Es dauerte noch einen Drink, bis ich mich endlich dazu entschloss, ihn anzusprechen. Was hatte ich schon zu verlieren? Im schlimmsten Fall würde er mich wegschicken, weil er nichts mehr mit mir zu tun haben wollte, im besten konnten wir uns eine Weile unterhalten.
Sein Freund konnte mich jedenfalls gerade nicht aufhalten, der war zur Toilette gegangen. Außerdem waren Toby und Roger tanzen und konnten mich ebenfalls nicht von meinem Vorhaben abbringen oder mich die ganze Zeit beobachten. Es war ja gut, wenn sie sich Sorgen machten, aber in dem Fall war das völlig unbegründet.
Ich machte einen kurzen Abstecher zur Bar. Nachdem ich ihn so lange beobachtet hatte, wusste ich auch, was er trank.
Mit den Getränken in der Hand näherte ich mich dem Tisch. Kurz zögerte ich noch, dann setzte ich ein Lächeln auf und trat an den Tisch. »Hey, darf ich mich setzen?«
Völlig verwirrt sah er zu mir auf. Was denn, wurde er hier nicht angesprochen? Dabei musste er sich auch nicht verstecken. Aber gut, er war auch nie das Selbstbewusstsein in Person gewesen.
Nach einer Weile fing er sich. »Ehm, nein. Tut mir leid, ich hab schon jemanden.«
»Hab ich gesehen«, antwortete ich amüsiert und schob mich ihm etwas weiter ins Blickfeld. »Ein wirklich guter Fang. Aber eigentlich wollte ich dir auch nur etwas ausgeben und mich ein wenig mit dir unterhalten. Um der alten Zeiten willen.«
Er musterte mich eingehend. Offenbar konnte er mich wirklich nicht zuordnen. Doch dann trat plötzlich Erkenntnis in sein Gesicht. »Isaac?!«
»Ja. Ehm, hi, Leonardo.« Mit einem eher verlegenen Grinsen hob ich leicht den Arm mit dem Glas. »Also, darf ich? Wenn du nicht mit mir reden willst, ist okay. Dann lass ich dir aber wenigstens den Sex on the Beach da.«
»Ach Quatsch, nein! Komm, setz dich.«
Ich folgte der Aufforderung und schob ihm dann sein Getränk hin.
»Wow, ich hätte nicht gedacht, dich hier zu treffen.«
»Ich bei dir auch nicht. Das letzte Mal, als ich dich gesehen hab, wärst du schon rot geworden, wenn man dich gefragt hätte, ob du mit in so einen Club kommst.« Ich lächelte ihn an, als er natürlich rot wurde. Vermutlich war ihm mehr als bewusst, worauf ich anspielte. Tobys und Rogers Lieblingsclub, wenn es um Eroberungen ging, hatte natürlich auch einen Darkroom, das konnte selbst Leonardo nicht verborgen geblieben sein.
»Ja, John hat mich vor zwei Jahren überredet. Und eigentlich ist es gar nicht so schlecht hier.« Dennoch legte sich der leichte Schimmer auf seiner Nase nicht.
»Oh, John? Ist das der hübsche Kerl, mit dem du hier bist?«
»Ja, John ist mein fester Freund.«
Ich musste mir ein Schmunzeln verkneifen. Süß, wie er sein Revier markierte. »Keine Sorge, ich wurde schon gewarnt, dass er nicht verfügbar ist.«
»Von wem?«, fragte er überrascht zurück.
Ich deutete in Tobys und Rogers Richtung, die natürlich zu uns herübersahen. Doch nicht nur sie. Offenbar waren einige verwundert, dass ich mich mit Leonardo unterhielt. »Von meinen Freunden.«
Er sah in die Richtung und blickte dann wieder ungläubig zu mir. In seiner Stimme war die Abneigung deutlich zu hören. »Das sind deine Freunde?«
»Klar, warum nicht?« Ich würde mich sicher nicht für Toby und Roger als meine Freunde schämen. Sie mochten zwar nicht jedem passen – zumindest Leonardo ganz offensichtlich nicht – aber ich mochte sie.
»Weil die vermutlich schon jeden Kerl hier drin angemacht haben. Das ist echt eklig, was die abziehen. Dabei sind sie angeblich ein Paar.« Angewidert verzog er das Gesicht.
»Nicht nur angeblich, sie sind sogar eines der schönsten Pärchen, die ich je kennengelernt hab.«
Toby hatte mir erzählt, dass er und Roger in den letzten Jahren dazu übergegangen waren, direkter damit umzugehen, dass sie ein Paar waren. Es hatte wohl doch zu oft deshalb Probleme gegeben, sodass sie nun direkt klarstellten, was Sache war, auch wenn sie sich auf solchen Partys eher damit zurückhielten, es zu zeigen. Sofern man ihre Art zu tanzen als Zurückhaltung sehen konnte.
