»Da bist du ja endlich«, begrüßte mich Toby aufgeregt, als er mir die Tür nur mit Unterhose bekleidet und Zigarette in der Hand öffnete. An den Schläfen verwandelte sich das Blond langsam in ein helles Grau und um seine Augen hatten sich kleine Fältchen gebildet.
»Sieht mir eher nach zu früh aus.« Skeptisch flog mein Blick über ihn. »Kann ich denn schon reinkommen?«
»Was?« Verwirrt sah er mich an, schien meine Frage nicht zu verstehen. Dann folgte er meinem Blick, der an der Zigarette in seiner Hand hängengeblieben war, und verstand. »Nein, nein, ich bin nur nervös.«
Ich lächelte ihn an, während ich mich an ihm vorbei ins Wohnzimmer drängte. Dabei gab ich ihm einen Kuss auf die Wange, den er erwiderte. »Selbst noch nach zwanzig Jahren?«
»Man heiratet schließlich nur einmal.« Er wirkte fahrig, setzte sich auf die Couch, nur um im nächsten Moment wieder aufzustehen.
Ich ging durch das Wohnzimmer direkt ins Schlafzimmer, um dort ein paar Klamotten abzulegen. Als ich wieder zurückkam, nahm ich ihm die Zigarette aus dem Mund und drückte sie in einem Aschenbecher in der Küche aus. Er musste wirklich sehr nervös sein, wenn er entgegen seiner Angewohnheit einfach so rauchte. »Schätzchen, dann solltest du beim Hochzeitskuss vielleicht nicht direkt nach Zigarette schmecken.«
»Du hast ja recht«, seufzte er ergeben. Noch immer stand er im Wohnzimmer, schien unsicher, was er tun sollte.
»Geh endlich duschen, sonst sind wir zu spät«, half ich lachend nach und gab ihm einen Klaps auf den Hintern.
»Die werden schon nicht ohne uns anfangen«, stellte er fest, machte sich aber auf den Weg.
Kopfschüttelnd ging ich in die Küche und kümmerte mich um meine Fingernägel. Nachdem ich den Nagellack entfernt hatte, knipste ich schweren Herzens die Spitzen ab. Selbst mir erschienen meine sonstigen Fingernägel unpassend für eine Hochzeit. Aber in zwei Wochen würden sie schon wieder lang genug sein, damit ich sie wieder zufeilen konnte. Das war ein gewisser Trost.
Dann ging ich zurück ins Schlafzimmer, betrachtete den Anzug, ob er noch einmal gebügelt werden musste, befand aber, dass er knitterfrei war.
Da das Bad immer noch besetzt war, klopfte ich laut gegen die Tür. »Toby, ich muss auch noch ins Bad, beeil dich!«
»Dann komm doch rein.«
Amüsiert lächelnd öffnete ich die Tür. Er steig gerade aus der Dusche und trocknete sich ab. Noch immer sah er genauso sexy aus wie damals, als wir uns kennengelernt hatten.
Kaum war er fertig, sah er sich suchend um, schien aber nicht zu finden, was er suchte.
Ich seufzte. »Ich geh dir eine holen.«
Nach ein paar Minuten kam ich mit einer frischen Unterhose für ihn wieder ins Bad. Er hatte sich in der Zeit ein Handtuch umgewickelt und stand vor dem Spiegel. Dankend nahm er mir die Hose ab.
Ich zog mich aus und stieg meinerseits unter die Dusche. Ich betrachtete den älteren Mann, wie er verzweifelt versuchte, seine Haare zu bändigen. Wir waren beide gestern beim Friseur gewesen, um sie schneiden zu lassen, dennoch schien er damit unzufrieden. So ruhig er sonst auch war, heute merkte man ihm seine Nervosität an. Und so langsam steckte er mich an. »Mach dich nicht verrückt. Du siehst immer noch verdammt heiß aus.«
»Na danke, ich weiß, dass ich alt bin«, erwiderte er lachend.
Gut, so hatte ich das jetzt nicht gemeint.
Er sah über den Spiegel zu mir, schien mich eingehend zu mustern. »Du aber auch. Die kurzen Haare stehen dir.«
»Gerade sorgen sie vor allem dafür, dass wir trotz deinem Trödeln noch pünktlich sein können.« Ich stieg aus der Dusche und drängte mich neben ihn vor den Spiegel. Dazu drückte ich ihn leicht mit der Hüfte zur Seite.
Mit Gel fixierte ich die etwa fünf Zentimeter langen Haare. Letztes Jahr hatte ich beschlossen, dass es endlich an der Zeit war, erwachsen zu werden, und mir die Haare noch weiter abgeschnitten. Dennoch färbte ich sie weiterhin. Auch an der sonstigen Behaarung hatte sich etwas getan: Der undefinierbare Ziegenbart war mittlerweile einem ordentlichen Chin Puff gewichen.
Während ich mich schnell rasierte – gestutzt hatte ich den Bart zum Glück bereits gestern –, erinnerte ich Toby: »Vergiss nicht: Zähneputzen. Zigarettenatem.«
»Ja, Schatz.« Er rollte mit den Augen und griff genervt nach der Zahnbürste.
Beruhigend strich ich mit der freien Hand über seinen immer noch muskulösen Rücken. Einen Moment schloss er die Augen und genoss es einfach nur.
