Ich rechnete schon damit, dass ›Rachel‹ gar nicht mehr auftauchte, als sie um elf noch immer nicht im Cash erschienen war. Doch dann sah ich sie an der Bar stehen und sich umsehen. Wieder hatte sie das gleiche Oberteil und die gleiche tiefsitzende Hose wie vor vier Wochen an. Unterbewusst leckte ich mir über die Lippen. Sie war verdammt heiß!
Ich freute mich schon auf den Feierabend. Ich hatte zwar auch die anderen beiden Wochen versucht, sie anzutreffen, doch jeweils keinen Erfolg gehabt. Wenigstens hatte es dafür in der letzten Woche geklappt, mir einen Ersatz zu suchen. Es war nicht ganz dasselbe, aber zumindest hatte es das Warten erträglicher gemacht. Zum Glück konnte ich diese Frau aber bisher nicht ausmachen. Ich war zwar der Meinung, ich hätte deutlich genug signalisiert, dass es für mich eine einmal Sache war, aber man konnte nie sicher sein, dass es auch verstanden wurde.
Nachdem ›Rachel‹ sich etwa fünf Minuten im Club umgesehen hatte, fiel ihr Blick dann doch auf das DJ-Pult. Eingehend musterte sie mich, versuchte wohl, herauszufinden, ob ich wirklich dieselbe Person war.
Ich lächelte ihr kurz zu und richtete dann den Fokus auf das Mischpult. Kurz machte ich eine etwas längere Schleife fertig, dann gab ich Aaron ein Zeichen, dass ich kurz Pause machte, und ging zu ihr herüber. »Hi. Na, überzeugt?«
»Noch nicht wirklich. Kann sich ja jeder dahin stellen und ein paar CDs in den Spieler schmeißen«, antwortete sie mit einem schelmischen Grinsen.
»Ich würde dir ja zeigen, dass es gar nicht so einfach ist, wie es aussieht, aber ich denke, das würde Aaron nicht gern sehen.« Ich legte ihr den Arm um die Taille und führte sie zur Bar. »Tut mir leid, wirklich viel Zeit hab ich nicht für dich. Darf ich dich trotzdem auf einen Drink einladen?«
Sie ließ sich tatsächlich darauf ein, wobei sie diesmal etwas Alkoholfreies wollte. Bis ich wieder an die Arbeit musste, hielten wir Smalltalk. Auch während der nächsten Pausen ging ich immer wieder zu ihr. Nach und nach taute sie auf.
Tatsächlich hieß sie Laura und arbeitete als Hebamme, weshalb sie nur unregelmäßig weggehen konnte. Letztendlich war die Arbeit auch der Grund, weshalb sie gehen musste, bevor ich Feierabend machen konnte. Es war schade, aber wohl nicht zu ändern. Dafür versprach sie mir, auch im nächsten Monat wieder vorbeizukommen. Da ich die ganze Zeit zwischen ihr und meiner Arbeit pendeln musste, vergaß ich jedoch auch, einen anderen Treffpunkt mit ihr auszumachen oder sie nach ihrer Handynummer zu fragen. Also musste ich wohl oder übel erneut vier Wochen auf ein Wiedersehen warten.
Leider war sie jedoch auch nicht der Typ, um mal eben für ein Stelldichein zu verschwinden. Zumal ich mir das während der Arbeit nicht erlauben konnte. Dennoch hatten sich durch das Treffen einige Erwartungen aufgebaut, die nun nicht erfühlt wurden. Daher beschloss ich, nach der Arbeit noch in eine kleine Bar zu gehen, von der ich wusste, dass sie noch ein, zwei Stunden länger offen hatte. Dort würde ich sicher Abhilfe schaffen können.
Am nächsten Mittag erwachte ich allein in einem Hotelzimmer. Nach einem kurzen Blick auf den Nachttisch taumelte ich ins Badezimmer. Ich schaffte es gerade noch, den Klodeckel anzuheben, bevor ich zitternd darüber zusammensackte und den restlichen Alkohol in die Schüssel erbrach.
Eine ganze Weile hing ich darüber, bis mein Magen vollständig entleert war. Dann erhob ich mich und schwankte in die Dusche. Vermutlich würde die Putzfrau später einiges zu tun haben.
