»Fährst du gleich zu Lance?«, fragte mich James, als wir den Friedhof verließen.
Seitdem wir uns wieder näherstanden, kamen wir grundsätzlich gemeinsam hierher. Es hatte etwas Beruhigendes, dass da noch jemand anderes war, der Mum mindestens genauso sehr vermisste wie ich. Zwar hatten mich die Paynes vorher immer begleitet, dennoch hatte ich immer das Gefühl gehabt, dass sie meine Trauer nicht wirklich verstanden. Mit James war das anders.
Er hatte immer wieder behauptet, dass James’ Trauer für einen Freund der Familie unverhältnismäßig wäre. Doch mir war es egal. Mir stand es nicht zu, darüber zu urteilen, wie sehr jemand trauern durfte. Außerdem wusste ich, dass James und meine Eltern sich früher wirklich nahegestanden hatten. Wäre Lance gestorben, hätte ich auch stark um ihn getrauert. Deshalb musste man keine völlig abwegigen Mutmaßungen anstellen. Vermutlich konnte er einfach nur nicht verstehen, dass man sich auch so gern haben konnte, ohne dass man zwangsweise miteinander ins Bett stieg. Schon der Gedanke war völlig absurd.
Ich erinnerte mich, dass James etwas gefragt hatte, und antwortete ihm verzögert: »Nein, er hat heute keine Zeit.«
»Oh. Magst du dann mit zu mir kommen?« Er wusste, dass mich die Besuche immer etwas mitnahmen und ich danach gern zu Lance ging, um mich abzulenken.
»Nein, schon gut, ich bin mit Freunden verabredet«, beruhigte ich ihn. Ich wusste selbst, dass es keine gute Idee wäre, jetzt allein zu sein, daher hatte ich Toby und Roger gefragt, ob ich zu ihnen konnte und sie hatten gerne eingewilligt. »Sie sollten eigentlich jeden Moment hier auftauchen.«
»Das ist gut.« James lächelte mich an. »Sollte es mal nicht klappen, weißt du ja, dass du auch zu mir kommen kannst.«
»Ja, James, ich weiß.« Lächelnd schüttelte ich den Kopf. Er machte sich einfach zu viele Sorgen. »Aber keine Sorge, ich bin doch schon groß.«
Er lachte kurz, legte mir die Hand auf die Schulter und drückte leicht zu. »Du wirst für mich trotzdem immer auch der kleine Junge bleiben, der mich damals unter Tränen am Flughafen verabschiedet hat.«
Ich verdrehte leicht die Augen und drehte mich aus seinem Griff. Er wurde jedes Mal so unnötig sentimental, dass es nervte. Vermutlich war eher er derjenige, der jemanden um sich brauchte und nicht ich. Aber ich wollte nicht derjenige sein. Ich wollte Ablenkung und mir nicht den ganzen restlichen Tag von ihm erzählen lassen, wie schön es doch früher gewesen war und welche Erinnerungen er an Mum hatte.
Zum Glück waren Toby und Roger pünktlich, sodass mir eine Antwort erspart blieb. Ich lächelte ihnen zu, als ich sie erblickte, doch sie blieben ein Stück abseits stehen. Vermutlich hatten sie Angst zu stören. Doch ich wollte sie James vorstellen. Er sollte sehen, dass ich noch mehr tolle Freunde hatte als nur Lance. Daher winkte ich sie heran.
Nur langsam kamen sie näher. Als sie bei uns angekommen waren, drückte ich sie kurz und stellte sie dann vor: »James, das sind Toby und Roger. Toby, Roger, das ist James.«
Verhalten grüßte das Pärchen, während James sie interessiert musterte. Er streckte ihnen die Hand entgegen. »Hallo. Es freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Äh, danke gleichfalls ...«, antwortete Toby und betrachtete James misstrauisch.
Roger nickte nur kurz. Auch er wirkte unruhig. »Können wir dann los?«
Verwundert nickte ich. Nachdem ich mich kurz von James verabschiedet hatte, folgte ich den beiden, die zügig vorliefen.