Dann gingen wir zusammen ins Schlafzimmer. Während ich in einen schwarzen Anzug und weißes Hemd, sowie eine passende Weste, schlüpfte, zog er einen schwarzen Smoking mit einem ebenso weißen Hemd an. Sie saßen beide nicht perfekt, aber dafür, dass sie geliehen waren, sehr gut. Die Hochzeit war einfach viel zu spontan gewesen. Toby hatte erst vor drei Wochen den Antrag gemacht und wollte dann unbedingt am 20. Jahrestag heiraten. Da war keine Zeit für einen maßgeschneiderten Anzug gewesen. Außerdem hatte er auch nicht so viel Geld ausgeben wollen. Immerhin ging es nach all den Jahren eher nur noch um die Symbolik und das Rechtliche, weniger um die Romantik.
»Steht dir wirklich gut«, stellte ich fest, während ich seinen Anzug noch zurechtrückte und ihm beim Fliege binden half. »Solltest du öfter tragen.«
»Ach ja? Und wann?« Im Gegenzug half er mir mit der Krawatte.
Ich grinste ihn an. Scheinbar half das Rumalbern wirklich, ihn abzulenken. Gut, dann wurde ich auch abgelenkt. Je ernster es wurde, desto mehr übertrug sich das auf mich. »Ich dachte, du gehst ab jetzt immer in den Herrenclub, so als verheirateter Mann. Da trägt man sowas doch.«
»Im Leben nicht! Und im Schwulenclub hab ich bisher selten jemanden mit Smoking gesehen. Wobei, wenn du so mitgehst, können wir sicher eine Menge Kerle aufreißen.« Toby lachte und boxte mir leicht in die Seite. Dann wurde er wieder ernst. »Ich glaub, wir müssen los. Hast du die Ringe?«
Ich deutete auf meine Jacketttasche und machte mich mit Toby gemeinsam auf den Weg zum Wagen.
Hinter Lance stieg ich ein, Toby auf der anderen Seite. Kaum hatten wir uns angeschnallt, fuhr Lance los.
Toby schlug meinem besten Freund die Hand auf die Schulter. »Danke, dass du dich bereit erklärt hast, Chauffeur zu spielen, auch wenn es so kurzfristig war.«
»Kein Problem. Ich mach das gern.« Verlegen fuhr er sich durch die kurzen, roten Haare. Auch Lance hatte sich mittlerweile seiner langen Haare entledigt und trug dafür nun welche im Gesicht. Sein Vollbart war ordentlich auf wenige Millimeter getrimmt. Es gab ihm ein recht jugendliches Aussehen. Breit grinste er in den Rückspiegel. »Das ist mein Hochzeitsgeschenk an euch.«
Auf der Fahrt zur Kapelle hielt ich die ganze Zeit Tobys Hände, da er sonst angefangen hätte, nervös an seinen Klamotten herumzufummeln und sie damit zu zerknittern. Und ich hätte wohl an der Ringschachtel herumgespielt.
Als wir angekommen waren, gingen Toby und ich in ein Hinterzimmer, in dem wir bis zum Beginn der Trauung warteten. Lance holte noch einige Gäste ab. Zwischendurch kam noch einmal der Beamte, kontrollierte unsere Personalien und sprach mit uns durch, ob sich etwas geändert hätte.
Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, gab Musik uns das Zeichen, uns zum Altar zu bewegen. Ich drückte noch einmal Tobys Hand, bevor wir aufstanden und das Zimmer verließen. Toby hakte sich dabei bei mir ein.
Kaum hatten wir das Zimmer verlassen, stockte ich. Mir blieb kurzzeitig der Atem weg, als ich fast in Roger rannte, der verliebt zu Toby sah. Oder besser gesagt nicht wegen Roger, sondern dem Mann, bei dem er sich genauso eingehakt hatte, wie Toby sich bei mir. Was zur Hölle war mit Zombie passiert?
Dieser sah mich ebenfalls interessiert, aber bei Weitem nicht so schockiert an.
Toby und Roger mussten bemerkt haben, dass wir kurz wie angewurzelt stehen geblieben waren, denn sie warfen uns einen entschuldigenden Blick zu, bevor sie sich gegenseitig wieder völlig verliebt ansahen. Roger sah genauso gut im Smoking aus, wie sein Zukünftiger. Auch er war durchaus gealtert, aber es waren nur die leichten Falten um die Augen, die ihn verrieten.
Zombie und ich atmeten tief ein und nickten uns zu, dann führten wir das Paar zum Altar.
Rogers Eltern hatten sich zwar dazu bewegen lassen, zur Hochzeit zu kommen, sich aber beide geweigert, ihren Sohn zum Altar zu führen. Deshalb hatte sich Toby, sehr zum Leidwesen seines Vaters, entschieden, es einheitlich zu gestalten, sodass beide von ihren Trauzeugen geführt wurden. Wer jedoch Rogers Trauzeuge sein sollte, darüber hatten sich beide mir gegenüber ausgeschwiegen und nur gesagt, dass es ein guter Freund von Roger war. Nie im Leben wäre ich darauf gekommen, dass sie Zombie meinten. Das machte die Symbolik des Zum-Altar-Führens völlig verrückt. Sie ließen sich einander von ihren Affären übergeben. Es war irgendwie total crazy, passte aber zu ihnen. Und die wenigsten der Gäste würden es verstehen. Sie hielten Mat und mich mehrheitlich für gute Freunde der beiden.
Stoisch ging ich weiter, versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr Zombie mich verwirrte. Denn mir war durchaus bewusst, wie viele Augen auf uns vier gerichtet waren. Und es machte mich wieder nervös. Ich hatte diesmal natürlich nicht vorher einen Joint rauchen können, auch wenn ich es gerne getan hätte. Vielleicht hätte ich wenigstens Tobys Zigarette aufrauchen sollen. Aber jetzt war es zu spät.
