Nach dem Duschen stand ich sicher fünf Minuten vor dem Nachtschrank, in dem meine Handynummer lag. Ich war mit meinen Gedanken nicht weitergekommen, wusste nicht, ob ich wieder eine Freundschaft mit ihnen wollte, ob ich für sie erreichbar sein wollte. Das letzte Mal war ... Nein, daran wollte ich nicht denken, sie hatten daran keine Schuld. Ich konnte jetzt keine Entscheidung treffen, brauchte noch etwas Zeit, um mir darüber klar zu werden.
Ich atmete tief durch, bereitete mich gedanklich darauf vor, was mich in der Schublade alles erwartete, außer Kondomen, und öffnete sie dann. Zu meiner Überraschung befand sich deutlich weniger darin, als ich angenommen hatte. Dennoch jagte mir das, was ich dort fand, einen Schauer über den Rücken.
Sofort hatte ich Bilder im Kopf. Toby, wie er vor Roger hockte, ihm voller Genuss einen blies und dabei vor Verlangen zitterte, während ich hinter ihm saß, die Fernbedienung in der Hand und auf das kleine Pluszeichen drückte, als Roger es mir bedeutete.
Ich schluckte, verdrängte die Bilder und griff schnell nach dem Zettel, bevor ich die Schublade eilig schloss. Es war die richtige Entscheidung, ihn nicht dort zu lassen. So vieles hier würde mich immer wieder an unsere gemeinsame Zeit erinnern. Und vermutlich nicht nur mich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine rein platonische Freundschaft mit ihnen funktionieren konnte.
Nachdem ich mir den Zettel in die hintere Hosentasche gestopft hatte, trat ich entschlossen durch die zweite Tür hier im Schlafzimmer und stand sofort in einem langgezogenen Flur. Fast direkt mir gegenüber befand sich die Haustür. Ich müsste mir nur die Schuhe anziehen, die daneben standen, dann wäre ich in ein paar Schritten fort. Ich würde nie wieder hierherkommen müssen.
Geräusche, die aus dem Raum auf der linken Seite des Flures kamen, lenkten mich ab. Es klang nach typischen Küchengeräuschen. Zudem breitete sich von dort ein verführerischer Duft nach Pancakes aus, der meinen Magen aufbegehren ließ. Er wollte wieder gefüllt werden. Außerdem hörte ich Gelächter aus der Richtung. Es war Rogers typisches Kichern, wenn er seinen Freund ärgerte.
Es zog mich magisch an. Ich wollte die beiden noch einmal sehen, wollte sie glücklich in Erinnerung behalten und nicht mit den Sorgen um mich beschäftigt.
Leise folgte ich dem Flur, der sich am Ende in ein großes Wohnzimmer öffnete. Einen Moment suchte ich, dann sah ich, dass es sich nach links hin in ein Esszimmer und eine offene Küche verwandelte.
Während Roger am Herd werkelte, stand Toby daneben an der Spüle und wusch Obst und Gemüse ab. Dabei warf er seinem Freund einen grimmigen Blick zu, der sich aber sofort in ein Lächeln wandelte, als dieser ihn angrinste. Auch wenn es nur ein kurzer Augenblick war, die Liebe, die aus ihren Gesichtern sprach, war mehr als deutlich. Selbst noch nach über zehn Jahren.
Warum waren mir diese Blicke früher nie aufgefallen? Vermutlich, weil ich nicht gewusst hatte, wie sich so etwas anfühlte.
Der Gedanke, dass ich das auch hätte haben können, wenn ich es nicht in den Sand gesetzt hätte, tat weh. Noch mehr, als mir wieder klar wurde, dass sie auch ein Grund dafür gewesen waren.
Ich wollte mich gerade zurückziehen, da bemerkte Roger mich. »Kannst du eben ein paar Sachen auf die Terrasse bringen? Wir wollen das schöne Wetter nutzen und draußen im Garten frühstücken. Und du müsstest dir noch einen Stuhl aus dem Schuppen holen.«
Zu spät. Wenn ich jetzt ging, müsste ich ihnen dabei in die Augen sehen. Dann wäre die letzte Erinnerung nicht das Geflirte der beiden miteinander, sondern ihr trauriger, vorwurfsvoller Blick, weil ich mich wieder einfach aus ihrem Leben stahl. Also musste ich wenigstens noch das Frühstück durchstehen. Obwohl das ja eigentlich gegen meine Prinzipien ging. Nach der Sache mit Laura noch viel mehr als zuvor. Andererseits hatte ich ja nicht mit ihnen geschlafen, also ging das wohl in Ordnung.
