Am Freitagabend traf ich mich mit Lance. Er hatte sich am Donnerstag gewundert, dass Toby nicht zur Party gekommen war, und hatte daher unbedingt mit mir sprechen wollen. Vielleicht hatte man mir auch angesehen, dass es mir mit dem Rauswurf nicht gut ging. Dennoch hatte ich während der Arbeit nicht darüber reden wollen und ihn auf einen anderen Tag vertröstet. Wie schlecht ich aussehen musste, wurde mir bewusst, als er direkt den nächsten Abend vorschlug.
Lance hatte sich wirklich gut auf unser Treffen vorbereitet. Er hatte dafür gesorgt, dass genug Alkohol und Pizza vorhanden war, sowie einige Filme besorgt, die wir uns nach dem Gespräch ansehen konnten. So versprach der Abend zumindest nicht ganz so schlimm zu werden.
Nachdem wir uns gesetzt hatten, kam er direkt zur Sache: »Also, welche Laus ist dir nun über die Leber gelaufen und warum hast du dich mit Toby gestritten?«
»Ich hab mich nicht mit Toby, sondern mit Roger gestritten.« Bei dem Gedanken daran bekam ich gleich wieder schlechte Laune. »Er meinte, ich sollte mir einen anderen Job suchen.«
»Was?!«, brach es aus Lance heraus. »Wie kommt er denn auf die Idee?«
Oh, meine Laune konnte sich ja sogar noch weiter verschlechtern, wie ich bemerkte. Warum sollte es ihm und Toby überhaupt gestattet sein, mir so etwas vorzuschreiben?
Unbewusst grummelte ich vor mich hin, bevor ich antwortete: »Weil ich gesagt hab, dass ich kein Geld für ’nen Psychodoc hab.«
Freudig strahlte Lance. »Du willst dir jetzt doch endlich Hilfe holen? Das is...«
»Nein, will ich nicht!«, fuhr ich ihn an. »Aber sie wollen es unbedingt. Sie haben mich am Montag rausgeschmissen, weil ich gesagt hab, dass ich mir keinen suche!«
»Wie? Warum? Hast du sie beleidigt?« Lance schien deutlich verwirrt.
»Nein! Also ja, vielleicht, keine Ahnung ... Aber das war nicht der Grund.« Ich seufzte. Jetzt, wo sie mich rausgeschmissen hatten, wusste ich nicht mehr, wie ich weitermachen sollte. Sie wollten mir nicht mehr helfen und damit würde ich auch in Sachen Männer nicht mehr weiterkommen. Dabei hatte ich mich mittlerweile an den Gedanken gewöhnt, irgendwann wieder normal mit ihnen umgehen zu können. Ich hatte mich wirklich darauf gefreut. Und nun ... stand ich wieder am Anfang.
»Warum werfen sie dich dann raus?« Noch immer hatte sich Lance’ Verwirrung nicht gelegt. »Ich kann mir das einfach nicht vorstellen.«
Ich musste definitiv etwas trinken, bevor ich weitersprach, sonst würde ich nur wieder in Depressionen versinken. Also stand ich auf und holte uns Bier aus dem Kühlschrank. Nachdem ich einen Schluck getrunken hatte, antwortete ich: »Sie haben mich dazu gezwungen, auf einen Deal einzugehen, als wir auf dieser Party im Overload waren. Ich such mir professionelle Hilfe und dafür helfen sie mir mit ... den praktischen Übungen. Na ja, du weißt schon ...«
»Oh, das klingt super!«
»Was?!« Nun war es an mir, verwirrt zu sein. Er konnte mir doch nicht so in den Rücken fallen! »Das ist überhaupt nicht ...«
»Doch, die Idee ist sogar genial! Sonst tut sich doch sowieso nichts, wenn man dich nicht dazu triezt!«
»Hast du sie noch alle?!«, fuhr ich ihn erneut an. Das konnte doch nicht wahr sein. Warum verschworen sich jetzt alle gegen mich?