Als wir am Altar ankamen, hakten sich Toby und Roger aus. Zombie und ich gingen an unsere Plätze neben dem Traupaar. Da ich nun nicht mehr ganz so starr geradeaus schauen musste, konnte ich auch einen genaueren Blick auf Zombie werfen. Ich hatte ihn zwar in den letzten Jahren immer mal wieder auf Partys oder bei Roger und Toby gesehen, aber eigentlich waren wir uns aus dem Weg gegangen. Er hatte sich stark verändert. Das Einzige, was noch war wie früher, war der schwarze Iro. Seine Wangen waren eingefallen und die Haut ungesund bleich. Der Name Zombie passte besser denn je.
Natürlich hatte ich mittlerweile verstanden, dass er schon lange krank war, aber gerade das hatte in mir das Trugbild erschaffen, er sei unverwüstlich. Sein Aussehen nun belehrte mich eines Besseren. Dennoch hatte auch er sich in einen Anzug geworfen und trug weder Schmuck noch Schminke.
Auch er schien mich zu betrachten, denn unsere Augen trafen sich kurz, dann begann der Beamte mit der Trauung und wir richteten unsere Aufmerksamkeit auf ihn.
Nach einer kurzen Ansprache gaben sich Toby und Roger das Ja-Wort. Ich hatte nie gedacht, dass man so viel Gefühl in ein so kurzes Wort legen konnte, doch jeder der beiden sprach es aus, als hinge sein Leben davon ab. Außerdem sprachen ihre Blicke Bände. Ich hatte sie ja bereits vorher schon gesehen, wenn sie sich verliebt angesehen hatten, so wie auf dem Weg zum Altar, doch in diesem Moment war es noch so viel deutlicher. Ich hoffte, dass nun auch Rogers Eltern endlich wirklich akzeptierten und nicht nur tolerieren, dass ihr Sohn mit Toby glücklich war. Ansonsten mussten sie blind sein.
Ich war so fasziniert von der fast schon spürbaren Liebe, dass ich beinahe vergaß, ihnen die Ringe zu übergeben. Als ich das tat, fiel mein Blick wieder auf Zombie, der sich verstohlen ein paar Tränen aus den Augen wischte. Ein mildes Lächeln trat auf meine Lippen, musste ich mich doch selbst gewaltig beherrschen.
Sie steckten sich gegenseitig die Ringe an, wobei ihre Hände deutlich sichtbar zitterten.
»Sie dürfen den Bräutigam jetzt küssen.«
Kaum waren diese Worte gesprochen, zog Roger seinen Ehemann an sich und verwickelte ihn in einen innigen Kuss. Für mich war es mehr ein Zeichen ihrer Ehe, als es jeder Ring je werden würde.
Jetzt bahnte sich doch eine Träne ihren Weg über mein Gesicht.
Als die Heiratsdokumente unterschrieben waren und alle dem frischgebackenen Ehepaar gratuliert hatten, stiegen wir ins Auto, um zu Roger und Toby zu fahren. Nun schien Lance seine Neugier nicht mehr zügeln zu können: »Wie habt ihr die beiden dazu gebracht, sich nicht an die Gurgel zu gehen?«
»Sie haben uns beide zu gern, um uns die Hochzeit zu verderben«, antwortete Roger sofort. Er beantwortete damit nicht nur Lance’ Frage, sondern machte auch deutlich, dass er für den Rest des Abends von uns erwartete, friedlich zu sein.
»Tut uns leid, dass wir nichts gesagt haben, aber es schien uns die einzige Möglichkeit, die Trauzeugen zu erhalten, die wir uns gewünscht haben. Wir hatten Angst, wenn wir euch sagen, wer der andere Trauzeuge ist, dass ihr es nicht macht.« Toby sah uns beide entschuldigend an und legte mir eine Hand auf den Oberschenkel, während Roger eine Hand auf Zombies Schulter legte.
»Ihr beide seid nicht nur sehr, sehr gute Freunde, ihr kennt uns beide auch fast so gut wie der jeweils andere. Es hätte sich falsch angefühlt jemanden an unserer Seite zu haben, der uns nicht in allen Facetten kennt«, ergänzte Roger.
Zombie und ich schauten uns kurz an und kamen stillschweigend zu der Übereinkunft, unsere Rivalitäten für den Abend beiseitezulegen und für sie als Trauzeugen da zu sein. Wir seufzten fast gleichzeitig. »Schon gut.«
»Ich hätte es trotzdem getan«, setzte Zombie hinterher und ich nickte bekräftigend. »Und ich bin mir sicher, Samsa auch.«
Toby und Roger lachten fröhlich und drückten uns. »Deswegen wollten wir euch haben.«
Nachdem er uns am Haus von Toby und Roger abgesetzt hatte, fuhr Lance wieder los, um den Rest der Hochzeitsgesellschaft zu holen. Das Paar hatte diesen Freiraum absichtlich in die Planung aufgenommen, um im kleinen Kreis ihre Ehegelübde zu sprechen. Sie hatten sie nicht vor der Hochzeitsgesellschaft sprechen wollen, da sie sehr persönlich waren und Details enthielten, in die unter anderem Rogers Familie nicht eingeweiht war. Umso mehr rührte es mich, als Zeuge dabei sein zu dürfen. Und wie ich Zombies Miene entnehmen konnte, ging es ihm nicht anders.
Kaum waren die Gelübde gesprochen, trafen auch schon die ersten Gäste ein. Rogers Familie war nie im Haus gewesen, obwohl sie im Bostoner Umland wohnten, und so wurden sie erstmal herumgeführt.