Ich tat wie mir geheißen und sah mich dabei im Garten um. Hätte mir jemand Bilder gezeigt, ich hätte mit einer typischen amerikanischen Familie gerechnet. So ganz klischeehaft mit zwei Kindern und einem Hundewelpen. Aber sicher nicht mit einem schwulen Pärchen. So wie ich sie kannte, wollten sie nicht in diese Vorstadtidylle passen. Oder schätzte ich sie vollkommen falsch ein und sie führten mittlerweile eine komplett normale Beziehung? Irgendwie konnte ich mir das nicht vorstellen.
Das Gespräch beim Essen ließ mich fast vergessen, dass wir seit beinahe vier Jahren nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Vielmehr gaben sie mir das Gefühl, regelmäßig bei ihnen zu Gast zu sein. Außerdem gewann ich immer mehr den Eindruck, dass sie sich nicht verändert hatten. Natürlich, es war nicht mehr ihre alte Wohnung und sie waren durchaus etwas gealtert, aber im Grunde waren es noch immer dieselben Menschen. Und ich fühlte mich in ihrer Gegenwart genauso wohl wie früher.
Irgendwann wandte sich Roger in Richtung der Grenzsträucher zum Nachbargrundstück. »Guten Tag, Mrs. Shaw. Wollen Sie nicht rüberkommen? Es gibt Pancakes. Ist genug für alle da.«
Statt einer Antwort war nur Gemurmel zu hören, dann bewegte sich etwas auf der anderen Seite.
Toby schüttelte resignierend den Kopf, während Roger nur mit den Schultern zuckte. »Dann eben nicht.«
»Läuft nicht so gut mit den Nachbarn?«, fragte ich neugierig. Irgendwie konnte ich mir die beiden immer noch nicht so ganz in dieser Vorstadtidylle vorstellen.
»Doch, eigentlich schon. Die meisten waren anfangs etwas skeptisch, aber wir haben sie dann einfach zu uns eingeladen, wenn sie komisch reagiert haben. Als sie gesehen haben, dass wir gar nicht so anders sind wie sie, sind die meisten recht ruhig geworden. Nur mit Mr. und Mrs. Shaw werden wir nicht so wirklich warm. Aber wir scheinen interessant genug zu sein, dass man uns beobachten muss. Vor allem, wenn wir Besuch haben«, erklärte Toby nicht gerade leise. Vermutlich war ihm bewusst, dass die Nachbarn noch immer lauschten.
»Da fällt mir ein: Hast du Clarissa schon die Schüsseln vom Grillen zurückgebracht?«, fragte Roger. Toby schüttelte auf die plötzliche Frage den Kopf. »Machst du das bitte eben? Sie meinte, sie braucht sie heute ganz dringend.«
Seufzend stand Toby auf und begab sich ins Innere des Hauses. Nachdem er ein wenig in der Küche gesucht hatte, verließ er sie in Richtung des Ausgangs.
Kopfschüttelnd aber gleichzeitig grinsend sah ich ihm nach. Sie schienen hier wirklich ein ganz normales Vorstadtleben zu führen. Irgendwie war das unvorstellbar. »Ihr habt euch hier ja richtig gut eingelebt.«
»Will man ja nach fast fünf Jahren auch meinen, oder?«, behauptete Roger in ernstem Ton.
Verlegen biss ich mir auf die Lippe. Natürlich, das hatte kommen müssen, wir konnten nicht ewig so tun, als wäre nichts geschehen. Auch wenn ich das gern getan hätte.
»Jetzt mal ehrlich: Warum hast du dich nicht bei uns gemeldet? Du hast Toby damit ziemlich verletzt. Er dachte, du würdest zumindest ihn als Freund sehen. Ich dachte das eigentlich auch. Und dann warst du plötzlich nicht mehr erreichbar und hast uns ignoriert, wenn wir uns mal begegnet sind.«
Ich seufzte. Er hatte recht, ich hatte sie viel zu lange aus meinem Leben verbannt, ohne ihnen jemals eine Erklärung geliefert zu haben. Ich war ihnen zumindest diese schuldig. »Nach der Sache ... Ich tu mich seitdem schwer mit Männern.«
»Mhm ...« Roger wirkte nachdenklich, als wüsste er nicht, wie er das Gespräch weiterführen sollte. Für ihn ungewohnt vorsichtig, fragte er: »Er hat dir wirklich arg wehgetan, oder?«
Ich nickte. Was sollte ich auch sonst sagen? ›Nein, halb so schlimm‹ war selbst für mich in der Hinsicht eine zu große Lüge, als dass sie mir über die Lippen gekommen wäre.