Als wir fast an der Bahn waren, wurden ihre Schritt langsamer. Endlich hatte ich wieder genug Luft, um zu fragen: »Warum habt ihr es denn so eilig?«
»Ich dachte nur, es wäre sinnvoller, weg zu sein, bevor deinem Vater einfällt, woher er mich kennt«, antwortete Roger.
»Wie kommst du auf ...« Jetzt war ich noch verwirrter, lachte jedoch, sobald ich Rogers Irrtum erkannte. »James ist doch nicht mein Vater!«
»Nicht?«, fragte Toby genauso überrascht, wie Roger mich ansah.
»Nein.« Ich sah zu Roger. »Wie kommst du darauf? Du hast meinen Vater doch schon mal gesehen.«
»Tut mir leid, nachdem er mir vorgeworfen hat, seinem minderjährigen Sohn etwas anzutun, hatte ich besseres zu tun, als ihn mir genau einzuprägen.«
»Sorry.« Schuldbewusst biss ich mir auf die Unterlippe.
»Schon gut, du konntest ja nichts dafür.« Beruhigend strich mir Toby über den Kopf. »Aber ich hätte auch darauf getippt, dass er dein Vater ist.«
»Äh ... okay ...?« Ich stieg mit ihnen gemeinsam in die Bahn und setzte mich im Vierer ihnen gegenüber. »Wie kommt ihr darauf?«
Roger zuckte mit den Schultern, während Toby erklärte: »Du hast gesagt, dass du deine Mum besuchen gehst. Da dachte ich, dein Vater würde mitkommen.«
Das machte natürlich Sinn. Sie konnten ja nicht wissen, dass Dad sich weigerte, ans Grab zu gehen, weil er es nicht ertrug. Dennoch lächelte ich amüsiert. Irgendwie fand ich diese Verwechslung witzig. Zumal es ja auch nicht das erste Mal war. »Nein, James ist mein Patenonkel.«
»Oh. Dann tut es uns leid«, entschuldigte sich Roger.
Ich zuckte mit den Schultern. »Nicht schlimm. Ich hätte vermutlich ähnlich gedacht. Ihr konntet ja nicht wissen, dass mein Dad nicht ans Grab geht.«
»Warum denn nicht?«, fragte Toby interessiert nach.
Ich seufzte. »Na ja, er kommt nicht wirklich mit Mums Tod klar. Ich hab das Gefühl, er würde am liebsten vergessen, dass sie überhaupt existiert hat. Er hat, so schnell es ging, eine neue Frau geheiratet und mit ihr ein Kind bekommen und alles weggeräumt, was auch nur irgendwie an Mum erinnert. Vermutlich hätte er mich auch entsorgt, wenn er gekonnt hätte.«
Toby legte mir die Hand auf die Knie. »Hey, sag doch sowas nicht. Ich glaube, dein Dad hat dich wirklich lieb. Auch wenn er sich vielleicht etwas schwertut, dir das zu zeigen.«
»Hmpf. Na wenn du meinst ...«
»Ja, meine ich. Wenn er sich keine Sorgen um dich machen würde, dann hätte er Roger damals wohl kaum so angefahren.«
Ich zuckte mit den Schultern, so wirklich überzeugt war ich nicht. Zum Glück sagten sie aber nichts mehr dazu. Offenbar war ihnen bewusst, dass es nichts gebracht hätte. Stattdessen schwiegen wir uns an.
Erst als Toby eine Hand auf Rogers legte, merkte ich, dass dieser unruhig geworden war und schon eine ganze Weile in dieselbe Richtung sah.
Er wandte den Blick ab und murmelte zu Toby: »Sorry, Gewohnheit.«
Mit einem Grinsen lehnte Toby sich zu ihm und flüsterte: »Schon gut. Wenn du magst, geh rüber.«
»Sicher?«, fragte Roger unsicher nach und sah kurz zu mir.
Toby strich seinem Freund liebevoll durch die Haare. »Sicher. Wir kommen auch allein klar. Na los, verschwinde, bevor er weg ist.«
Roger nickte, gab seinem Freund einen Kuss auf die Wange und wandte sich dann an mich: »Bist du morgen früh noch da?«
»Glaub schon ...«, antwortete ich völlig verwirrt. Was wurde das? Ich konnte das nicht einschätzen.
