Gelangweilt hörte ich der Frau vor mir zu, die mir irgendwas über ihre Arbeit erzählte. Ab und zu nickte ich und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, dass ich mit den Gedanken ganz woanders war. Hätte ich gewusst, dass sie mir ein Ohr abkauen würde, hätte ich mir eine andere gesucht. Aber nun war es zu spät.
Unauffällig warf ich einen Blick auf mein Handy. Nur noch ein paar Minuten, dann war das hier vorbei. So lange musste ich noch durchhalten. Vielleicht sollte ich ihr langsam wieder zuhören, um einen guten Moment abzupassen, in dem ich das Thema wechseln konnte.
Lange musste ich nicht mehr warten, bis sie ihre Schilderung beendet hatte. Ich nahm noch einen Schluck von meinem Wodka, dann legte ich ihr mit einem Lächeln meine Hand auf den Oberschenkel. Ich beugte mich vor und raunte: »Das klingt verdammt stressig. Was hältst du davon, wenn ich dir ein wenig beim Entspannen helfe?«
Auch wenn es total plump war, mehr brauchte es meist gar nicht. Sie hatte von vornherein gewusst, worauf ich hinauswollte. Ein wenig hatte ich es noch hinausgezögert, musste den richtigen Moment abwarten. Ich hoffte nur, dass ich mich nicht irrte, sonst war das hier ein verschenkter Abend.
Verlegen senkte sie den Kopf und kicherte. Ernsthaft? Jetzt wurde sie nervös?
Innerlich seufzte ich. Na gut, ich hatte sie ja auch nicht ins Bett kriegen wollen. Alles, was ich wollte, war eine kleine Knutscherei zum richtigen Zeitpunkt.
Ich hob ihren Kopf etwas an, legte meine Hand auf ihre Wange und strich ihr darüber. »Was ist, Babe, keine Lust?«
»Mir geht das ein wenig zu schnell«, gestand sie leise und wollte den Kopf wieder senken.
Indem ich ihr den Finger unter das Kinn legte, hinderte ich sie daran. Sanft lächelte ich, bevor ich nah an ihrem Ohr flüsterte: »Wer hat denn gesagt, dass wir gleich loslegen müssen? Wir haben den ganzen Abend für uns.«
Zu meiner Freude breitete sich eine leichte Gänsehaut auf ihrem Nacken aus. Gut. Sie durfte jetzt keinen Rückzieher machen. Zumindest noch nicht. Nicht bis Laura nicht hier war. Danach konnte sie tun und lassen, was sie wollte. Doch ein paar Minuten musste ich sie noch hinhalten. Laura musste das hier sehen! Sie sollte sehen, wer ich wirklich war.
Lange hatte ich über den Traum nachgedacht, der mich am Abend nach ihrem Angebot heimgesucht hatte. Mittlerweile war ich mir sicher, es war eine Warnung, mich nicht noch einmal auf ein Lippenbekenntnis zu verlassen. Er hatte mir gesagt, dass er mit meinen Wünschen klar kam, dass sie für ihn in Ordnung waren. Das alles war eine Lüge gewesen. Nein, vermutlich hatte er nicht einmal gewusst, dass er log, hatte wirklich geglaubt, dass es in Ordnung war.
Noch einmal konnte ich das nicht. Nein, sie musste es sehen. Ich musste es sehen! Ich musste wissen, wie sie darauf reagierte, wenn sie mich mit einer anderen sah, musste sehen, dass es für sie kein Problem war. Sie nur danach zu fragen, wäre nicht genug. Auch sie hätte sicher nur Ja gesagt und mir versichert, dass es sie nicht störte, dass sie mich trotzdem wollte. Doch darauf allein konnte ich mich nicht verlassen. Ich wusste, dass es scheiße war, doch für mich war es die einzige Möglichkeit.
Auch wenn Laura nichts davon gesagt hatte und ich sie nicht explizit eingeladen hatte, war ich sicher, dass sie nach der Arbeit herkommen würde. Eigentlich sollte sie sogar jeden Moment da sein.