Er nickte ebenfalls, als hätte ich ihm etwas bestätigt, was er bereits wusste. »Gibst du uns die Schuld daran?«
Sofort riss ich die Augen auf. »Nein! Wie kommst du darauf? Ihr habt damit nichts zu tun!«
»Als wir uns damals am Independence Day getroffen haben, da hab ich gesehen, wie Peter uns angesehen hat. Das war nicht nur der übliche, verächtliche Blick, den er sonst immer drauf hatte, das war viel mehr. Ich hab mir nichts dabei gedacht, dachte einfach nur, ihm passt es nicht, dass ihr alle vier mit uns geredet habt. Erst als er dich so unglaublich besitzergreifend an sich gezogen hat, ist mir klar geworden, dass er geglaubt hat, wir würden dich ihm wegnehmen. Dabei wussten wir doch nicht mal, dass er dein Freund ist.«
Ich wusste nicht, ob es Absicht war, aber ich vernahm bei dieser Aussage durchaus einen Vorwurf, daher hatte ich auch das Bedürfnis mich dafür zu rechtfertigen: »Es sollten nicht so viele wissen. Und weil ich wusste, dass er und Toby sich nicht verstehen, hab ich lieber nichts gesagt. Ich wollte nicht ständig von Toby hören, dass er eine schlechte Wahl wäre et cetera.«
»Und du glaubst, das hätte er gesagt?«
»Ja. Ihr wart beide immer sehr ehrlich, wenn ich von meinen Beziehungsproblemen erzählt hab. Auch ohne zu wissen, von wem ich rede. Ihr habt mir mehr als einmal gesagt, dass ich mir das gut überlegen sollte, ob es gut ist. Ich glaub nicht, dass ihr eure Meinung geändert hättet, wenn ihr gewusst hättet, wer mein Freund ist.«
Roger schien von meiner Ehrlichkeit verwundert, denn er brauchte einen Moment, bevor er antwortete: »Vermutlich hast du recht.«
»Hör zu, ich geb euch nicht die Schuld daran. Ihr konntet nichts davon wissen und ich hab euch ferngehalten, bevor ihr mehr bemerken konntet.« Es überraschte mich selbst, mit welcher Klarheit ich schaffte, ihm das zu sagen, aber tatsächlich war es das, was ich darüber dachte. Auch wenn andere das vermutlich anders gesehen hätten. Das war eine Sache, die wir allein verbockt hatten.
»Dann lag es also nicht daran, dass du dich danach nicht mehr bei uns gemeldet hast?«, fragte Roger noch einmal nach, was ich verneinte. »Es lag also nur an deinen ›Schwierigkeiten mit Männern‹? Was auch immer das heißen mag.«
Ich nickte. Ja, hauptsächlich daran. Und dass ich mich geschämt hatte. Denn ich hatte ihnen durchaus eine Weile die Schuld an allem gegeben. Aber mittlerweile war mir bewusst, dass es nur Selbstschutz gewesen war, eine Möglichkeit, die Beziehung aufrecht zu erhalten, da jemand anders unsere Probleme verursacht hatte und nicht wir.
Bevor ich in die Verlegenheit kam, Roger erklären zu müssen, was ich mit den Schwierigkeiten meinte, klingelte mein Handy. Dankbar für die Ablenkung nahm ich ab und wurde direkt von Lance’ aufgeregter Stimme begrüßt: »Alter, wo bleibst du? Wir warten schon auf dich. Es ist fast zwei!«
Es dauerte eine Weile, dann fiel mir wieder ein, weshalb er so aufgebracht war. Wir hatten eine Bandprobe angesetzt, weil sich ein Drummer vorstellen wollte! Scheiße, wie konnte ich das denn vergessen? »Mist. Sorry, ich hab es total vergessen. Ich komm so schnell ich kann.«
»Bitte? Du hast eine Bandprobe vergessen?«, kam die überraschte Rückfrage. »Warte, ich hol dich ab.«
»Musst du nicht«, versuchte ich, ihn zu beruhigen. Nein, das war mir ganz und gar nicht recht, wenn er mitbekam, wo ich war.