»Nein. Aber du scheinst es nicht zu kapieren: Isaac, es geht so nicht weiter! Glaubst du wirklich, dass ich – nur weil wir nicht mehr zusammenwohnen – nicht mitbekomme, dass du noch immer ständig zu irgendwelchen Kerlen gehst? Ich hab das Gefühl, es wird jeden Monat schlimmer. Merkst du nicht, dass du dich kaputt machst?«
»Danke, dass du mir auch noch in den Rücken fällst.« Enttäuscht stellte ich mein Bier auf den Tisch und stand auf. Damit war es wohl entschieden: Mir würde niemand mehr helfen, ich war auf mich gestellt.
»Isaac, warte!«, rief Lance, als ich mich auf den Weg zur Tür machte.
»Was? Willst du mir auch noch was zu Essen in die Hand drücken?«
»Hä? Was? Nein? Ich will dich so nicht gehen lassen. Mensch, setz dich hin!« Er kam zu mir und zog mich am Arm wieder auf die Couch. »Was soll das denn? Sicher, dass sie dich rausgeschmissen haben und du nicht einfach abgehauen bist? Was bringt es denn, wenn du jetzt einfach abhaust?«
»Ich muss mir diesen Mist nicht länger anhören.«
»Du willst jetzt also jedes Mal abhauen, wenn dir was nicht passt? Na danke.«
Einen Moment schwieg ich. Warum sollte ich denn nicht einfach gehen? Immerhin schien Lance mir eh nicht zuhören zu wollen. Und er hatte das auch immer ...
Ich stockte. Nein, ich wollte nicht sein, wie er! Wenn er plötzlich gegangen war, hatte ich nie gewusst, wann und ob er zurückkam. Ich hatte mich immer furchtbar über mich selbst geärgert und mich gefragt, was ich falsch gemacht hatte. Häufig hatte er danach auch nicht mit mir geredet oder war so wütend, dass er mir wieder wehtat. Wenn ich eine Sache wusste, dann dass ich nie so werden wollte wie er. In keiner Hinsicht.
Erschlagen schüttelte ich den Kopf.
Lance lächelte mich von der Seite an. »Schön, dann redest du jetzt weiter mit mir?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Bleibt mir was anderes übrig?«
»Nein.« Das siegessichere Grinsen machte es nicht besser. »Also, warum hast du ihnen gesagt, dass du dir Hilfe holst, tust es aber nicht?«
»Hab ich doch gesagt: Sonst hätten sie mir nicht geholfen«, erklärte ich bockig und verschränkte die Arme.
»Na und? Dann hättest du dir eben jemand anderen gesucht, der dir hilft.«
Ich sah ihn an und schüttelte dann den Kopf. »Nein, ich glaub nicht, dass das funktioniert. Ich ... Als ich ihnen gesagt hab, dass er mir wehgetan hat, haben sie mir sofort geglaubt.« Ein schuldbewusster Ausdruck schlich sich in Lance’ Gesicht, doch darauf wollte und konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. »Außerdem können sie mich anfassen. Ich meine, kannst du dir vorstellen, wie gut sich das anfühlt?«
Lance schmunzelte und schüttelte den Kopf. »Nein, kann ich nicht. Aber ich steh auch nicht so darauf, von Männern angefasst zu werden.«
Kurz überlegte ich, wie ich ihm das begreifbar machen konnte. »Stell dir vor, du hättest seit Monaten keinen Sex gehabt, weil du Angst hattest, und dann kommt eine Frau, die dich einfach nur anfasst und es ist dir in dem Moment egal, dass du eigentlich Angst haben müsstest, weil es sich einfach gut anfühlt und vertraut ist.«
Lance lächelte leicht. »Ich würde dich ja gern verstehen, aber es gibt Dinge, die mag ich mir dann doch nicht vorstellen. Und dazu gehört auch monatelanger Sexentzug. Außerdem hinkt der Vergleich. Immerhin hattest du ja Sex.«
»Ja, aber nicht mit Männern! Ich weiß, ich hab früher immer gesagt, es ist für mich das Gleiche und irgendwo ist es das auch. Für mich macht es keinen Unterschied. Und dann doch irgendwie schon, weil eben doch mit einem Mann ganz andere Sachen möglich sind und ...« Ich fuhr mir fahrig durch die Haare, als mir die Erklärungen ausgingen. »Ach, keine Ahnung. Verstehst du, was ich meine?«
Lance lachte laut auf, als ich ihn hilfesuchend ansah. »Keine Ahnung, ob ich das verstehe. Aber ist das denn wichtig? Ich verstehe, dass es dir gefällt, reicht das?«
Etwas unzufrieden zuckte ich mit den Schultern und nickte. Ich musste mich damit wohl zufriedengeben.