Natürlich entging ihnen dabei die zweite Wohnung im Dachgeschoss nicht. »Ihr wolltet doch unbedingt etwas Eigenes. Warum dann etwas mit Einliegerwohnung? Ihr habt doch keine Kinder, die mal nach oben ziehen.«
»Wir fanden das Häuschen einfach so schön, da war es nur ein kleiner Abstrich. Die Wohnung ist an einen jungen Mann vermietet, der aber im Moment im Urlaub ist«, tischte Roger seinen Eltern die vorbereitete Lüge auf. Da sie nicht einmal die Beziehung an sich akzeptieren konnten, wäre es nicht klug gewesen, ihnen den wahren Nutzen der Wohnung zu offenbaren. Auch Tobys Familie war in die Lüge eingeweiht, um sich nicht aus Versehen zu verplappern. »Er war so nett, uns die Wohnung zur Verfügung zu stellen, damit Mat und Isaac dort schlafen können, um dann morgen beim Aufräumen zu helfen.«
Jetzt, wo Roger es sagte, fiel es mir wieder ein. Zombie und ich hatten eingewilligt, oben in der Wohnung zu schlafen! So wie Zombie zu mir herübersah, schien es ihm bisher auch entfallen zu sein. Was hatten sie sich denn dabei gedacht?
Ich verdrehte entnervt die Augen. Das hieß dann wohl, dass ich auf der Couch schlief, oder ich musste am späten Abend nach Hause und früh wieder zurück. Aber oben zu schlafen, entfiel eindeutig.
»Könnt ihr mir beim Kuchen helfen?«, fiel Toby in meine Gedanken.
Natürlich halfen Zombie und ich, die Kuchen auf dem Buffet im Garten zu drapieren.
Zum Glück hatten Toby und Roger von vornherein angekündigt, dass sie auf solche Kitschtraditionen wie Kuchen gemeinsam anschneiden oder Hochzeitsspielchen verzichteten. Auch Geschenke wollten sie nicht annehmen. Lieber hatten sie sich von jedem ein ganz spezielle Kleinigkeit gewünscht, die ihnen gerne gewährt wurde. So wie Lance’ Fahrdienst oder die Kuchen, die ihre Schwestern gebacken hatten. Da sie aber genau wussten, dass sich besonders ihre Eltern und Freunde es sich nicht würden nehmen lassen, ihnen doch ein paar Geldgeschenke zu machen, hatten sie ein großes Sparschwein auf der Terrasse aufgestellt.
Nachdem wir den Kuchen angerichtet hatten, wurde das Buffet eröffnet. Es gab keine feste Sitzordnung an der großen Tafel. Das hätte sich in der kleinen Runde kaum gelohnt. Neben den Eltern des Brautpaares waren eine von Rogers älteren Schwestern, seine jugendliche Nichte, Lena, June mit ihrem Mann und den beiden kleinen Töchtern, Tim, eine Arbeitskollegin von Roger mit ihrem Mann und Terrence, ein Schulfreund von Toby, anwesend.
Und genau dieser setzte sich neben mich und sah mich abschätzig an. Da ich nicht einfach nur angestarrt werden wollte, versuchte ich, ihn in ein Gespräch zu verwickeln: »Lenas Kuchen ist wirklich gut, oder? Hat sie schon immer so gut gebacken?«
»Ja. Hast du noch nie sie oder ihre Eltern kennengelernt? Sie und ihre Mutter lassen ja niemanden gehen, bevor er nicht mit Kuchen vollgestopft ist. Das war schon immer so«, klärte er mich auf.
»Doch, aber da hatten sie keine Gelegenheit, mich mit Kuchen zu mästen«, wich ich aus. Ich wollte nicht an das Wochenende erinnert werden. Das war wirklich nicht mein glorreichster Moment gewesen. Auch wenn wir mittlerweile alles hinbekommen hatten und mit der Situation in den letzten Jahren gewachsen waren, wusste ich nicht, wie Tobys Eltern darüber dachten. Daher ging ich ihnen auch, so gut es ging, aus dem Weg. »Mich wundert es umso mehr, dass Toby nicht durch die Gegend rollt. Sie backen mindestens genauso gut, wie Roger kocht.«
»Aha. Na ja, als Toby noch jünger war, war er auch mal ein kleines Moppelchen. Wenn du das nicht weiß, scheinst du ihn ja noch nicht wirklich lange zu kennen, oder?«
»Vermutlich deutlich kürzer als du, ja«, versuchte ich es mit höflicher Neutralität. Ich hatte keine Lust auf ›Wer kennt Toby besser‹. Das konnte ich gegen einen Schulfreund nur verlieren. Vor allem, wenn wir offensichtlich die jugendfreie Variante spielten. »Aber immerhin auch schon fast elf Jahre.«
»Doch schon so lange? Ich kann mich nicht erinnern, dass er dich mal erwähnt hätte«, zweifelte er meine Aussage an.
Mir wurde das gerade zu blöd. Offensichtlich war er eifersüchtig, dass er als ältester Freund nicht Trauzeuge geworden war. Tat mir ja leid für ihn und ich konnte es auch irgendwo verstehen, ich wäre auch nicht begeistert, wenn Lance einen anderen als Trauzeuge wählen würde – für den unwahrscheinlichen Fall, dass er jemals heiraten sollte – aber das war allein Tobys Entscheidung.
Zum Glück war ich fertig mit meinem Kuchen und hatte einen Grund aufzustehen. Höflich lächelte ich Terrence an, während ich aufstand. »Nun, über mich gibt es auch nicht viel Aufregendes zu erzählen. Ich geh mir mal noch ein Stück holen.«
Ich hielt mich extra lange beim Kuchen auf in der Hoffnung, dass irgendwo ein Platz frei wurde, der nicht wieder in einem Spießrutenlauf endete. Zum Glück stand da Tim auf, der neben June gesessen hatte. Es tat mir für ihn zwar leid, ihm den Platz zu klauen, aber es ging nicht anders. Schwungvoll setzte ich mich auf den freien Platz. »Wie geht es dir, deinem Göttergatten und den Kleinen?«, fing ich sofort freundlich lächelnd das Gespräch an.