Irgendetwas hatte die Frau vor mir erwidert, doch zugehört hatte ich nicht. Wichtig war nur, dass es nicht ablehnend geklungen hatte. Die ganze Zeit suchte ich aus den Augenwinkeln den Raum ab, wollte wissen, ob Laura wirklich kam.
Die Hand auf dem Oberschenkel wanderte nach oben, die auf der Wange weiter in den Nacken, während ich ein Stück an die Frau heranrutschte. Während ich meine Lippen vorsichtig auf ihren Hals senkte, fragte ich flüsternd: »Darf ich?«
Verhalten nickte sie. Ganz langsam arbeitete ich mich vom Hals zum Nacken vor. Ruhig harrte sie aus, entspannte sich aber nicht. Wäre das hier nicht so wichtig gewesen, hätte ich es abgebrochen. Weder stand ich auf so extreme Zurückhaltung, noch schien es ihr zu gefallen. Nur noch einen Moment ...
Als ich im Nacken angekommen war und aufsah, um sie auf die Lippen küssen zu können, erfassten meine Augen eine Gestalt, die etwa zwei Meter von uns entfernt stand. Stocksteif stand sie da, war zur Salzsäure erstarrt. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich unsere Blicke. Dennoch kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Dann drehte sie sich um und ging.
Frustriert schloss ich die Augen, atmete tief durch und widerstand dem Drang, ihr nachzulaufen, sie um Vergebung anzuflehen und ihr zu sagen, dass ich es nie wieder tun würde. Etwas zu ruppig schob ich die andere Frau von mir.
Verwirrt sah sie mich aus Rehaugen an und wollte etwas fragen, doch schon als der erste schüchterne Laut ihren Mund verließ, unterbrach ich sie unwirsch: »Verschwinde! Das hier ist nichts für dich. Such dir lieber jemanden, der dich wirklich liebt.«
Noch einen Moment sah sie mich perplex an, dann raffte sie ihre Sachen zusammen und rauschte nach einem letzten verächtlichen Blick ab.
Gut für sie. Sie hätte die Wut, die langsam in mir aufstieg, nicht abbekommen wollen. Immerhin galt sie nicht ihr.
Ich drehte mich zurück zur Bar, leerte den Wodka und bestellte direkt den nächsten. Ich war so ein elender Idiot! Wie hatte ich nur glauben können, dass Laura mich akzeptieren konnte? Niemand würde das jemals können. Warum auch? Wer wollte seinen Partner schon gern mit anderen teilen? Das war eine Illusion, ein Wunschdenken.
Und dennoch konnte ich nicht anders. Ich hatte es probiert. Hatte es wirklich versucht. Zuerst bei ihm, dann bei Laura, beide Male war ich gescheitert, hatte unbewusst doch wieder angefangen, mit anderen zu flirten und ihnen den Hof zu machen. Daran hatten nicht einmal die harten Konsequenzen etwas ändern können. Zu sehr brauchte ich den Erfolg und die Anerkennung einer neuen Eroberung.
Er hatte recht. Ich war ein widerliches Miststück! Ich hatte Laura verletzt, das hatte ich in ihren Augen gesehen. Als sie sich umgedreht hatte, hatten sich Tränenspuren über ihre Wangen gezogen. Es war nur ein kurzer Augenblick gewesen, doch ich hatte sie gesehen. Ich hatte die Frau von mir gestoßen, die mir im letzten Jahr so ans Herz gewachsen war.
Ich leerte bereits das vierte Glas und orderte nach. Ich musste die Stimme zum Schweigen bringen, die versuchte, mir einzureden, dass ich das mit Laura noch klären könnte, wenn ich ihr nur folgte. Es war dieselbe törichte Stimme, die geglaubt hatte, Laura könnte meinen Wunsch nach anderen Frauen akzeptieren. Nie wieder würde ich auf sie hören. Zu oft hatte ihr Optimismus mich ins Unglück gestürzt.