»Ah, sorry, ich hab vergessen, dass dich sowas nicht stört.« Sofort wurde er wieder rot. Doch er hatte wohl in den letzten Jahren dazu gelernt, denn er verkroch sich nicht, sondern redete weiter: »Wie läuft es denn zwischen dir und ... wie hieß er noch?«
»Peter.« Es war merkwürdig, so über ihn zu reden. Aber so wie ich langsam lernte, über das Geschehene zu sprechen, verlor auch der Name seinen Schrecken, auch wenn ich ihn noch immer nicht gerne hörte und noch weniger gern aussprach. »Wir haben uns vor ein paar Jahren getrennt.«
»Oh, das tut mir leid.«
Ich wollte gerade abwinken, da wurde ich unterbrochen. »Pfoten weg von meinem Freund! Meint ihr Perversen, nur weil ihr nicht an mich rankommt, müsst ihr euch jetzt an ihn ranmachen?« Ich wurde am Kragen gepackt und von meinem Platz hochgezogen.
Doch ich brauchte nicht einmal selbst etwas sagen, denn Leonardo stand ebenfalls auf und legte eine Hand auf den Arm seines Freundes. »Schatz, lass gut sein, das ist ein alter Freund von mir.«
Schatz ließ mich zwar los, dennoch beäugte er mich geringschätzig. Abfällig schnaubte er: »Ich hab dich vorhin schon gesehen, du bist mit den Perversen hier.«
Freundlich lächelte ich ihn an. »Ich bin mir sicher, sie sind nicht perverser als alle anderen hier und haben weder dir noch Leonardo etwas getan, außer vielleicht ein paar lüsterne Blicke.«
»Was bist du denn für ein Kasper?«, knurrte er mich an und wollte wieder nach mir greifen.
»Ich bin Isaac«, antwortete ich schnell und hielt ihm meine Hand hin. Wenn ich nicht vielleicht doch noch eine verpasst bekommen wollte, musste ich über meinen Schatten springen. Wenn Leonardo jemals von mir erzählt hatte, dann sicher nicht von Samsa. »Ich bin ein High School Freund von Leonardo.«
Noch einen Moment betrachtete er mich misstrauisch, dann murrte er und ließ sich neben seinem Freund nieder.
Ich atmete tief durch und setzte mich ebenfalls wieder. Einen kurzen Blick zu Toby und Roger musste ich dennoch werfen, damit sie wussten, dass alles in Ordnung war. Wie ich befürchtet hatte, war Toby natürlich bereits aufgesprungen und auf halbem Weg zu uns. Wäre dieser John mich wirklich angegangen, hätte Toby mich fraglos verteidigt. Ich lächelte ihn kurz an, dann wandte ich mich wieder an den älteren Mann vor mir.
»Hier, der ist für dich.« Möglichst freundlich lächelte ich ihn an und schob ihm den Whiskey hin. Ich war doch nicht blöd und wagte mich in die Höhle des Löwen, ohne etwas dabei zu haben, mit dem ich ihn bestechen konnte.
»Du bist genauso schlimm wie deine Freunde«, stellte er knurrig fest, griff aber dennoch zum Glas und nippte daran.
»Ja, sie haben mir einiges beigebracht.« Nur weil ich mich gerade halbwegs mit ihm gut stellen musste, hieß das nicht, dass ich ihm nicht Kontra geben durfte. Auf der Nase ließ ich mir sicher nicht herumtanzen.
Leonardo versuchte, die Situation zu retten, indem er das Thema wechselte und seinen Freund weiter beruhigend streichelte: »Was machst du denn dann jetzt beruflich?«
»Immer noch dasselbe wie früher: Ich bin Sänger. Nur eben mittlerweile in meiner eigenen Band.«
Es dauerte eine Weile, aber wir schafften es tatsächlich, ein recht gutes Gespräch zu führen. John hielt sich zwar zurück, aber offenbar hatte Leonardo ihm genug Positives über mich erzählt, dass es zumindest in Ordnung war, wenn ich mit ihm redete. Wenn auch nur unter strenger Beobachtung.
Aber das war okay. Auch wenn ich Leonardo allein vom Aussehen her nicht von der Bettkante geschupst hätte, er war nicht mein Typ. Außerdem würde ich mich sicher nicht in eine Beziehung drängen. Also nicht, wenn ich nicht hundertprozentig wusste, dass ich erwünscht war.
Zwischendurch warf ich ab und zu einen Blick zu Toby oder Roger und lächelte ihnen zu, wenn sich unsere Blicke trafen.
»Hast du eigentlich noch Kontakt zur alten Clique«, fragte ich irgendwann.