Roger lächelte, dann erhob er sich. »Dann bis morgen.«
Verwirrt sah ich ihm nach, wie er zügig zum Ausgang ging und gerade noch rechtzeitig ausstieg. Draußen sah ich, wie er zu einem schwarzhaarigen Mann aufschloss, der etwa in seinem Alter war und ihn lächelnd ansprach. Dieser drehte sich herum und erwiderte das Lächeln.
»Ich hoffe, du bist nicht böse?« Toby sah mich fragend an und rückte auf den Platz neben mich.
Noch immer verwundert schüttelte ich den Kopf. Nein, böse war ich deshalb nicht, nur verwirrt. Bei den beiden sah das so einfach aus. Roger flirtete mit jemanden, ohne dass ich es mitbekam, und Toby schickte ihn problemlos weg. Ich hätte vermutlich schon für die Blicke Ärger bekommen. Und Roger verschwand und verabschiedete sich bis zum nächsten Morgen, ohne mit der Wimper zu zucken. Wobei sich er und der andere Mann vermutlich schon kannten, anders konnte ich mir das kaum vorstellen.
»Gut. Du kennst ihn ja, er ist manchmal etwas impulsiv.«
Wieder nickte ich. Ja ... Impulsiv ... So konnte man es auch nennen. Mir fehlten einfach nur die Worte. Das war so vollkommen anders als das, was ich erlebt hatte. Fast konnte ich meinen, ich träumte.
Doch die Hand, die sich vorsichtig auf mein Knie legte, bewies mir das Gegenteil. Der leichte Druck fühlte sich gut an und gleichzeitig machte er mir bewusst, dass ich angefangen hatte, mit den Beinen zu wippen. Scheiße, ich würde eine Nacht allein mit Toby im Haus verbringen. Nervös schluckte ich.
Als hätte dieser meine Gedanken erraten, flüsterte er: »Du musst nicht bleiben. Du kannst jederzeit gehen.«
»Ich überleg’s mir.« Im Moment wollte ich auf jeden Fall noch nicht gehen. Immerhin war zu Hause sitzen viel schlimmer, als mit ihm allein zu sein. Wie ich jedoch heute Abend darüber denken würde, wusste ich noch nicht.
»Ist gut. Sag einfach nur, wenn du etwas nicht willst.«
Überrascht stellte ich fest, dass auch Toby leicht nervös klang. Machte ihn die Vorstellung, mit mir allein zu sein, womöglich genauso unruhig wie mich?
Dieser Gedanke beruhigte mich auf seltsame Art und Weise. Immerhin war ich so nicht der Einzige, der nicht wusste, was ihn erwartete.
Auf dem Weg von der Bahn zu Tobys und Rogers Haus machten wir einen Zwischenstopp in einer Videothek und holten uns einige Filme für den Abend. Eigentlich hatten wir vorgehabt, zu dritt ein paar Spiele zu spielen, aber zu zweit würden wir daran wenig Spaß haben. Also wollten wir einfach einen Männerabend mit ein paar Actionfilmen und Bier machen.
»Holen wir noch Pizza und Chips?«, fragte ich, als wir wieder ins Freie traten.