Doch Lance sprach auch schon weiter: »Das war aber auch nicht ganz das, was ich gemeint habe. Du hattest ja trotzdem Sex mit Männern.«
»Schon ... aber ich war betrunken und hab überhaupt keine Erinnerungen daran. Und sobald ich halbwegs nüchtern war, bin ich weggerannt, weil ich Angst hatte.« Schon die Erinnerung an das Aufwachen mit einem Mann neben mir sorgte für ein unangenehmes Gefühl.
»Und bei ihnen ist es nicht so?«
»Nein. Ich hab zwar manchmal Angst, aber sobald ich mich nicht mehr wohlfühle, lässt Toby mich los.« Ich konnte nicht verhindern, dass ich ein wenig schwärmerisch klang. Schon die Erinnerung an Tobys Hände auf meinen nackten Schultern bescherte mir eine Gänsehaut, die Gedanken, wohin das sonst noch führen könnte, vergrößerten sie noch. Allein die Aussicht, dass es irgendwann mal wieder so werden könnte, war schön.
»Und die anderen lassen dich nicht los, wenn du ihnen das sagst?« Lance zog verwundert eine Augenbraue hoch.
Unsicher zuckte ich mit den Schultern. »Ich weiß es nicht ... Ich hab zu viel Angst, dass sie es nicht machen, um es zu versuchen. Ich meine, was ist, wenn sie es nicht tun? Was ist, wenn sie mich festhalten? Was ...«
»Isaac, beruhig dich!« Durch die Flut an Bildern, die in dem Moment auf mich einprasselte, vernahm ich Lance’ Stimme und spürte, dass ich geschüttelt wurde. »Isaac, verdammt, lass den Scheiß! Hörst du mich? Isaac, du musst atmen, verdammt!«
Atmen? Ach ja, er hatte recht: Atmen! Dann schmerzten auch die Lungen nicht so. Wie war das? Einatmen ... halten ... ausatmen ... einatmen ...
Während ich mich darauf konzentrierte, richtig zu atmen, wichen nach und nach die Bilder. Lediglich Lance’ verschwommenes Gesicht blieb. Nur langsam fand ich zurück in sein Wohnzimmer. Und noch länger dauerte es, bis ich ihn wieder klar vor mir sah, wie er mich besorgt ansah.
»Scheiße, Isaac! Mach das nie wieder, hast du verstanden!«, schrie er mich an.
Ich nickte eher unmotiviert. Als könnte ich bestimmen, plötzlich nicht mehr zu atmen. Wenn ich das könnte, hätte ich das vermutlich schon lange getan.
Lance nahm einen großen Schluck von seinem Bier, dann sprach er mich wieder an: »Und du meinst immer noch, du brauchst keine Hilfe?«
»Ich will ja Hilfe. Aber nicht von so ’nem Psychodoc«, erwiderte ich matt. Eigentlich wollte ich jetzt nur noch ins Bett. Ich war fertig. Das Gespräch und der Anfall schlauchten mich.
»Tja, ich fürchte, du bekommst das eine aber nicht ohne das andere.«
Ich lehnte mich auf dem Sofa zurück und nickte. Ja, okay, konnten wir das Gespräch jetzt beenden?
»Wenn es wirklich nur am Geld liegt: Frag doch James. Ich bin sicher, wenn du es ihm erklärst, gibt er es dir sofort.«
»Nein ... ich bekomm das schon irgendwie zusammen.« Ich schloss die Augen. Scheiße, ich wollte das doch nicht. Aber vermutlich hatte Lance recht. Vielleicht reichte es ja schon, wenn ich nur einmal hinging. Wenn ich Glück hatte, reichte das, um Toby und Roger zu überzeugen.
