Es war das, was man das Zweite Gesicht nannte und Ramon besaß es. Seine Großmutter Esmeralda nannte es auch den Fluch der Zigeuner, denn, so sagte sie, es bringt einem im Grunde kein Glück, um das zukünftige Schicksal eines Menschen zu wissen. Sicher, man kann damit etwas Geld verdienen. Selbst in der heutigen Zeit, wo die Menschen weniger abergläubisch sind und die Kunst des Wahrsagens eher als eine Jahrmarktsgaukelei verstehen, denn als eine Gabe, die ihrem Volk geschenkt ist. Zurückblickend, hatte es viel Leid gebracht, denn die Menschen waren undankbar für Warnungen ebenso wie für Verheißungen und das eine wie das andere konnte einen in Verruf, hinter Gitter oder gar auf den Scheiterhaufen bringen. Kein Wunder also, dass ihr Enkelsohn nun ihren Rat suchte.
„Was haben sie dir getan?“, fragte sie und schaute ihm in die Augen, die genauso tief und in dunklem Smaragdgrün schimmerten, wie die ihren.
„Es geht vielmehr um das, was sie noch tun werden“, antwortete er und sah, wie sich ihre Pupillen weiteten.
„Bist du sicher?“
„Natürlich bin ich das. Habe ich mich jemals geirrt?“
Die alte Frau schüttelte kaum merklich den Kopf. Nein. Ramon konnte mit unglaublicher Genauigkeit in die Zukunft sehen, seit er den Übergang vom Kind zum Mann durchlitten hatte. Mit tiefer Stimme, Wachstumsschüben und dem ersten dunklen Flaum auf jugendlichen Wangen, kamen auch die Alpträume. Seiner Mutter, welche die Gabe nicht besaß, hatte ihn damals in die Obhut der Großmutter gegeben, weil Esmeralda wusste, was zu tun war. Seither war sie seine engste Vertraute.
„Es muss aussehen wie ein Unfall“, dachte sie laut.
Ramon nickte. Das war ihm natürlich bewusst. Er wollte nicht riskieren, dass die Polizei Verdacht schöpfte. Im Grunde war dies das Schwierigste daran. Seine Visionen kamen beinahe in jeder Nacht und mit solcher Präzision, dass er unmöglich alles von dem verhindern konnte, was sie ihm prophezeiten. Für ihn war das der Teil des Fluchs, der ihm die größten Sorgen bereitete. Er musste wählen und oftmals schnell planen. Manchmal genügte es, wenn er an einer Straßenkreuzung einen Warnruf ausstieß, sodass eine Frau mit Kinderwagen noch rechtzeitig den Wagen sah, der sie sonst überfahren hätte. Ein anderes Mal musste er nur ein Fahrrad stehlen, damit ein Junge damit nicht zu Schaden kam.
Dieses Mal war mehr notwendig. Wieder einmal würde er das Motorrad seines Großvaters brauchen, mit dem dieser auf Jahrmärkten über Traktoren gesprungen war. Wie der Teufel selbst zu fahren, das hatte der Enkel von dem alten Zigeuner gelernt und wenn er schon nicht damit auftrat, so hatte es doch seinen Zweck.
Esmeralda händigte dem jungen Mann also die Schlüssel der Triumph Trophy aus, die sie stets als Erinnerung an ihren geliebten Mann bei sich trug.
„Sei vorsichtig“, gab sie Ramon mit auf den Weg.
Ihr Enkel lächelte dankbar. „Aber ja. Du kennst mich. Ich und die Maschine kommen wohlbehalten zurück.“
Sie nickte.
Nachdem er gegangen war, trat sie zum Fenster und schaute ihm hinterher, als er auf dem Motorrad verschwand. Und da sah sie es, wie er in einer waghalsigen Aktion über eine Landstraße brausen würde, sein Überholmanöver, welches das Auto hinter ihm ins Schleudern brachte, sodass es von der Straße abkam und sich auf einem Feld überschlug. Kurz bevor der betrunkene Fahrer es frontal in einen anderen Wagen lenken würde. Einen, in dem eine Frau mit ihren zwei Kindern fuhr, denen so nichts geschah.