Sie blickte zu mir und beugte sich herüber, um mich zu umarmen. »Sehr gut. Mir wird ja selbst Zuhause nicht mehr langweilig mit den beiden Mädels. Das nächste soll ein Junge werden. Die sollen in dem Alter ja nicht so anstrengend sein.«
»Oh, Glückwunsch, wird denn da nicht euer Haus langsam zu klein?«, gratulierte ich freudig, da sie sich über den Bauch gestreichelt hatte bei ihrer Aussage. Sie arbeitete trotz der Kinder immer noch halbtags bei Toby, doch ich sah sie nur noch selten, irgendwie verpassten wir uns immer. Daher war es schön, mich auch mal wieder mit ihr zu unterhalten. »Ich hab einen kleinen Bruder, der ist jetzt etwa so alt wie Rogers Nichte. Glaub mir, Jungs sind nicht einfacher.«
»Jetzt mach mir doch keine Hoffnungen«, sagte sie scherzhaft. Man sah ihr an, dass das Familienleben sie wirklich glücklich machte. Ich gönnte es ihr. »Wie läuft es bei dir? Ist schon der oder die Richtige in Sicht?«
Lachend winkte ich ab. »Du kennst mich doch. Ich hab’s nicht so mit langfristigen Bindungen.«
Sie ließ den Blick über die Runde schweifen. Dabei blieb er kurz an dem Traupaar und dann an Lance haften. »Bist du sicher?«
Ich war ihrem Blick gefolgt und wusste genau, was sie meinte. »Zumindest nicht mit Ernsteren als Freundschaften. Ich bin und bleibe lieber Single.«
»Na, wie du meinst. Hauptsache du bist damit glücklich.« June zuckte mit den Schultern.
Versichernd nickte ich ihr zu. Ich hatte wirklich nicht vor, mich auf eine Beziehung einzulassen, die tiefer ging als das, was ich mit Toby und Roger hatte. Nachdem wir uns darauf geeinigt hatten, Affäre und Freundschaft zu trennen, lief es zwar nicht immer perfekt, aber wir hatten es geschafft, beides zu festigen und gleichzeitig die Regeln etwas zu lockern. Dennoch merkte ich immer mehr, dass sich meine Gefühle für sie veränderten. Ich war nicht mehr verliebt. Vielmehr war es von meiner Seite aus einer freundschaftlichen Liebe gewichen. Daher machte es mir auch überhaupt nichts mehr aus, wenn sie durchaus mal die Grenzen überschritten und mich in einem freundschaftlichen Kontext küssten oder wir gemeinsam auf der Couch einschliefen. Ich hatte mich mittlerweile unter Kontrolle und konnte ihnen das auch vermitteln.
»Hey, Isaac, darf ich mich da hinsetzen?«, riss mich Junes Gatte, der gerade vom Spielen mit den Kindern eine Pause brauchte, aus meinen Gedanken.
»Klar.« Lächelnd stand ich auf und machte ihm Platz. Kurz umarmte ich noch einmal seine Frau. »Wir sehen uns dann hoffentlich mal wieder im Studio.«
So ging es bis zum Abend. Ich setzte mich immer mal wieder irgendwo dazu, führte kurze Gespräche, aber blieb nie lange. Bei Rogers Familie war ich nicht willkommen, sobald sie erfuhren, dass ich ebenfalls auf Männer stand, war ich ganz unten durch, und Tobys Familie nahm es mir scheinbar sehr übel, den beiden das Herz gebrochen zu haben. Und bei den Arbeitskollegen war kaum ein dazwischenkommen, sie blieben lieber unter sich. Eine Gelegenheit, mit dem Pärchen zu sprechen, ergab sich kaum.
Beim Essen saßen Zombie und ich dann tatsächlich mal neben ihnen, danach verstreute es sich wieder.
Ich hatte mich gerade mit Rogers Schwester unterhalten und hielt es schon nach kurzer Zeit nicht mehr aus, welche konservativen Ansichten sie hatte. Selbst an diesem Tag kritisierte sie ihren Bruder für seine Entscheidungen und stand ihren Eltern damit in nichts nach. Bevor mir der Kragen platzte, verabschiedete ich mich höflich.
Ich hatte die Nase gestrichen voll von diesen Gesprächen. Es wurde Zeit, dass Alkohol auf den Tisch kam und Musik zum Tanzen, dann waren die Leute beschäftigt. Zumindest für Letzteres konnte ich sorgen. Ich wollte mich auf den Weg zur Anlage machen, da sah ich Zombie alleine daneben stehen.
Wie musste es wohl für ihn sein? Ich kannte ja immerhin noch Tobys Arbeitskollegen und seine Eltern, Zombie dagegen nur die Gastgeber, Lance und mich. Bisher hatte ich ihn auch hauptsächlich nur bei den Kindern gesehen, mit denen er noch immer super umgehen konnte, auch wenn es ihn richtig fertig zu machen schien. Daher hatte auch Lance das für eine Weile übernommen.
Ich fasste mir ein Herz und ging zu ihm hinüber. »Hast du ’ne Kippe für mich?«
Irritiert sah er auf, nickte dann aber und zog eine Packung aus seinem Jackett. »Klar, für den Oberschnorrer immer. Teilst du immer noch so gern?«
Ich nickte und deutete in Richtung der kleinen Bühne, die etwas abseits aufgebaut war, bevor ich mich dorthin auf den Weg machte. Natürlich hatten sich Roger und Toby gewünscht, dass ich am Abend sang und Lance mich begleitete. Ich hatte dabei auch gerne zugesagt, aber im Moment war ich dazu nicht aufgelegt. Doch lange würde ich mich nicht mehr drücken können.