Ich war wenig überrascht, als ich am nächsten Morgen neben einer jungen Asiatin aufwachte. Ich hatte zwar einiges getrunken, jedoch nicht genug, um mich an nichts mehr erinnern zu können.
Leise ächzend setzte ich mich auf und sah mich im Zimmer um. Offenbar befand ich mich in einem Studentenwohnheim. Die Einrichtung sprach zumindest dafür, genauso wie die Geräusche vor der Tür. Ich musste also – Wie hieß sie noch gleich? Yin? Yang? Jung! Das war’s – Jung aufwecken, damit ich am Sicherheitsdienst vorbei kam, den es in diesen Gebäuden häufig gab.
Ich streckte die Hand nach ihr aus, strich leicht über ihre entblößte Schulter.
Es brauchte einen Moment, bevor sie sich herumdrehte und sich dabei streckte. Kurz blinzelte sie, dann erfasste mich ihr verwirrter Blick. Nach kurzem Schweigen räusperte sie sich. »Morgen.«
»Morgen. Komm ich allein raus oder musst du mich rausbringen?«, fragte ich direkt. Ich hatte keine Lust, ihr irgendwas vorzuheucheln. Vorerst hatte ich die Schnauze voll davon. Auf mehr als einen One-Night-Stand wollte ich mich gar nicht einlassen. Immerhin hatte ich gestern erst wieder gezeigt, dass ich mit allem anderen nur jemanden verletzen würde.
Sie ächzte, während sie sich aufrichtete. Offenbar war das nicht ihre Zeit. »Ich bring dich kurz runter.«
»Danke.«
Wir standen auf und zogen uns an, wobei sie sich nur kurz ein paar Schlabberklamotten überwarf. Schweigend führte sie mich aus dem Wohnheim und verabschiedete sich dann an der Tür mit einem knappen »Bye«, welches ich erwiderte. Warum konnte es nicht immer so einfach sein?
Kurz orientierte ich mich, dann schlug ich den Weg zur WG ein. Mehr als ein paar Straßen waren es nicht.
»Hey, du bist heute aber früh dran«, begrüßte mich Lance in der Küche. Scheinbar hatte er etwas vor, sonst wäre er nicht bereits um zehn auf den Beinen. »Hat Laura dich rausgeschmissen?«
»Ich war nicht bei Laura«, erwiderte ich bitter, schluckte dabei mühsam die Wut herunter, die wieder aufzuflammen drohte. Ich war so ein widerliches Arschloch! Dennoch war es die richtige Entscheidung gewesen, daran gab es keinen Zweifel.
»Okay«, erwiderte Lance gedehnt, betrachtete mich dabei mit hochgezogener Augenbraue. »Wieder irgend’n Kerl? Du siehst ziemlich fertig aus.«
»Nein, ’ne Frau. Die Nacht war etwas anstrengend. Hast du was vor oder magst du mit in die Cafeteria frühstü...« Ich wurde vom Klingeln meines Handys unterbrochen.
Seufzend holte ich es hervor und drückte den Anruf weg. Es war bereits der dritte an diesem Morgen. Noch war ich nicht bereit, mich den unweigerlichen Konsequenzen zu stellen. Zuerst wollte ich richtig wach werden und etwas im Magen haben.
Verwundert beobachtete mich mein bester Freund. So ein Verhalten kannte er von mir nicht, ich drückte keine Anrufe weg, egal wie ungelegen sie kamen. Außer ich war gerade in einer heiklen Situation. Und selbst dann schaute ich vorher, wer anrief. »Was ist los? Gab’s Stress?«
Als Antwort nickte ich und zuckte mit den Schultern. Ich hatte keine Lust, das näher auszuführen. Er würde es noch früh genug erfahren. »Also kommst du mit Frühstücken?«
»Ich hab schon. Was ist denn passiert? Streit mit Laura?«
Ich nickte nur. Lance würde sowieso nicht verstehen, warum ich das tun musste. Er würde mir nur wieder erklären, dass ich an mir arbeiten müsste. »Gut, dann geh ich allein. Hast du noch was vor?«
»Ja, ich hab noch ’ne letzte Stunde bei Miss Dixon. Sie will noch mal alles durchgehen vor der Generalprobe am Sonntag. James und du üben doch sicher auch nochmal, oder?«, ging Lance auf den Ablenkungsversuch ein. Er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass jeder Versuch, mich zum Reden zu zwingen, nur darin enden würde, dass ich noch schlechtere Laune bekam.
