestätigte meinen Verdacht, dass er ganz genau wusste, warum sie ihn ärgerten. Was hatte er nur angestellt? Sonst war er meines Wissens ein recht beliebter Schüler gewesen.
Ich drehte sein Gesicht in meine Richtung. »Na los, raus mit der Sprache, was ist passiert?«
»Ich will mit dir nicht darüber reden.« Erneut war sein Gesichtsausdruck zornig und er riss seinen Kopf aus meinem Griff.
Überrascht zog ich die Augenbrauen hoch. Wie bitte? Das waren ja ganz neue Töne.
Ein paar Mal musste ich schlucken, bevor ich das verarbeitet hatte. Mein kleiner Bruder wollte nicht mit mir über seine Probleme reden! Das traf mich verdammt hart. »Wa... Warum nicht?«
»Du verstehst es doch sowieso nicht!«
»Was macht dich da so sicher?«, fragte ich bemüht ruhig. Noch immer konnte ich nicht fassen, dass ich Daves Vertrauen verloren hatte. Früher hätte er mir alles erzählt. Sogar noch bevor er zu unseren Eltern gegangen wäre. »Ich war auch mal in der Middle School.«
»Ja, aber du bist schwul, du verstehst das nicht.«
Trotz der Lage konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Soso, weil ich angeblich schwul war, konnte ich das also nicht verstehen. Na, das wollten wir doch erstmal sehen. »Es geht also um ein Mädchen? Ich vermute mal, diese ... Wie hieß sie nochmal? Das Mädchen, das am Wochenende Geburtstag hat?«
»Samantha!«, antwortete er zu laut und aufgeregt, um mir weismachen zu können, dass das nichts miteinander zu tun hatte.
»Also gut, es geht also um Samantha. Und warum soll ich das jetzt nicht verstehen können?«
»Na weil du eben schwul bist! Du weißt nicht, wie das ist, in ein Mädchen verliebt zu sein!«
Noch einmal schmunzelte ich. »Doch, natürlich weiß ich, wie es ist, in ein Mädchen verliebt zu sein. Ich hatte auch ein Mädchen in der Middle School, das ich ganz toll fand.«
Mit großen Augen sah er mich an. »Das geht doch gar nicht. Du bist schwul!«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, bin ich nicht.«
»Doch! Du hast mit Peter zusammengewohnt. Also bist du schwul.«
Ich seufzte schwer. Eigentlich war das gerade nicht der richtige Zeitpunkt, um mit ihm über meine sexuelle Orientierung zu diskutieren, aber scheinbar war es die einzige Möglichkeit, zu ihm durchzukommen. »Ich bin trotzdem nicht schwul, sondern bi. Ich mag Männer und Frauen.«
Einen Moment schien er zu zweifeln, dann antwortete er: »Aber das geht doch gar nicht.«
»Warum soll das nicht gehen? Mir ist es eben egal, ob die Person, in die ich mich verliebe, männlich oder weiblich ist. Viel wichtiger ist doch, dass man sich gut versteht.« Nicht, dass ich großartig vorhatte, mich zu verlieben, aber für ihn war es wohl einfacher, wenn ich vom Verlieben sprach und nicht von Sex. Dafür war er auch eindeutig noch zu jung.
Dave schien eine Weile über meine Worte nachzudenken. »Also könnte ich auch Mädchen und Jungs mögen?«
Ich lachte kurz auf und wuschelte ihm durch die Haare. »Ich weiß nicht, vielleicht. Das wäre doch auch nichts Schlimmes.«
»Aber du hattest noch nie eine Freundin, oder?«
»Nein.« Kurz dachte ich darüber nach, wie ich meine Gedanken ausdrücken sollte. Immerhin hatte Dave die Sache mit Marie damals mitbekommen, ich war mir jedoch nicht sicher, ob und wie gut er sich noch daran erinnerte. Ich wollte ihm immerhin keinen falschen Eindruck vermitteln. Er sollte ruhig so lange wie möglich daran glauben, dass man Sex nur mit jemandem hatte, den man liebte. »Aber ich hab zum Beispiel Marie sehr gern gehabt.«
»Marie?« Mit zusammengezogenen Augenbrauen sah er zu mir herüber.
»Die Tochter von Onkel Bryan und Tante Maria.«
»Ah, Marie Ann!« Kurz hellte sich seine Miene auf, dann wirkte er wieder nachdenklich. Nach einer Weile wurde er rot. Offenbar war ihm wieder eingefallen, was er mitbekommen hatte und verstand es mittlerweile wohl auch. Leise flüsterte er: »Ich erinnere mich.«
Ich lächelte ihm aufmunternd zu. »Dann erzähl mal, was deine Hausaufgaben mit Samantha zu tun haben.«
Nur sehr zögerlich begann Dave nun doch zu reden. Offenbar war Samantha sehr beliebt und einige der anderen Jungs eifersüchtig, weil sie ihn zu ihrem Geburtstag eingeladen hatte. Mich überraschte ernsthaft, dass sie bereits in dem Alter mit so einem Unfug anfingen, aber man sagte wohl nicht umsonst, dass Kinder immer früher erwachsen wurden. Anfangs verstand ich nicht, wie das mit Daves Hausaufgaben zusammenhing, immerhin schätzte ich ihn nicht so ein, sich von ein paar Arschlöchern entmutigen zu lassen. Doch dann erklärte er nach einigem Nachbohren, dass auch Samantha angefangen hätte, ihn zu hänseln. Ab da konnte ich mir selbst zusammenreimen, dass er seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte, um sie vom Gegenteil zu überzeugen.