Mat folgte und wir setzten uns auf den Rand. Er schob sich einen Glimmstängel zwischen die Zähne, zündete ihn an und reichte ihn dann an mich weiter, nachdem er einmal gezogen hatte.
»Du musst da gleich noch rauf?«, fragte Zombie nach einer Weile, in der wir dagesessen und schweigend abwechselnd gezogen hatten.
»Mhm. Sie haben es sich gewünscht. Wirklich Lust hab ich ja nicht.«
»Willst du dann vorher noch eine rauchen?«, bot er an.
Vernahm ich da wirklich so etwas wie Hoffnung in seiner Stimme? Ja, es musste hier echt schlimm für ihn sein, wenn es schon für mich langweilig war.
Offen lächelte ich ihn an. »Gern, wenn du nochmal teilen willst. Ich mach schon mal alles fertig.«
»Kann ich dir helfen?«
Ich nickte, während ich aufstand und begann, die Technik mit seiner Hilfe aufzubauen.
»Was willst du denn singen?«
»Sie wollten gerne hauptsächlich Mainstream und ein wenig romantisches Zeug. Toby hätte zwar auch nichts gegen alles andere, aber die Gäste sollen ja auch nicht schreiend wegrennen.«
»Sing doch (No) Shrinking Violet«, schlug Zombie direkt vor.
Ich sah mich skeptisch nach ihm um. »Ich bezweifel, dass ich das noch hinbekomme. Außerdem hat Maniac ja erwirkt, dass wir das nicht mehr spielen dürfen.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Und wen interessiert das bei einer Hochzeit? Sie wollen eine Schnulze, dann sollen sie sie bekommen. Ich werde dich dafür nicht verpetzen. Und so weit ich weiß, gilt dass auch nur bei offiziellen Auftritten.«
War das sein Ernst? Er deckte mir vor Peter den Rücken? Allerdings hatte er das ja schon immer getan.
Ich nickte. »Danke.«
Plötzlich standen die drei Mädels und Lance vor der Bühne. Er hatte wohl bemerkt, dass wir aufbauten und wollte helfen.
Lorena, Rogers Nichte, sah zwischen Mat und mir hin und her. »Heiratet ihr auch? So wie Onkel Roger und Onkel Toby?«
Verwirrt sahen wir zu ihr. Wie kam sie denn darauf?
Genau diesen Gedanken sprach Zombie auch aus.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ihr habt euch indirekt geküsst. Mit der Zigarette. Und ihr habt euch bei der Hochzeit immer wieder angestarrt. Und ihr schlaft zusammen, hat Mama gesagt. Und ihr seht schwul aus.«
Lance brach in schallendes Gelächter aus, während ich die Augenbrauen hochzog und Zombie mehrmals ungläubig blinzelte. Sollten wir das jetzt als Beleidigung auffassen?
»Was tut ihr da?«, grätschte Junes Älteste dazwischen.
»Wir machen gleich Musik«, erklärte ich ihr, froh über die Ablenkung.
»Oh, Musik ist toll. Ich kann auch ganz toll singen«, berichtete sie stolz.
Ich musste schmunzeln. Mit Musik konnte man wohl wirklich jedes Kind begeistern.
Etwas wehleidig dachte ich an Dave. Mittlerweile interessierte er sich natürlich gar nicht mehr dafür, was sein großer Bruder sang. Aber das war auch völlig in Ordnung. Er sollte seinen eigenen Stil finden.
Hinter mir hörte ich Zombie auf der Holzbühne rumpoltern und mir kam eine Idee. »Ihr könnt uns helfen.«
Sofort waren alle drei Feuer und Flamme und die Diskussion über Zombie und mich war vergessen.
Ich beugte mich zu den Mädchen herunter und flüsterte ihnen zu: »Ihr müsst einen ganz geheimen Auftrag für mich ausführen. Sucht mal, ob ihr Stöcke oder Ähnliches findet, die etwas dicker wie Lorenas Zeigefinger und etwa so lang wie ihr Unterarm sind. Lance hilft euch dabei.« Ich zwinkerte meinem besten Freund zu und er schien zu verstehen, was ich vorhatte, denn er zwinkerte lächelnd zurück.
Nachdem ich die Kinder beschäftigt hatte, half ich, den Rest aufzubauen.
Tatsächlich kamen die Mädchen angerannt, als wir fast fertig waren. Begeistert hielten sie mir zwei Stöcke entgegen.
»Lance hat gesagt, die sind gut. Die hab ich gefunden«, redeten die Drei durcheinander.
Ich musste nicht schauen. Wenn Lance sie für gut befand, dann würden sie passen. »Könnt ihr die dem grimmigen Onkel hinter mir geben? Der freut sich sicher ganz doll drüber.«
Natürlich war Mat wieder auf die Mädchen aufmerksam geworden, als sie angerannt kamen, daher hatte er auch gehört, was ich gesagt hatte. Als sie ihm jetzt die Stöcke entgegenhielten, flog ein freudiges Lachen auf sein Gesicht. Er blickte zu mir. »Bist du dir sicher?«
Ich nickte. »Aber nur, wenn du mich nicht verpfeifst.«
»Abgemacht.« Grinsend setzte er sich an den Rand der Bühne und probierte verschiedene Klänge mit den Stöcken, Füßen und Händen aus. Lance testete, ob das Keyboard vernünftig angeschlossen war, und verstellte noch die Lautstärke, ich testete Gitarre und Mikro. Dann signalisierten mir beide mit einem nach oben gestreckten Daumen das Okay.
