>>> Triggerwarnung vor historischer Homophobie :(
Lord Henry Wutton-Cheshire stand mit versteinerter Miene, die ihm all seine Willenskraft abverlangte, vor dem Hochaltar, als das Spiel der Orgel einsetzte. Nur mit Mühe konnte er vermeiden zusammenzuzucken, als ihm die Melodie des Brautchors aus Wagners „Lohengrin“ die Realität dieser Zeremonie vor Augen führte. Es geschah wirklich, es war kein Alptraum. Die Blumen in der Kirche, die Menschen, die Kerzen überall, das war echt. Sein Vater, der Duke saß vorn auf dem Ehrenplatz der Familie, den das Wappen der Wutton-Cheshires zierte. Er hatte sein offizielles, überhebliches Lächeln im Gesicht. Der Platz daneben blieb frei, denn Henrys Mutter durfte diesen Tag nicht mehr erleben. Zu viele Gedanken kamen dem Sohn gleichzeitig und flüchtig in den Sinn. Ob es auch ihr Wille gewesen wäre, dass er nun die Tochter irgendeines anderen Dukes heiratete? Hatte sie selbst jemals eine Wahl gehabt? Oder sein Vater, der Duke? Heiratete überhaupt ein Mann eine Frau aus Liebe und Zuneigung? Vielleicht die einfacheren Leute, die gewöhnlichen Menschen, vielleicht war es ihnen vergönnt? Er versuchte, sich auf die Musik zu konzentrieren, um solche müßigen Überlegungen zu verdrängen. Nichts konnte die Endgültigkeit dieser Zeremonie und Henrys Schicksal jetzt noch aufhalten.
Die Tür am anderen Ende des Kirchenschiffs wurde aufgetan und die adlige Braut, geführt von ihrem Vater kam feierlich den Mittelgang entlang. Henry wusste, dass auch sie unter ihrem Schleier keinesfalls lächelte, wie es eine junge Frau an ihrem Hochzeitstag sollte. Warum auch? Welche Chance auf Zufriedenheit gab es schon in einer Ehe mit jemandem wie ihm? Oder wusste sie es nicht? War es ihr am Ende gleich? Glaubte sie an diese Art von Verpflichtung, ihrer Familie zu Ehren einen zukünftigen Duke zu heiraten und die Dynastie der Wutton-Cheshires fortleben zu lassen? Zu viele Fragen.
Henry versuchte nun, sich zu sammeln. Er stand hier und er hatte keine Wahl. Tat er es nicht, dann würde sein Vater dafür sorgen, dass sein Liebster im Zuchthaus landete. Es hieß, nur die wenigsten kehrten von dort zurück und ein junger Mann, der wegen Sodomie einsaß, hatte gewiss kaum eine Chance. Es gab nur diese Möglichkeit, ihn zu retten. Dies hier, diese Farce. Danach würde man seinen Liebsten einfach aufgrund höherer Anordnung gehen lassen, mit einem Überfahrtsticket für das nächste Schiff, das ihn nach Amerika brachte. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wie es so schön hieß. Henry konnte bei diesem Gedanken nicht verhindern, dass ihm ein tiefer Seufzer entwich. Unbegrenzte Möglichkeiten. Sein Liebster und er, sie bekämen nicht einmal die Gelegenheit zum Abschied. Er musste schwören, den jungen Mann niemals wieder zu sehen.
Die Musik endete nun und der Vater der Braut übergab ihre Hand in Henrys Hand. Der junge Lord konnte nicht lächeln, er nahm diese Geste nur hin wie er alles in diesem Moment hinnahm. Es war jetzt so weit, dass sich das Paar vor den Priester am Altar hinknien musste, wie es der Brauch war. Höchst passend, dachte Henry, dass auch auf den Kissen, die man ihnen dafür hinlegte, das Familienwappen prangte. Der Priester erhob die Arme in ritueller Weise und begann mit der Trauung. Henry war nicht in der Lage zu hören oder gar zu verstehen, was der alte Mann predigte. Was half sein Segen, wenn es doch für den jungen Lord nur Fluch bedeutete. Und wieder führten Henrys Gedanken ihn vollkommen vom Geschehen fort. Wie eigenartig, dachte er. Ich bin nicht traurig. Ich fühle gar nichts.