Ich stellte das Wasser an und kauerte mich dann in die Duschwanne. Das warme Wasser würde mich beruhigen. Zum Glück waren wir in ein Hotel gegangen und ich mittlerweile wieder allein. So konnte ich mich beruhigen, ohne dass es jemand mitbekam.
»Eigentlich hätte ich es wissen müssen«, schalt ich mich selbst, als mein Atem wieder unter Kontrolle war. Dennoch lernte ich es nicht. Spätestens der Zettel auf dem Nachttisch hatte meinen Verdacht beim Aufwachen bestätigt. Es war nicht das erste Mal, dass mich mein Körper hinterging. So oft ich auch behauptete, hetero zu sein, sobald ich richtig betrunken war, übernahm das Verlangen die Kontrolle.
Wie hätte ich Lance auch klarmachen sollen, dass es mir zwar weiterhin nach Männern verlangte, ich im nüchternen Zustand aber bei jedem Körperkontakt in Panik verfiel? Sicher hätte ich ihm das erzählen können, aber er hätte es nicht verstanden. Nicht, wenn ich ihm nicht alles erzählt hätte. Und das konnte ich nicht. Er hätte verlangt, dass ich zur Polizei ging. Das hatte er schon getan, als er vor etwas mehr als einem Jahr erfahren hatte, was wirklich an meinem achtzehnten Geburtstag passiert war. Doch ich konnte es nicht, ich konnte vor niemandem zugeben, wie schwach ich gewesen war, was ich zugelassen hatte, weil ich zu stolz gewesen war. Weder vor Lance, noch vor der Polizei.
Außerdem hätte mir doch keiner geglaubt. Auch Lance hatte es erst nicht wahrhaben wollen. Erst als Mat ihn angeschrien hatte, was für ein schlechter Freund er sei, mich bei so einer Sache des Lügens zu bezichtigen, hatte er eingelenkt. Und auch jetzt vergaß er es, schien nicht wirklich daran zu denken.
Wie gerne hätte ich das ebenfalls getan. Einfach nicht mehr an das denken, was geschehen war. Doch meine Albträume und Ängste ließen sich nicht einfach ignorieren. Sie verfolgten mich. Jeden Tag. Bei jeder Begegnung mit einem Fremden, bei jedem Gespräch, das ich mit einem anderen Mann führte. Selbst bei Cohen und Andrej überkam mich manchmal der Drang zur Flucht. Also war mir nichts anderes übrig geblieben, als Lance eine Lüge zu erzählen. Auch wenn er sie nicht glaubte. Ob er ahnte, warum ich sie erzählte, konnte ich nicht sagen, aber er sprach es meistens auch nicht an.
Als ich endlich sicher war, dass sich meine Nerven beruhigt hatten, stand ich auf und seifte mich ein. Bevor ich das Zimmer verließ, entsorgte ich noch den Zettel im Mülleimer, ohne noch einmal darauf zu schauen.
»Hey, da bist du ja! Warum gehst du nicht ans Handy?«, wurde ich von Lance begrüßt, als ich zur Tür hereinkam.
Natürlich hatte ich bemerkt, dass er mehrmals angerufen hatte, dennoch war ich bisher nicht bereit gewesen, ihm zu antworten. Doch mittlerweile hatte ich mich so weit beruhigt, wieder ganz gelassen zu reagieren. »War beschäftigt, sorry.«
»Soso, beschäftigt. Dann erzähl mal«, forderte er mich durchaus neugierig auf. »Wie lief es denn mit ›Rachel‹?«
»Gut. Sie heißt im Übrigen Laura.« Ich lief in die Küche und machte mir dort eine Schüssel Cornflakes. Der leere Magen forderte danach, endlich wieder gefüllt zu werden. Am besten mit etwas halbwegs Nahrhaftem. »Wir haben uns gut unterhalten und uns für das nächste Mal verabredet.«
»Uh, das klingt ja gar nicht nach dir.« Lance setzte sich zu mir an den Küchentisch und musterte mich eingehend.
»Warum?« So ungewöhnlich war es auch nicht, dass ich mich für einen späteren Zeitpunkt verabredete, wenn es gerade nicht passte.
