Petra lag auf dem Rücken. Die dünnen Datenkabel und Schläuche vom Überwachungsgerät erlaubten keine Seitenlage, die sie nun, nachdem ihre Muskelschmerzen sich verringert hatten, gerne eingenommen hätte.
Wie oft hatte sie so dagelegen, früher, im Zimmer ihrer Stiefschwester... Eingesperrt, alleine, weil immer sie der Stein des Anstoßes gewesen war. Was auch immer vorgefallen war im Hause Hager, immer war sie die Schuldige gewesen! Schuldig an vom Stiefvater konstruierten Vorfällen. Wenn sie mit Inge von der Schule heim kam, hieß es:
"Du weißt, was Vater gesagt hat! Strafe muss sein! Geh auf dein Zimmer! Du bleibst dort, bis er von der Arbeit kommt, dann sehen wir weiter."
"Wie oft noch: Er IST nicht mein Vater! Und was glaubst du, was er von mir will, wenn er zu mir ins Zimmer kommt, um mich zu bestrafen, während seine Tochter mit dir zu Tisch sitzt! Was bist du für eine Mutter? Ich wünschte, ich käme in ein Heim! Weg von dir und deinem, ach so geliebten, Mann!"
"Petra! Wie kannst du? Und noch dazu neben Inge?"
"Dein Mann ist ein Schwein, Mutter! Tu nicht so, als ob du das nicht wüsstest! Und wenn du mich schon einsperrst, dann wirf wenigstens den Schlüssel weg, damit das Schwein draußen bleibt!"
Dreissig Sekunden und eine kräftige Ohrfeige später wurde sie, wie in solchen Momenten üblich, von ihrer Mutter derb ins Zimmer gestoßen, wobei sie zu Boden fiel. Sie weinte nicht, als sie das Klicken des Türschlosses hörte. Sie hatte keine Tränen mehr...
Dass sie ihren Stiefvater als Schwein bezeichnet hatte, war die Wahrheit. Dass sie es deshalb getan hatte, weil er sich diesen Titel auf abscheulichste Weise verdient hatte, war die zweite Hälfte der Wahrheit... Für Mutter hatte es immer nur die eine Hälfte gegeben. So hatte Petra als Teenager gelernt, dass Wahrheit eine Frage der Interpretation ist. Das die Wahrhaftigkeit einer Aussage in der Gesamtheit der Information liegt. Für den wehrlosen Teenager eine schmerzhafte Erfahrung, die sie zwar später zu einer brillanten Journalistin werden ließ, ihr Verhältnis zu den Herren der Schöpfung aber nachhaltig beeinträchtigt hatte.
Die Tür ging auf und Helmut kam zu ihr ans Bett. Dieser Mann war anders, als alle anderen, denen sie bisher begegnet war. Sein Erscheinen zauberte ihr ein Lächeln ins Gesicht. Helmut setzte sich wie zuvor auf den Bettrand zu ihr. Sie suchte seine Hand und merkte in diesem Moment, dass es noch nie einen Menschen in ihrem Leben gegeben hatte, bei dem sie dieses Bedürfnis gehabt hätte...
Sie war ihm offenbar angenehm, diese Geste der Vertrautheit, denn er nahm sogleich die ihm dargebotenen Hand und lächelte sie an.
"Es ist immer wieder schön, dich lächeln zu sehen, Petra. Sowas kann süchtig machen und gerade bei dir, bin ich da sehr gefährdet."
"Sch..." setzte sie an aber die Stimme versagte ihr und sie musste räuspern. "Schmeichler!" brachte sie schließlich hervor.
"Petra, ich weiß, du bist noch sehr schwach und vom medizinischen Standpunkt aus, bin ich eigentlich dagegen, aber Herr Weninger von der Kripo möchte dich unbedingt sprechen, solange die Spur noch heiß ist. Glaubst du, du schaffst das?"
"Bleibst du bei mir?"
"Wenn du das möchtest."
Sie nickte.
"Er ist übrigens ein persönlicher Freund von mir Und ein entsprechend netter Kerl. Ich hab ihm gesagt, er darf dich nicht aufregen."
Sie nickte ein weiteres Mal und er bedeutete Rudi, der in der Tür gewartet hatte nun ans Bett heranzutreten...