»Nur noch zu Joel. Aber seitdem er in Jersey ist, auch nur noch sporadisch. Mit den anderen hat sich’s mit der Zeit verlaufen.« Leonardo öffnete kurz den Mund, schloss ihn dann jedoch direkt wieder.
Ich wusste, was er fragen wollte und dass er auch die Antwort darauf kannte. Das schien ihm in dem Moment auch klargeworden zu sein. Immerhin hatte er mitbekommen, dass alle, inklusive ihm, mir die Freundschaft gekündigt hatten.
Vorsichtig lächelte ich ihn an. »Schade, ich hätte mich gerne auch bei ihnen für mein Verhalten entschuldigt.«
»Ich denke nicht, dass das nötig ist. Du hattest eben neben Job und College keine Zeit mehr für uns, das passiert. Ich denke, dafür haben wir alle mittlerweile Verständnis.«
»Ja, danke.« Ich legte ihm dankbar eine Hand auf den Arm. »Du bist echt schwer in Ordnung.«
Verlegen lächelte er, während mich sein Freund argwöhnisch betrachtete. Dann schien er jedoch zu dem Schluss zu kommen, dass es eine rein freundschaftliche Geste war.
»Jetzt tu mal nicht so, als wärst du das nicht«, erwiderte Leonardo.
»Na das erzähl mal Aiden.«
»Ach, wen interessiert schon Aiden? Der hatte doch eh immer nur eine große Klappe und bei jedem was zu meckern.«
Ich grinste. Der erwachsene Leonardo gefiel mir. So etwas wäre früher nie über seine Lippen gekommen.
»Ist er eigentlich immer noch mit dieser Frau zusammen? Sorry, ich weiß grad nicht mehr, wie sie hieß. Die, die er auf dem Konzert kennengelernt hat.«
»Alison?« Wie erwartet nickte er. »So weit ich weiß, ja. Ich hab selbst keinen Kontakt mehr, aber mein bester Freund ist mit ihr befreundet. Sie haben 2004 geheiratet und im vorletzten Sommer haben sie nach langem Versuchen ihre ersten Kinder bekommen. Zwei unglaublich süße Jungs.«
»Zwillinge? Oh, wie süß.« Leonardos Augen leuchteten, während sein Freund ihn eher traurig ansah. »Hast du zufällig ein Foto?«
»Lance hat mir mal eins mitgebracht, aber das hab ich nicht hier. Wenn du mir deine Nummer geben magst, können wir uns ja mal treffen, dann bring ich es mit.«
»Ja gern!« Er war sofort begeistert und holte sein Handy hervor, um mir seine Nummer zu diktieren. »Also nicht nur wegen der Fotos, wir können uns auch gern so treffen.«
»Davon bin ich jetzt mal ausgegangen.« Ich lächelte ihn charmant an und wandte mich dann an seinen Freund. »Also, wenn das für dich in Ordnung ist.«
»Äh, klar.« Völlig verwirrt sah er mich an. »Warum sollte es das nicht sein. Entschuldige, wenn ich gerade etwas eifersüchtig rüberkomme, ich bin es nur nicht gewohnt, dass jemand hier mit uns redet ohne Hintergedanken. ... Deine Freunde machen es nicht gerade besser. Aber wenn Leonardo sich mit dir treffen möchte, dann seh ich da kein Problem. Immerhin seid ihr doch Freunde.«
»Das ist gut zu wissen.« Ein wehleidiges Lächeln schlich sich auf meine Lippen, während ich aufstand und erst Leonardo und dann John die Hand reichte. »Du hast da einen echt guten Fang gemacht, lass den bloß nicht mehr gehen. ... Wenn du magst, kannst du ja auch mitkommen, du scheinst ein wirklich feiner Kerl zu sein.«
»Hatte ich nicht vor«, antwortete Leonardo lachend und zog seinen Freund an sich, während dieser versicherte, dass er es sich überlegen würde.
Nachdem ich mich von Leonardo und John entfernt hatte, suchte ich nach Toby und Roger. Zweiteren konnte ich nicht entdecken und Ersterer vergnügte sich gerade mit einem muskulösen Schwarzen auf der Tanzfläche. Ich ging zur Bar und holte mir noch einen Wodka.
Während ich ihn trank, beobachtete ich die beiden Männer auf der Tanzfläche. Toby beim Tanzen war einfach purer Sex. Jede Bewegung war perfekt. Kein Wunder, dass er den ein oder anderen Kerl zurechtweisen musste, der meinte, sich ihm nähern zu können. Wenn er einen anderen Partner wollte, würde er ihn sich selbst suchen.
Nach einer Weile blickte Toby beim Tanzen auf und sah sich um, ohne aus dem Takt zu geraten. Als er mich fand, lächelte er und bat mich mit einer kurzen Geste zu sich. Liebend gern erfüllte ich ihm diesen Wunsch. Ich trank mit einem Schluck aus und näherte mich ihm dann.