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. »Dave, ehrlich, was willst du noch von ihr, wenn sie dich hänselt?«
»Aber sie hat das doch nur gemacht, weil die anderen sie sonst auch geärgert hätten!«, verteidigte er seinen Schwarm.
»Das ist egal. Wenn sie dich wirklich gern hätte, würde sie dich nicht ärgern!« War ich in dem Alter auch so anstrengend gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern, würde es aber auch nicht abstreiten. Dennoch hatte ich mit zwölf eindeutig andere Baustellen gehabt. Mädchen waren da das kleinste Problem. »Hör zu, ich rede morgen mit deinen Eltern wegen dem Zettel, aber ich werd sie nicht dazu überreden, dich zu dem Geburtstag zu lassen. Nicht, bevor sich Samantha nicht bei dir entschuldigt hat.«
»Aber ...«
»Nichts aber. Sie hat kein Recht, dich zu ärgern. Du hast ihr nichts getan.« Ich diskutierte noch eine ganze Weile mit Dave, bis er einwilligte, dass ich am nächsten Morgen mit zur Schule kam und mich mit Samantha unterhielt. Mir war es nur recht. Wenn sie mich ehrlich davon überzeugen konnte, dass sie Dave nicht mehr ärgerte, würde ich seine Eltern auch dazu überreden, ihn auf die Geburtstagsfeier zu lassen.
Nachdem wir das geklärt hatten, holte ich eine kleine Packung Eis aus dem Gefrierfach und sah mit ihm zusammen noch eine Folge irgendeiner Sitcom. Weder Dave noch ich hatten je eine Folge davon gesehen, dennoch unterhielt es uns und wir konnten nebenbei lockeren Smalltalk halten.
Pünktlich zum Ende der Folge begann er zu gähnen.
Ich schmunzelte kurz in seine Richtung und nahm ihm den Löffel ab. »Na los, Abmarsch ins Bad mit dir. Es ist mehr als spät genug, du müsstest sicher schon seit mindestens einer Stunde im Bett sein.«
Ich sah ihm an, dass er protestieren wollte, doch ein Blick auf die Uhr überzeugte ihn dann doch davon, dass ich recht hatte. Selbstständig machte er sich im Bad fertig, während ich für ihn mein Bett und für mich die Couch im Wohnzimmer vorbereitete. Auch wenn ich morgen ungewohnt früh rausmusste, wollte ich jetzt noch nicht schlafen gehen, daher überließ ich ihm mein Schlafzimmer.
Eine viertel Stunde später stand er etwas schüchtern und nur in Boxershorts in der Tür zum Wohnzimmer. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht.« Ich sah kurz auf und lächelte ihn an.
Doch, statt ins Bett zu gehen, blieb er weiter bedröppelt stehen.
»Was ist?«
»Kannst du mich ins Bett bringen?«
Verwundert hob ich die Augenbrauen. War er dafür nicht schon ein bisschen zu alt? Ich konnte mir zumindest nicht vorstellen, dass Dad oder der Drache ihn noch immer jeden Abend ins Bett brachten.
Dennoch tat ich ihm den Gefallen und begleitete ihn. Er kuschelte sich in die Bettdecke und sah zu mir auf.
Nun war es an mir, verunsichert zu sein. Ich hatte ihn seit mindestens fünf Jahren nicht mehr ins Bett gebracht. Was erwartete er jetzt von mir? Einen Gute-Nacht-Kuss? Dass ich ihn zudeckte? Früher hätte ich sicher beides getan, doch nun kam es mir falsch vor. Zumal er sich schon selbst zugedeckt hatte. Aus der Ratlosigkeit heraus fragte ich: »Soll ich dir noch was vorsingen?«
Ihm schien nun auch aufzugehen, dass er dafür schon etwas zu alt war, denn er ein ertappter Ausdruck trat auf sein Gesicht und er vergrub es tiefer in Decke und Kissen. Dennoch konnte ich ein leises »Ja« vernehmen.
Erst wollte ich ihm sagen, dass ich das albern fand, doch dann wurde mir bewusst, dass ich sicher nicht mehr oft die Gelegenheit dazu haben würde. Er wurde immerhin nicht jünger und spätestens in ein oder zwei Jahren war er definitiv zu cool dafür.
Also setzte ich mich auf den Bettrand und sang sein Schlaflied, während ich ihm leicht über den Arm streichelte. Zum Abschluss setzte ich dann noch einen kurzen Kuss auf seine Schläfe, den er mit einem zufriedenen Lächeln quittierte.