»Na gut, sag Bescheid, wenn du noch irgendwie Hilfe dabei brauchst. Wie sieht’s aus, wollen wir noch was schauen? Ich hab ein paar richtig gute Streifen besorgt.« Lance griff zum Stapel mit den DVDs und hielt sie mir unter die Nase.
»Ja, mach einfach irgendwas an.« Die Idee war gut. Sicher hätte ich nur wieder irgendwelchen Mist geträumt, wenn ich jetzt schlief. Die DVDs würden mich noch eine Weile ablenken.
Tatsächlich nahm sich Lance einfach irgendeinen Film und steckte ihn in den Player. Da ich recht schnell auf der Couch einschlief, bekam ich jedoch kaum etwas davon mit.
Die nächsten Wochen verbrachte ich damit, um Gehaltserhöhungen und Stundenaufstockungen zu betteln und einen geeigneten Psychiater zu suchen. Denn auch wenn es mir nicht passte, Lance hatte recht: Toby und Roger würden mir nur helfen, wenn ich mir selbst Hilfe suchte. Ich hatte es ein paar Tage später nochmal versucht und Toby beim Training gefragt, ob ich in der nächsten Woche wieder zu ihnen könnte, doch seine einzige Antwort war die Frage nach dem Psychodoc gewesen. Ich hoffte einfach, dass sie Ruhe geben würden, wenn ich ihnen sagte, dass ich jemanden gefunden hatte. Auf mehr als einen Besuch würde ich mich aber nicht einlassen!
Erstaunlicherweise lief das Unterfangen sogar sehr gut. Aaron bot mir tatsächlich eine bessere Bezahlung, sowie den gegebenenfalls fünften Donnerstag im Monat an, der bisher immer spontan besetzt worden war. Das hieß zwar im Endeffekt für das nächste Jahr lediglich fünf weitere Arbeitstage, aber immerhin. Außerdem trug er mich als Springer für die Bar ein, falls jemand kurzfristig erkrankte oder mehr Leute gebraucht wurden.
Sogar die Eltern von Ben, dem Jungen, dem ich dank James seit fast einem Jahr Gitarrenunterricht gab, versprachen, mich bei Freunden weiterzuempfehlen, da sie mir nicht mehr zahlen konnten. Doch offensichtlich waren sie mit ihren Empfehlungen sehr erfolgreich, denn nur zwei Wochen später hatte ich bereits drei weitere Kinder, die Gitarren- oder Gesangsunterricht von mir bekamen. Auch wenn sie alle ähnliche Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten hatten wie Ben, wenn man einmal raus hatte, wie man sie begeisterte, war es ein schönes Lernen mit ihnen und hatte eher etwas von Spielen.
In der Woche vor Weihnachten bekam ich dann sogar einen Anruf von Bens Schule, ob ich Lust hätte, ab dem nächsten Quartal einmal die Woche ein Angebot für vier bis fünf Kinder im Nachmittagsbereich zu leiten, da ich ja offensichtlich gut mit den Kindern auskäme und die Eltern sehr begeistert wären. Da ich das Geld auf jeden Fall gebrauchen konnte, sagte ich zu.
Nach der ersten Verwunderung über diese gute Resonanz wurde mir bewusst, dass ich in den letzten Jahren einfach nur verlernt hatte, um Hilfe zu bitten. Früher wäre es für mich nicht so verwunderlich gewesen. Damals hatte ich noch verstanden, dass die meisten Menschen mir gegenüber hilfsbereit waren. Selbst wenn sie mir nicht direkt helfen konnten, dann doch indem sie meine Bitte im Hinterkopf behielten.
Ich beschloss, mir diese Errungenschaft wieder zu eigen zu machen. Wenn ich Toby und Roger wieder vertrauen konnte, dann doch hoffentlich auch anderen.
»Ach und könnt’ ich nur ein einz’ges Mal
Die Uhren rückwärts dreh’n
Denn wie viel von dem, was ich heute weiß
Hätt’ ich lieber nie geseh’n«
Wolfsheim – Kein Zurück