Er flüsterte seinem Tanzpartner etwas ins Ohr. Dieser verzog kurz das Gesicht, nickte dann aber und löste sich von Toby, nachdem er ihm noch etwas gesagt hatte. Danach hatte Toby nur noch Augen für mich. Geduldig wartete er, bis ich bei ihm ankam.
Sein Blick lag fragend auf mir, als ich endlich angekommen war. Doch sobald ich auch noch den letzten kleinen Schritt auf ihn zumachte und damit direkt an ihm dran stand, funkelten seine Augen. Er legte die Hände auf meine Hüften und raunte mir ins Ohr: »Du bist heute aber mutig.«
Frech grinste ich ihn an, während ich begann, mich zu bewegen. »Sei doch froh. Wenn du Glück hast, hält es bis heute Nacht an.«
Aufreizend rieb sich Toby an mir und schob eine Hand an meinem Rücken unter mein Shirt. Seine Stimme klang rau in meinen Ohren. »Verspech nichts, was du nicht halten kannst. Sonst muss ich die Gelegenheit ergreifen und dich mit nach hinten schleifen.«
Kurz sah ich ihm in die Augen und erkannte, dass er das tatsächlich ernst meinte. Das ließ mich stocken, doch ich fing mich schnell wieder und ließ mich von ihm führen. Nein, es würde ein Wort genügen und er würde mich loslassen. Das wusste ich. Ich wollte mir diesen Abend nicht von meiner Angst kaputt machen lassen!
Nach ein paar Liedern verließen Toby und ich die Tanzfläche. Ich hätte mich zwar gern irgendwo hingesetzt, doch es war kein Tisch mehr frei und ich wollte mich nicht zu Fremden setzen. Also musste es eine halbwegs ruhige Ecke tun.
Toby lächelte mich an. »Willst du noch was trinken oder langsam los?«
»Langsam los klingt eigentlich ganz gut.« Ich war zwar noch nicht müde, aber so wirklich Lust hatte ich auch nicht mehr. Wenn ich noch mehr trank, wäre ich Toby zu betrunken. Und flirten wollte ich heute auch nicht mehr. Der Tanz hatte mir ziemlich eingeheizt.
»Ist gut. Wollen wir dann gleich?« Toby steuerte auf den Ausgang zu.
»Was ist mit Roger?«
»Ich hab mich schon vorhin von ihm verabschiedet. Er ist morgen früh wieder zu Hause.«
»Oh, okay.« Ich folgte Toby nach draußen. Noch immer verwirrte es mich, wie locker sie damit umgingen, wenn einer von ihnen jemand anderen fürs Bett fand. Bei ihnen sah das so einfach aus.
»Was muss ich eigentlich machen, um dir die Handynummer von dem Wuschelkopf abzuknüpfen?«, fragte er, nachdem er ein Taxi herangewunken hatte, mit einem schelmischen Grinsen.
Schallend lachte ich. »Keine Chance, die bringt dir eh nichts. John würde ihn niemals aus den Augen lassen. Er scheint eine echt schlechte Meinung von dir und Roger zu haben.«
Toby zuckte mit den Schultern, während er einstieg. »Die haben einige. Nicht jeder kommt mit unserer Art klar. Den meisten ist es aber egal. Wie hast du es denn geschafft, dass er dir die Nummer gegeben hat? Oder hab ich das falsch gesehen?«
Ich lächelte. Toby schien mich also nie wirklich aus den Augen gelassen zu haben. Nachdem er dem Fahrer die Adresse genannt hatte, antwortete ich ihm: »Nein, hat er. Ich kenne Leonardo aus der High School. Wir waren zusammen in einer Clique und haben uns etwas aus den Augen verloren.«
»Ah, okay. Ich wusste gar nicht, dass du in der High School schwule Freunde hattest?«
»Er war damals noch nicht so ganz sicher. Er war eher etwas schüchtern und zurückgezogen, ich hätte nicht gedacht, dass er sich so einen Kerl angelt.« Wirklich nicht, immerhin war Leonardo in der High School der typische Nerd gewesen.
»Oh, ich glaub, etwas schüchtern ist er immer noch.«
»Ja, stimmt. Aber das ist wirklich kein Vergleich zu früher, glaub mir.«
»Dann freut es mich, dass er sich so entwickelt hat.« Ehrlich lächelte Toby mich an. »Wenn du ihn das nächste Mal siehst, kannst du ihm ja sagen, dass Roger und ich ein Nein verstehen und es auch akzeptieren.«
»Wenn es sich ergibt, mach ich das sicher.«
»Time has come for me to make things right,
Forever and ever, forever and reach for the sky,
Never say never, leave the body preachers behind.«
Altaria – Valley of Rainbows