»Dich nach der ersten Nacht nochmal mit ihr treffen? Hat sie es dir echt so angetan?«
»Quatsch. Ich hab nicht mit ihr geschlafen. Sie musste los, bevor ich Feierabend hatte. Ich bin durchaus in der Lage, mir auch kurzfristig einen Fick klarzumachen.« So langsam beruhigte sich mein Magen wieder und ich aß langsamer.
Lance nutzte die kurze Unaufmerksamkeit, um sich meinen Löffel zu schnappen und ihn sich selbst zu Gemüte zu führen. »Das weiß ich. Trotzdem hättest du jede andere Frau schon aufgegeben.«
Ich zuckte mit den Schultern. Ganz Unrecht hatte er nicht. Sonst war ich nicht der Typ, der einer Frau ewig hinterherrannte. »Ich find sie halt echt interessant. Und meine Güte, das hält mich ja nicht davon ab, mir in der Zwischenzeit eine andere zu suchen. Es ist ja nicht so, dass ich ihr irgendwas von ewiger Treue vorheucheln würde.«
»Ich dachte, du hättest eingesehen, dass ’ne Beziehung doch nicht so übel ist.« Verständnislos schüttelte er den Kopf.
»Heißt ja nicht, dass ich mich direkt in die Nächste stürzen muss.« Ich konnte meinem besten Freund schlecht sagen, dass ich sogar mehr denn je davon überzeugt war, keine Beziehung zu wollen. Lance konnte sich so etwas einfach nicht vorstellen, für ihn gehörte eine Beziehung zu einem glücklichen Leben dazu.
Skeptisch zog er die Augenbrauen hoch. »Direkt die Nächste? Du bist jetzt ’n Jahr Single. Und die Frau hat es geschafft, dass du endlich auch mal wieder einfach so feiern gehst. Ohne dass man dich erst ewig drängeln muss.«
Missmutig rollte ich mit den Augen. Na gut, was er konnte, konnte ich auch. »Und? Deine letzte Beziehung ist genauso lange her. Wenn man denn dieses kurze Intermezzo mit – Wie hieß sie noch gleich? Tanja? – überhaupt als solche bezeichnen kann.«
»Tina«, verbesserte er mich missmutig. »Aber ich such im Moment auch nach der Richtigen.«
»Richtig, Mr. Kurzzeitbeziehung hat ja den vollen Durchblick, was das heißt.« Langsam erhob ich mich und stellte die Schüssel in die Spüle. »Ich geh mir einen freien Übungsraum suchen.«
Wütend grummelnd erhob er sich ebenfalls. Es war ein Totschlagargument und auch nicht wirklich fair, aber ich hatte keine Lust, mir noch mehr davon anzuhören. Solange Lance die Wahrheit nicht kannte, war ich derjenige von uns mit der längsten Beziehung. Von Janine hatte er sich bereits nach zwei Jahren getrennt, wobei sie ein Jahr davon zusammen auf dem Campus gewohnt hatten.
»Warte eben, ich komm mit. Ich muss mir nur kurz was anderes anziehen.«
Jetzt, wo er es erwähnte, fiel mir ebenfalls auf, dass ich noch meine Klamotten vom Vorabend trug. Also schlüpfte ich ebenfalls in etwas Bequemeres, mit dem ich mich aber auf dem Campus sehen lassen konnte, und band mir die Haare zusammen.
An Lance’ Klamottenwahl hatte sich nichts geändert. Noch immer trug er mit Vorliebe seine Röcke, sobald er die WG verließ oder wir Besuch bekamen. Genau wie wir anderen trug er in unseren vier Wänden jedoch auch lieber Jogginghosen. Und auch sonst hatte er sich nicht wirklich verändert. Nur seine Haare waren ebenfalls kürzer geworden, das jedoch schon, bevor ich mit in die WG gezogen war.
Gemeinsam machten wir uns auf den Weg. Das Leben auf dem Campus hatte nämlich einen deutlichen Vorteil: Es waren immer ausreichend gut ausgestattete Probenräume frei. Vor allem jetzt in den Ferien. Nur kurz vor den Prüfungen war es manchmal schwierig, Probenzeiten zu bekommen, aber wir machten uns da keinen Stress. Im Notfall fuhren wir zu den Paynes, wo noch immer das alte Klavier meiner Mum stand.