»Oh doch! Ich will schließlich wissen, welches Babe es schafft, dass du so etwas vergisst. Die muss verdammt gut sein!«
»Nein, wirklich nicht, ich bin gleich da. Du musst jetzt nicht extra nochmal los.« Mist! Ich musste mir dringend etwas einfallen lassen.
»Hab dich nicht so! Na los, gib mir die Adresse. Dann bist du auch viel schneller hier und wir können anfangen.«
Das war es! Das war die Ausrede, die ich brauchte. Und sie war noch nicht einmal gelogen. »Würde ich ja gern, aber ich hab so gar keine Ahnung, wo ich bin. Ich muss das selbst erst mal rausfinden.«
Noch bevor ich vollständig zu Ende gesprochen hatte, wurde mir das Telefon aus der Hand genommen. Erschrocken riss ich die Augen auf, als Roger einfach eine Adresse in Medford in den Hörer sprach. Nein, verdammt! Direkt danach bekam ich Handy wieder gereicht.
Einen Moment brauchte ich, bis ich es wieder annehmen konnte. Vorsichtig fragte ich nach: »Bist du noch dran?«
»Alter, wer war das? Soll ich die Polizei rufen? Brauchst du Hilfe?« Lance klang noch viel aufgebrachter als zuvor.
»Beruhig dich! Nein, mir geht es gut. Ich ... ich erklär’s dir später, okay?« Verdammt, nein. Ich wollte nicht, dass Lance herkam. Das würde alles so viel schwerer machen.
»Nichts da! Ich komm dich jetzt holen. In spätestens zwanzig Minuten bin ich da. Und wenn ich dafür alle Verkehrsregeln missachten muss.« Schon im nächsten Moment hörte ich nichts anderes mehr als Stille.
Fluchend legte ich auf und suchte Rogers Blick. Der saß noch immer völlig unbeeindruckt mir gegenüber. Wütend fuhr ich ihn an: »Bist du bescheuert? Lance glaubt jetzt, ihr hättet mich entführt!«
»So tust du auch gerade«, antwortete er gelassen. Verdammt, er sollte das lassen! Ich war wütend auf ihn, das war kein Spiel! »Dabei bist du vollkommen freiwillig mit ins Taxi gestiegen.«
Stimmt, damit sprach er etwas an, was ich in dem ganzen Trubel vollkommen vergessen hatte. »Wie bin ich überhaupt hierher gekommen?«
»Du bist gestern Abend ziemlich angetrunken mit einem merkwürdigen Typen im Overload aufgetaucht. Der war fast noch betrunkener als du. Irgendwann gab es dann plötzlich Stress zwischen euch, keine Ahnung, warum. Ich hab Toby zwar gesagt, er soll sich nicht einmischen, aber du weißt ja, wie er ist.« Roger seufzte. Bildete ich mir das ein oder klang das so, als wäre er nicht gerade begeistert darüber, dass ich da war? »Jedenfalls wollten wir dich dann nach Hause bringen, aber du hast dich standhaft geweigert und wolltest unbedingt bei uns bleiben. Du hast gebettelt wie ein kleines Kind, um zwischen uns schlafen zu dürfen. Und bis du heute Morgen ins Bad gestürmt kamst, schienst du damit auch sehr glücklich.«
Rogers Schilderung trieb mir das Blut ins Gesicht. Verdammt, das war echt peinlich! Doch langsam gewann ich das Gefühl, dass es ihn doch nicht störte, denn er grinste mich mehr als nur ein wenig an.
Dann wurde er schlagartig wieder ernster: »Also, was hat es mit deinen Schwierigkeiten auf sich?«
»Was für Schwierigkeiten?«, fragte Toby, der gerade durch das Gartentor zurückkam.
Frustriert seufzte ich. Kam ich also doch nicht drumherum? Ich wollte ihnen nicht davon erzählen! Irgendwie musste ich aus der Nummer rauskommen. Dann fiel mir das Offensichtlichste ein. »Ich will nicht darüber reden.«
Toby und Roger tauschten einen Blick, während sich Toby setzte, dann zuckten sie fast synchron mit den Schultern. »Wie du willst.«
Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, dass sie wirklich nicht weiter nachfragen würden, doch es erleichterte mich ungemein. Sie mussten nichts davon wissen, es war besser so. Sie würden sich nur unnötig Sorgen machen.