»Ja, wir treffen uns morgen. Dann grüß Miss Dixon mal schön von mir.« Ich zeigte ein diabolisches Grinsen und zwinkerte meinem besten Freund zu, der genervt die Augen verdrehte. Er wurde nicht gern daran erinnert, dass ich einmal betrunken im Bett seiner Betreuungsdozentin gelandet war.
Ich hatte sie nicht erkannt, da ich sie sonst nur in biederen Klamotten mit strengem Haarknoten kannte und daher nicht erwartet hatte, sie in einem Club anzutreffen, in dem ich an dem Abend mit den Demons auftrat. Aber sie hatte mich ebenfalls nicht erkannt, denn sie erschrak am nächsten Morgen genauso sehr wie ich, als das böse Erwachen kam.
Die restlichen eineinhalb Semester, die ich bei ihr den Klavierkurs gehabt hatte, waren nicht angenehm gewesen. So wirklich schien sie nicht damit klarzukommen und schikanierte mich, wo es ging. Zumindest bis James irgendwann nachfragte, warum ich ständig bei ihr nachsitzen und Strafarbeiten machen musste. Er ließ nicht locker, bis ich es ihm sagte. Danach hatte ich halbwegs Ruhe. Vermutlich hatte er ihr klargemacht, dass sie diejenige war, die Ärger bekam, wenn ich es jemandem erzählte und nicht ich.
So wirklich verstand ich ihr Problem mit mir aber noch immer nicht. Wir waren betrunken gewesen, ich hatte sie aufgrund ihres Aussehens, sie mich aufgrund meines Alters nicht im Club erwartet. Ich hatte immerhin nur wegen des Konzerts hineingedurft. Da konnte man schon mal seine Dozentin, beziehungsweise seinen Studenten, im angetrunkenen Zustand nicht erkennen. Von mir aus wäre es dabei geblieben und wir hätten so getan, als wäre es nie passiert. Aber sie schien der Meinung, mich dafür büßen lassen zu müssen. Und darauf hatte ich keine Lust gehabt, immerhin war es unser beider Fehler gewesen.
Vielleicht hatte sie aber auch nur Angst gehabt, ich könnte den anderen Studenten erzählen, dass sie zumindest im Bett gar nicht so streng war, wie sie tat. Ganz im Gegenteil sie wurde sogar richtig zahm.
Bei dem Gedanken daran huschte ein anzügliches Grinsen über mein Gesicht. Als würde ich diese Erinnerung mit jemandem teilen wollen.
»Urgh, Isaac, du bist widerlich!« Lance, der wohl erkannt hatte, woran ich dachte, würgte gespielt.
»Du weißt ja nicht, was du verpasst«, antwortete ich nur gelassen und grinste weiter. Nein, selbst wenn er es wüsste, bezweifelte ich, dass er etwas damit hätte anfangen können. Soweit ich wusste, stand er auf Kuschelsex. Mit einer Frau, die geradezu darum bettelte, hart angepackt zu werden, konnte er vermutlich nichts anfangen. »Dann viel Spaß mit dem Folterknecht und bis später.«
»Ja, bis später. Guten Hunger«, verabschiedete er sich. Dann schien ihm noch etwas einzufallen und er blieb stehen. »Wenn du übrigens reden willst, wegen Laura, ich hör dir zu.«
»Ich weiß, danke.« Ich hob die Hand zum Gruß und verließ Küche und Wohnung. Hoffentlich bekam ich noch etwas zum Frühstück in der Cafeteria, sonst musste ich in ein Café. Genügend gab es auf dem Campus ja zum Glück.