Noch einmal räumten wir die Bühne und sprachen kurz das Programm ab. Wir würden vieles improvisieren müssen, aber alles in allem waren wir professionell genug, das hinzubekommen. Lance verzog sich noch einmal auf die Bühne, um noch ein paar Einstellungen zu machen, während Zombie und ich gemeinsam rauchten.
Beide grinsten wir, weil wir uns an die Aussage der Mädchen erinnerten, als Zombie die Zigarette aus dem Mund nahm und an mich reichte. Natürlich konnte er sich einen Kommentar nicht verkneifen: »Bilde dir darauf nur nichts ein!«
»Wenn ich mir auf jeden Kuss von ’nem Kerl was einbilden würde, müsste ich Heiratsschwindler werden«, erwiderte ich feixend.
Auch er grinste breiter und nahm die Zigarette wieder entgegen. »Wie läuft es bei dir eigentlich? Hast du immer noch an jeder Hand zehn Kerle und eine Frau an jedem Zeh?«
Mir gefiel dieser Ausdruck. »Kann man so sagen. Sicher nicht mehr so viele wie früher, aber es hat sich nichts an meiner Einstellung geändert. Ich bleib lieber Solo. Wie ist es bei dir?«
»Hauptsache du passt jetzt wirklich auf dich auf.« Mahnend hob er eine Augenbraue. »Auch alles beim Alten. Bis auf die Gesundheit halt. Ich glaub auch nicht, dass sich das nochmal ändert.«
Ich nickte. »Ja, mittlerweile kann ich wirklich auf mich aufpassen. Ich hab dir nie gedankt, oder? Danke. Das mein ich ernst.«
»Schon gut, du warst einfach noch viel zu jung dafür.« Er reichte mir die Zigarette. »Außerdem konnte ich das Schlimmste dennoch nicht verhindern.«
»Das hätte außer mir auch niemand gekonnt. Ich hätte es selbst früher beenden müssen, bevor es so schlimm wurde.« Ich sah in den dunkler werdenden Nachthimmel. Eigentlich wollte ich gerade nicht an damals denken. Also lenkte ich auf ein anderes Thema: »Wie läuft es eigentlich bei euch? Also mit der Band.«
»Ist dein Bankkonto nicht aussagekräftig genug?« Er seufzte und sah ebenfalls in den Himmel, während er an der Zigarette zog.
Ich schüttelte leicht den Kopf. Einen wirklichen Schluss konnte ich daraus nicht ziehen, nur spekulieren. Immerhin hatte ich mich mittlerweile dazu entschieden, das zusätzliche Geld anzunehmen.
»Wir verschleißen spätestens alle zwei Jahre einen Sänger. Keiner ist Maniac gut genug und keiner kann deine Songs auch nur ansatzweise rüberbringen. Nach einer Tour sind sie weg, weil sie genug davon haben, sich von ihm anmeckern zu lassen, wenn sie nicht schon vorher abbrechen. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Maniac ist zu einem echten Tyrannen geworden. Wir bekommen dadurch auch kein vernünftiges Album mehr zusammen. Sphere ist immer noch das Erfolgreichste und daher bleiben die Songs auch auf den Konzerten beliebt. Es ist ein Teufelskreis. Mit jedem Sänger, der geht, bleiben enttäuschte Fans zurück, die ihn gut fanden. Es kommen zwar dann mit einem anderen wieder Neue dazu, aber so wirklich langjährige Fans haben wir kaum noch. Ich bezweifel, dass die Ankündigung, dass wir nur noch punktuell mit einzelnen Sängern zusammenarbeiten und es keinen festen mehr geben wird, daran etwas ändert. Irgendwo ist der ja doch immer das Aushängeschild einer Band. Und einen kompletten Neuanfang oder wieder selbst singen will Maniac auch nicht. Wie läuft es bei dir?«
Ich hatte bei seinen Ausführungen immer wieder verstehend genickt. Ich konnte mir gut vorstellen, dass das frustrierend war.
Da er sehr ehrlich war, wollte ich es ebenso sein. »Wir hängen in den Covern fest. Wenn wir etwas Eigenes machen, kommt das meistens nicht so gut an. Na ja, wir arbeiten daran, es weiter zu etablieren. Ich hab jetzt viel Organisatorisches in die Hände einer Managerin gelegt in der Hoffnung, die kann etwas mehr rausholen. Sie ist ein ziemliches Arbeitstier und wirklich eifrig dabei. Wir werden sehen, ob wir vielleicht nochmal den großen Sprung schaffen.«
»Ich hab davon gehört. Maniac hat unseren nach der unangekündigten Aktion mit euch gefeuert.« Zombie schüttelte den Kopf. »Seitdem nimmt er es wieder selbst in die Hand.«
Ich nickte. »Ich hab mich nicht bereit gefühlt, wieder mit ihm zusammenzuarbeiten. Ihn die ganze Zeit immer wieder zu sehen, hätte ich nicht ausgehalten, es wären zu viele Erinnerungen hochgekommen und vermutlich auch die ein oder andere Panikattacke.«
Als ich die Panikattacken erwähnte, sah mich Mat schockiert an. »Noch immer so schlimm?«
»Ich hab immer noch ab und zu Albträume«, gab ich zu. »Und manchmal auch Flashbacks, aber es wird immer weniger. Aber ich hätte wohl keine Nacht auf Tour schlafen können.«
»Warst du denn mal beim Psychiater?«
»Kurzzeitig, aber das hat nicht viel gebracht. Er konnte mir nur zeigen, wie ich aus der Panikattacke wieder rauskomme. Bei allem anderen haben die beiden mir mehr geholfen.« Ich nickte in Richtung des Ehepaares. »Außerdem meinte der Psychodoc nur immer wieder, dass ich Maniac anzeigen sollte.«
»Ich glaube auch immer noch, dass du es hättest tun sollen. Aber das ist deine Entscheidung.« Mat klang ernst und überzeugt.