Wenig überzeugt verzog Toby das Gesicht, dann schüttelte er den Kopf. »Nee, eher nicht.«
»Ach komm schon. Zu einem richtigen Männerabend gehört auch eine richtig geile Pizza!«
»Nee. Wir waren erst zu Rogers Geburtstag mit seinen Eltern essen.«
Ich wusste schon, was er damit sagen wollte. Vermutlich hatte es nichts gegeben, was seinem Ernährungsplan entsprach. »Ja und? Das ist zehn Tage her. Außerdem musst du dir ja nun wirklich keine Gedanken machen.«
»Na hör mal, in meinem Alter kann man sich nicht mehr alles einfach so reinstopfen. Außerdem ist schon das Bier nicht ohne.«
Genervt verdrehte ich die Augen. Mal ernsthaft, er sah immer noch genauso gut aus wie vor sechs Jahren. Andere Männer hätten ihn darum beneidet, mit Mitte dreißig noch einen so gut definierten Körper zu haben. Selbst Roger baute langsam ab. »Du bist ja schlimmer als jede Tussi auf Diät. Nur wegen einer Pizza und ein paar Chips wirst du schon nicht aufgehen wie ein Hefekloß. Die hast du doch in Null-Komma-Nichts wieder abtrainiert.«
»Ist das etwa ein Angebot, dass du mir dabei hilfst?« Obwohl er die Antwort vermutlich schon kannte, blitzte es in seinen Augen auf. Dann seufzte er nachgiebig. »Na gut, ich denke, eine Ausnahme kann ich mal machen.«
Ich lächelte und drückte mich kurz an seinen Arm. Es war die harmlose Variante eines Kusses auf die Wange und er schien sich mindestens genauso darüber zu freuen.
Der Abend war wirklich ablenkend, obwohl wir nur Filme sahen und ein paar Bier tranken. Nicht einmal genug, um davon angeheitert zu sein. Andererseits hätte ich mit Lance den Abend auch nicht anders verbracht. Wobei doch, ich hätte mit ihm nicht gekuschelt. Ich lag in Tobys Arm und ließ mich ein wenig streicheln.
Je weiter die Stunden fortschritten, desto müder wurde ich. Die sanften Berührungen lullten mich ein. Nach dem letzten Film erhob ich mich träge.
Toby lächelte. »Wollen wir ins Bett?«
»Ja, klingt gut.« Gemeinsam gingen wir ins Bad, um uns fertig zu machen.
Als ich auch endlich so weit war und aus dem Bad trat, lag Toby überraschenderweise bereits im Bett. Verwundert blickte ich ihn an. »Kannst du mir noch mit der Couch helfen? Ich komm mit dem System immer noch nicht klar.«
Sein Blick fixierte mich und langsam hob er die Decke.
Der Anblick seines fast nackten Körpers ließ mich scharf die Luft einziehen. Verdammt, er musste sich wirklich keine Sorgen machen, wie er aussah! Er war heiß.
»Magst du nicht herkommen? Es ist mehr als genug Platz.«
Es brauchte einen Moment, bis ich verstand, was er anbot. Doch meine Beine hatten sich schon in Bewegung gesetzt. Vor dem Bett konnte ich sie stoppen und sah verunsichert zu ihm herunter. »Bist du sicher?«
Toby lächelte und griff nach meiner Hand. Vorsichtig zog er mich daran zu sich. Ohne Widerstand folgte ich. Dann deckte er uns beide zu. Leise raunte er in mein Ohr: »Sehr sicher.«
Diese Stimme gemeinsam mit der Haut, die sich an meine schmiegte, jagte eine Gänsehaut über meinen Körper. Automatisch streckte ich mich der Hand entgegen, die sich vorsichtig unter mein Shirt schob und sich auf meinen Bauch legte. Während ich genussvoll die Augen schloss, musste ich meinem Zweifel dennoch Ausdruck verleihen: »Ist das wirklich okay? Also wegen Roger?«
Toby rutschte noch näher an mich heran. Mit einem Lächeln flüsterte er: »Ja, es ist alles gut. Sonst hätte ich dir das nicht angeboten. Ich dachte nur, du würdest hier vielleicht besser schlafen.«
Vorsichtig nickte ich. Ja, das klang eigentlich ganz vernünftig. Beim letzten Mal hatte ich doch auch gut in ihrem Bett geschlafen.
Ich bettete meinen Kopf an seiner Schulter und schloss die Augen. Noch eine Weile genoss ich die Hand auf meinem Bauch. Die Art, wie er mich streichelte, ließ mich vermuten, dass es wirklich nur dazu gedacht war, mich zu beruhigen. Für eine sexuelle Intention war es zu sanft.
Es dauert gar nicht lange, da hatte ich mich so weit beruhigt, dass ich einfach einschlief. Nur noch im Halbschlaf nahm ich Tobys geflüstertes »Schlaf gut, Kleiner« wahr.