Die Stadt lag in düster-grauem Dämmerlicht und der Nebel stieg zur Nacht bereits unaufhaltsam, feucht und kühl vom Kanal herauf. Es war die Sorte Abend, wo man keinen Hund mehr vor die Tür jagte und alle Katzen noch grauer als grau aussahen. Nur ein einzelner Mensch war unterwegs, ein junger Mann in abgerissener Jeans und rattigem Kapuzenshirt und beide ließen mehr Kälte an ihn heran, als sie von ihm abhielten. Er sollte nicht unterwegs sein, aber er hatte keine Wahl.
Zielsicher näherte er sich der alten Kirche, die seit dem letzten Herbststurm mit ihrem durchlässigen Dach und dem maroden Glockenturm von Einsturz bedroht und deswegen abgesperrt war, aber das kümmerte ihn nicht. Er wusste, an welcher Stelle man unter dem Bauzaun durchkriechen konnte, um ungesehen auf den Hof und die der Straße abgewandte Seite des alten Gemäuers zu gelangen. Der Boden war feucht und seine Arme und Beine wurden noch kälter, als er tief durch das Loch kroch. Zitternd ging er weiter und erreichte so die mit Moos und Flechten bewachsene Treppe, die zum Südportal führte. Dort, in einer Mauernische, konnte der junge Mann eine dunkle Gestalt ausmachen, so als habe sich einer der unheimlichen Gargoyles heruntergeschwungen, um ihm aufzulauern. Ihr Gesicht wurde kurz erhellt, als sie sich mit einem Feuerzeug eine Zigarette anzündete. Die kleine Gasflamme ließ rotes Licht durch die Finger der vorgehaltenen Hand dringen. Dieser Geste verdankte der Mann seinen Spitznamen, wenn denn ein so harmloses Wort es traf. Man kannte ihn als die Rote Hand und sie war es, die denen, die zu ihm kamen Trost und Erleichterung verschaffte. Er nahm mit ihr und er gab mit ihr. So lief das.
Der junge Mann schob seine Kapuze etwas zurück, damit der Dunkle ihn erkennen konnte.
"Du bist es", sagte er nur und es war, als wäre seine Stimme aus Stein.
"Ja", gab der junge Mann zu. Was sollte er auch sonst sagen.
"Hast du etwas für mich?"
In der Nische war es unmöglich, das Gesicht der Roten Hand zu sehen, aber es war klar, was er damit meinte.
Der junge Mann hielt ihm ein paar zerknitterte Geldscheine hin und spürte, wie die Augen des Dunklen ihn musterten. Dann steckte der in aller Ruhe das Geld ein und überreichte dafür im Tausch ein kleines, silbern glänzendes Päckchen, kleiner noch als ein Kaugummistreifen, aber nicht so harmlos.
"Hier nimm, dein Elixir!", verkündete die steinerne Stimme der Roten Hand.
Der junge Mann zögerte für den winzigen Bruchteil eines Wimpernschlags, dann griff er zu.
Am nächsten Morgen würde man ihn finden. Nass, zusammengekauert und bereits kalt auf einer der schmutzigen Treppen, die hinunter zum Kanal führten. Im Arm noch die Spritze.