Geschafft ließ ich mich auf die Couch fallen. Eigentlich hatte ich nur zur Probe gehen und mir danach einen ruhigen Abend machen wollen und nun war es ziemlich anstrengend geworden. Der nächste Tag würde wohl auch nicht besser werden, immerhin musste ich Dave morgens nach Hause fahren, damit er sich frische Klamotten holen konnte, dann zur Schule und dort mit seinem Schwarm, sowie am besten auch mit seiner Lehrerin sprechen, sofern sie mir denn zuhörte. Nach der Schule stand dann das Gespräch mit seinen Eltern an, auf das ich noch viel weniger Lust hatte.
Mein Blick fiel auf mein Handy, das auf dem Tisch lag. Ich hatte das ganz dringende Bedürfnis, mit Toby und Roger zu telefonieren. Vielleicht hatten sie ja einen Tipp für mich?
Doch ich verwarf den Gedanken wieder. Sie hatten mich fast zwei Monate ertragen, ihnen stand nun endlich mal wieder ein Abend ohne mich zu. Außerdem, was sollten sie mir denn sagen? Sie hatten keine Kinder und auch nichts mit diesen zu tun. Ich wusste ja nicht einmal, ob sie Geschwister hatten und mir vielleicht dadurch weiterhelfen konnten. Hatte mal einer von ihnen etwas in die Richtung erwähnt? Ich konnte mich zumindest nicht daran erinnern. Wieso sollte ich ihnen also mit meinen Familienproblemen auf die Nerven gehen, wenn sie es doch auch nicht taten?
Eine Weile zappte ich durch die Fernsehsender, dann griff ich doch nach dem Handy. Ich war noch immer davon überzeugt, sie nicht anzurufen und ihnen den Abend für sich zu lassen, doch morgen würde es mir sicher guttun, ein wenig Zeit mit ihnen zu verbringen. Was sprach also dagegen, mich schon einmal anzumelden und zu fragen, ob sie überhaupt Zeit und Lust hatten.
Kurz verschwand ich ins Bad, um mich nun auch bettfertig zu machen. Als ich wieder zurückkam, wanderte mein Handy über den Couchtisch. Eilig griff ich danach, bevor Dave davon aufwachte, und nahm das Gespräch an. »Ja?«
»Hallo Kleiner«, begrüßte mich Toby mit sanfter Stimme, doch ich konnte auch Roger im Hintergrund hören. Vermutlich hatte er auf Lautsprecher gestellt. »Was ist denn los?«
Meine SMS hatte nur die Information enthalten, dass mein morgiger Tag ziemlich ätzend werden würde und ich am Abend gerne zu ihnen wollte. Doch scheinbar reichte das schon aus, damit sie sich Sorgen machten. Obwohl mich das etwas nervte, musste ich lächeln.
Ich kuschelte mich auf die Couch, bevor ich ihnen von meinen Plänen für den nächsten Tag erzählte. Geduldig hörten sie zu und sprachen mir Mut zu, auch wenn sie selbst nicht viel beitragen konnten. Es war schon beruhigend, dass sie meinen Plan nicht für komplett bescheuert hielten. Außerdem bestätigte Toby, dass er es wohl bei seiner kleinen Schwester ähnlich gemacht hätte.
Wir redeten noch eine ganze Weile, auch über mein Verhältnis zum Rest meiner Familie. Dabei erfuhr ich dann auch etwas über ihre. Bei Tobys wusste ich ja schon, dass sie nichts gegen seine sexuelle Orientierung hatte, und irgendwie war ich davon ausgegangen, dass das auch auf Rogers Eltern zutraf, doch soweit ich das heraushören konnte, unterschied sich deren Meinung kaum von der des Drachens.
»Hey Kleiner, sei uns nicht böse, aber wir wollen langsam schlafen. Du musst doch morgen auch früh raus, oder?«, fragte Roger irgendwann, als das Gespräch ins Stocken geriet.
»Ja klar. Tut mir leid, dass ich euch den Abend verdorben habe.« Dabei hatte ich mir doch vorgenommen, sie heute mal nicht zu belästigen.
»Könntest du gar nicht. Selbst wenn du es wolltest«, beruhigte Roger mich.
»Du weißt doch, dass wir für dich da sind, wenn es dir nicht gut geht«, schob Toby hinterher. »Egal wann und zu welcher Zeit.«
Ich seufzte. Ja, war ja schon gut, ich hatte es verstanden. »Dann danke fürs Zuhören.«
Damit konnten sie sich dann doch abfinden und wünschten mir eine gute Nacht.
Nachdem auch ich mich von ihnen verabschiedet hatte, kuschelte ich mich zufrieden in mein Kissen. Ich fühlte mich schon wesentlich besser als zuvor. Sogar so gut, dass das selige Lächeln bis zum Einschlafen nicht von meinem Gesicht wich.
»And someday you’ll know
That nature is so
This same rain that draws you near me
Falls on rivers and land
On forests and sand
Makes the beautiful world that you’ll see
In the morning«
Vienna Teng – Lullaby for a Stormy Night