Es hieß im Ort, das alte Fräulein Herbst sei eine Hexe. Die Gründe dafür lagen laut den Erwachsenen völlig klar auf der Hand. Erstens: Sie war nicht verheiratet und war es auch nie gewesen. Die Mutter von Fynn-Ole war dreimal verheiratet und jetzt nicht mehr, aber das ist etwas anderes. Zweitens: Die Katzen! Wenn man in ihren Garten schaute, und eines der Bretter in ihrem Zaun war lose und man konnte es zu Seite schieben, dann liefen da mindestens zwei schwarze Katzen herum, eine rote und eine dreifarbige. Ganz sicher wimmelte es im Haus nur so von Katzen. Und Drittens: Sie konnte die Zukunft voraussagen. Sie soll zum Beispiel gesagt haben, dass aus dem Sohn des Ortsvorstehers, der im Schulbus immer die Mädchen einschüchterte, Schnecken in ihre Ranzen packte und später am Montag Morgen immer bekifft einstieg, nie was Rechtes wird. Damit hatte sie ihn genau genommen verflucht, sagten die Leute, sonst wäre Marlon-Elvis sicher nicht in der Jugendstrafanstalt. Und dann die Haare, die das alte Fräulein Herbst lang den Rücken herunter trug, obwohl sie längst schneeweiß waren und alle anderen Damen im Ort die gleiche kurze Dauerwelle trugen! Es war sowas von eindeutig.
Max, Fynn-Ole und der dicke Bertie hatten sich nun an diesem Nachmittag zusammengefunden und wollten sich eigentlich um des Dicken Y-Box versammeln, durchzocken bis zum Abend, aber daraus wurde nichts. Bertie hatte am Mittag statt Hausaufgaben zu machen, heimlich das Ding benutzt und seine Cola versehentlich drauf geschüttet.
"So ein Mist! Du bist echt voll der Loser," fand Max.
"Voll, Mann", stimmte Fynn-Ole zu.
Bertie kam sich auch voll doof vor. Wenn ihm jetzt nicht was Saucooles einfiele, dann wäre er geliefert. Das würden ihm seine Kumpels so schnell nicht verzeihen. Und so war er es, der die Idee aufwarf. "Ey, voll egal, ihr Spastis. Lasst uns lieber rüber zu der Hexe gehen und bei der Herbst sturmklingeln!" Er setzte ein Grinsen auf, als wäre das die top Idee des Tages.
"Schwachsinn, Alter!", versuchte Max zu protestieren. Das klang ihm zu sehr nach dem, was sein Vater immer mit draußen spielen meinte, was angeblich so gesund war.
Fyn-Ole sah das anders. Er zog den Rotz in seiner ständig laufenden Nase hoch und bekam ein begeistertes Leuchten in den Augen. "Krass! Ja, lass' machen. Bestimmt ruft die die Bullen und wenn die dann kommen und es ist keiner da, nur sie und die Viecher, dann nehmen die die Alte bestimmt mit!"
Bertie gluckste laut über den Zuspruch und auch Max fand jetzt, es könnte ein Mordsspaß werden. Also warfen sie sich in ihre coolen Hoodies, packten ihre Handys ein, ohne die sie keine Minute verbrachten, und machten sich auf den Weg, quer über die Straße und ein Stück den Gehweg entlang, bis zu dem Zaun von Fräulein Herbst.
Dort führte ein keiner Weg durch ein Gartentor bis zur Tür. Neben der Tür war ein kleines Fenster, durch das die Hexe sie sehen könnte, wenn sie denn da wäre und sich die Mühe machte, ständig zu schauen, ob da nicht eine Bande Sechstklässler zum Sturmklingeln käme.
"Du gehst vor", blaffte Max und stupste Bertie an der Schulter.
"Wieso ich?"
"Deine Idee, du Spast!", setzte Fynn-Ole hinzu. Besser, die Hexe erwischte den Dicken, als ihn selbst. "Du hast das mit der Y-Box ja verkackt!"
Bertie seufzte. Seine Kumpels hatten da einen Punkt. Also öffnete er jetzt vorsichtig das Tor. Es quietschte natürlich, was die Jungs für einen Moment erstarren ließ. Irgendwo im Garten fauchte eine Katze. Oder war das schon die Hexe?
Als gefühlt zehntausend Sekunden nichts passierte, wagten sie sich weiter über den Weg heran. Sie duckten sich, wie in diesen Ego-Shooter Games, einfach schon, weil das viel cooler war. Dann hockten sie sich nebeneinander unter dem Fensterbrett an die Hauswand. Fynn-Ole zog erleichtert seinen Rotz hoch. Das war geschafft!
Sie schauten von einem zum anderen, dann war es wieder Max, der zuerst sprach. "Okay, ihr Spastis. Auf drei steh ich auf, dann drücke ich die Klingel und ihr schreit ganz laut."
"Was sollen wir denn schreien?", wollte Bertie wissen.
"Irgendwas. Lasst euch was einfallen!"
Fynn-Ole blinzelte nur nervös. Es wurde ernst.
Max zählte jetzt: "Eins … zwei … drei!"
Er schoss in die Höhe, langte nach der Klingel und drückte den Knopf. Sofort ertönte ein blechernes Glockengebimmel im Haus. Bertie und Fynn-Ole begannen zu schreien. "Hexe! Doofe Kuh! Blöde Alte! …"
In dem Moment bewegte sich die Gardine an dem Fenster.
Mit einem Mal wirbelte Max herum. "Lauft!", schrie er.
"Hilfe!", brüllte der Dicke.
"Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaagh!", krächzte Fynn-Ole.
Dann rannten sie so schnell sie konnten zurück zum Tor. Max knallte voll dagegen, denn es öffnete nach innen. Berti und Fynn-Ole rannten in ihn hinein. Panisch rappelten sie sich wieder auf.
"Sie kommt!", schrie Bertie.
"Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaagh!"
"Rennt, ihr Spastis!"
Das Fräulein Herbst trat inzwischen ganz ruhig aus ihrer Tür und besah sich den Vorgarten. Ein paar Blätter waren auf den Weg geweht und eine ihrer Katzen schaute um die Ecke.
"Na, Minka? Ist jemand hier gewesen?"
Die Katze schaute erst, kam dann und schmiegte sich schnurrend an die Beine der Frau.
"Seltsam, ich dachte, es hätte geläutet..."
Dann nahm sie die Katze auf den Arm und ging zurück ins Haus.
Max, Bertie und Fynn-Ole würden den Tag nie vergessen, als sie wie todesmutige Ninja-Krieger bei Fräulein Herbst sturmgeklingelt hatten.