Bei der Aussage zog ich die Augenbrauen überrascht nach oben. Er hätte es unterstützt, wenn ich Peter angezeigt hätte? Ich klang absichtlich sarkastisch, als ich meinte: »Seit wann traust du mir eine eigene Entscheidung zu?«
Er grinste leicht und schnaufte amüsiert. »Seitdem du an dir selbst gewachsen bist. Du bist nicht mehr der kleine schüchterne Grünschnabel, dem ich damals vor dem Exile begegnet bin, der sich fast vor Lampenfieber übergeben hätte, als ihm klar wurde, für welche Band er singen soll und immer meinte, er könnte dennoch alles alleine. Mittlerweile scheinst du dich gut selbst einschätzen zu können und ich kann dir auf Augenhöhe begegnen.«
Ich legte den Kopf etwas schief. War es das, was er damals gemeint hatte, als er sagte, ich würde ihm gerade einmal bis zur Gürtelschnalle reichen? Ich biss mir mit einem leichten Grinsen kurz auf die Unterlippe und beugte mich zu ihm. Das brachte mich auf gemeine Ideen. Immer noch grinsend und mit gespielt lüsterner Stimme, flüsterte ich ihm ins Ohr: »Das heißt, du würdest jetzt mit mir ins Bett steigen?«
Sein Kopf flog sofort in meine Richtung. Es dauerte wohl einen Moment, bis er erkannte, dass es ein Scherz gewesen war, dann lachte er und stieß mich leicht weg.
Ich ließ es mit einem leichten Grinsen zu.
»Vergiss es! Du weißt schon, dass du heute auf der Couch schläfst, oder?«
»Aber Schatz, das kannst du mir doch nicht antun! Ich kann ohne dich nicht schlafen. Dein warmer, weicher Körper fehlt mir jetzt schon.«
Wir lachten beide. Mittlerweile war mir klar, dass er mich nie ernsthaft hatte ärgern, sondern nur aufziehen wollen.
»Hey, seid ihr beide fertig mit turteln? Wir sollten anfangen«, rief Lance von der Bühne.
Wir nickten ihm zu und Zombie drückte die Zigarette aus, die völlig achtlos in seiner Hand verglüht war. Über das Gespräch hatten wir sie einfach vergessen.
Während wir die Bühne betraten und unsere Plätze einnahmen, raunte ich ihm dennoch zu: »Ernsthaft, ich schlaf nicht auf der unbequemen Couch. Ich bin einmal da eingeschlafen und konnte mich den nächsten Tag nicht bewegen. Wenn du das Bett nicht teilen willst, dann schläfst du dort. Ich versprech auch, ich werd nicht klammern, wenn du ein wenig Platz machst und dir was anziehst.«
»Ist gut, solange du auf deiner Seite bleibst. Sonst landest du ganz schnell neben dem Bett«, drohte er mit scherzhaftem Unterton.
Toby hatte bemerkt, dass wir uns bereitmachten, und stand an der Anlage und schaltete sie ab, als ich ihm zunickte. Sein zufriedener Blick glitt über die Bühne.
Kaum war die Musik verstummt, hatten wir die Aufmerksamkeit aller Gäste. Entgegen meiner sonstigen Angewohnheit machte ich zuerst meine Ansage: »Meine Damen und Herren, da wir hier heute eines der romantischsten Feste überhaupt feiern, kommen wir natürlich nicht über ein wenig Kitsch hinweg, auch wenn sich Toby und Roger eigentlich dagegen ausgesprochen haben. Daher werden wir für Sie ein paar Liebeslieder spielen. Aber natürlich nicht nur, das wäre ja zu langweilig. Was genau wir spielen, wird eine Überraschung. Genauso wie unser Überraschungsschlagzeuger, den unsere Jüngsten geholfen haben zu organisieren. Wir wünschen Ihnen viel Spaß.«
Auch wenn es sehr improvisiert war, machte mir das Konzert viel Spaß. Wir spielten viele Schnulzen, aber auch Klassiker. Ich hatte es mir dennoch nicht nehmen lassen Deception zu spielen. Das Violinsolo, eingespielt von Alison, hatten wir schon lange als Sample im Keyboard gespeichert. Immerhin war Toby dabei auf mich aufmerksam geworden. Seinem Grinsen nach zu urteilen, verstand er die Anspielung.
Den Abschluss bildete (No) Shrinking Violet. Natürlich hatte ich keine einzige Note oder den Text des Stückes verlernt, es stammte immerhin aus meinem Herzen. Ich war zwar noch immer weit von meinem Ziel entfernt, aber ich wusste, dass ich es irgendwann erreichen würde. Ich musste nur die Gelegenheiten ergreifen, die sich mir boten.
In diesem Moment konnte ich es ganz genau fühlen: Mit meinem Freund fürs Leben und wohlwollenden Konkurrenten auf der Bühne, guten Freunden und Fans im Publikum und den Menschen, die ich liebte und die nicht bei mir sein konnten, im Herzen, konnte mich niemand daran hindern.
»If this were my last breath
Or my last day
My last chance
This is what I’d say
I thank you for the laughter
Sorry for the tears
Time to say goodbye
I say goodbye
After all these years«
Poison – The Last Song