Achtung: Thematisierung von Tod und lebensmüden Gedanken!
Wohin er auch ging, was immer er tat, nichts half gegen die Einsamkeit, die Sigmund am stärksten empfand, wenn die Wälder und Hügel um ihn herum in einem blaugrauen Dämmerlicht versanken. Die strahlende Sonne war hinter dem Horizont verschwunden und nur ein heller Schimmer von ihr blieb für eine kleine Weile am Himmel, bevor auch dieses Licht erlosch. In seiner Kindheit war dies ihm die liebste Zeit des Tages gewesen, bedeutete es doch, dass sein Vater bald zu ihm kommen würde. Der dunkle Wanderer, der sich ihm zumeist in Wolfsgestalt zeigte. Dies war längst vergangen und ebenso waren die Stimmen seiner Mutter und seiner Zwillingsschwester in seinem Kopf verhallt. Glockenhell waren sie, das war das Einzige, was Sigmund noch wusste. Menschenleben, vor allem das von Frauen und Mädchen, waren kostbar und oftmals viel zu schnell vorbei. Er konnte nichts dagegen tun. Tränen liefen ihm über das Gesicht, als er an sie dachte, die er dem bösen Spiel der Männer ihres Dorfes entrissen hatte. Ein schneller Tod durch eine ihrer Äxte wäre vielleicht gnädiger gewesen als das qualvolle Dahinsiechen nach der Geburt ihres schon im Mutterleib verstorbenen Kindes. Seiner winzigen Tochter. Wofür waren diese Menschensippen nutze, wenn sie der Frau und dem Kind nicht helfen konnten? Wofür war sein Leben gut?
Und dann hörte er es. Seine Ohren, alle seine Sinne waren stets wacher und schärfer gewesen als die Normalsterblicher. Etwas näherte sich in schnellem Lauf durch den Wald. Äste knackten und trockene Blätter im Gras knisterten, die Stimmen der Vögel verstummten und der Atem eines großen Tieres wurde durch den Wind getragen. Sigmund horchte und blickte in das Dunkel zwischen den Bäumen, wo er nun ein hell-glänzendes Auge erspähte. Das seines Vaters! Mit einem tiefen Stoßseufzer beschleunigte sich nun Sigmunds Atem. Eine wild-fröhliche Aufregung bemächtigte sich seiner und ließ ihn seine düstersten Gedanken abwerfen. Der mächtigste der Wölfe kam, ihn zu trösten. Um ihn zu begrüßen, ließ sich der junge Krieger auf die Knie sinken und öffnete seine Arme weit. Im nächsten Moment warf sich das silber-graue Tier hinein und er fiel nach hinten auf den Rücken. Es leckte ihn am Hals und im Gesicht und gab freudige Laute von sich. Sigmund lachte auf. Wie hatte er das vermisst! Er schlang seine Arme um den Leib des Wolfes und wälzte sich mit ihm im Gras umher, bis sich der erste Übermut gelegt hatte. Dann erhob sich der Graue und voller Ungeduld in seinem silbern-feurigen Auge wartete er auf seinen Sohn. Sigmund zögerte nicht. Er warf seine Kleider fort und noch bevor das letzte Stück den Waldboden berührte, setzte er zur Wandlung an.
Es begann mit einem lauten Aufheulen, in das der Wolf laut und markerschütternd mit einstimmte. Schon krümmte sich Sigmunds Rücken, er wand sich hin und her, lautes Knacken in seinen Knochen und sein beschleunigter Atem zeugten von der Verzerrung seiner Gliedmaßen. Die Schmerzen in seinen sich verbiegenden und verformenden Armen und Beinen, dem Gesicht und überall sonst, waren überlagert von dem unbändigen Gefühl wachsender Kraft und göttlicher Energie. Krallen, Zähne, Fell und Schwanz, alles, schien kurz aufzuleuchten, dann war es vollbracht. Schon schenkte der alte Wolf dem jungen einen auffordernden Blick und heulte erneut. Da stoben sie auch schon gemeinsam los, sodass das Gras unter ihren Pfoten losgetreten aufwirbelte. Nebeneinander, in rasender Jagd und voller Leben.
Challenge Kapitel, die diesem vorausgingen:
1. https://belletristica.com/de/books/16849-sixty-minutes/chapter/60904-blutsbande
2. https://belletristica.com/de/books/16849-sixty-minutes/chapter/81560-eiskristall
3. https://belletristica.com/de/books/16849-sixty-minutes/chapter/84664-neuanfang
4. https://belletristica.com/de/books/16849-sixty-minutes/chapter/87076-licht-und-schatten
5. https://belletristica.com/de/books/16849-sixty-minutes/chapter/87864-heimatlos