Sonnenfinsternis! Jetzt starre ich auf dieses Wort und weiß nicht so recht, was ich damit anfangen soll. Natürlich könnte ich eine Geschichte über eine Apokalypse schreiben, aber das habe ich neulich erst getan. Ich könnte eine Geschichte über Aberglauben schreiben, wie irgendeine alte oder fremde Kultur ein Menschenopfer darbringt, nur damit die Sonne wieder scheint. Ich könnte die Sonnenfinsternis als Metapher verwenden, um von irgendeiner Beziehungskiste zu schreiben, beispielsweise. Und bei all dem frage ich mich gerade, ob ihr liebe Leser*innen schon einmal eine Sonnenfinsternis erlebt hat. Ich habe das tatsächlich und vielleicht ist es eine gute Idee euch davon zu erzählen.
Wir waren damals eine ganze Studententruppe von sechs, die die gesamten Ferien über zusammen herumgereist ist. Zuerst haben wir eine Freundin abgeholt, die ein Auslandsjahr im fernen Osten verbracht hat. Für diejenigen von euch, die nicht wissen wo das ist, das gehört zu Russland und ist noch hinter Sibirien. Und weil das Mädel ihre Taschen nicht allein tragen wollte, hat sie uns eingeladen, sie in Chabarowsk zu besuchen und abzuholen. Wir hielten das für eine tolle Idee, vor allem, weil sie uns erklärte, dass diese Stadt direkt am Amur lag und China praktisch gleich auf der anderen Seite war. Wir würden also nicht nur eine Reise in Russlands fernen und wilden Osten machen, sondern auch nach China.
Im Nachhinein glaube ich übrigens, dass uns unsere damalige Naivität wirklich beschützt hat. Nicht so sehr in Russland, das Schlimmste, was uns in Russland hätte passieren können, war wohl, dass uns am Ufer des Amurs bei einem spontanen mitternächtlichen Picknick mit Einheimischen der Blitz hätte treffen können, denn wir hatten zu viel getrunken und nicht gemerkt, dass ein Gewitter aufzog. In China waren unsere Reisepläne so chaotisch, dass uns die Partei irgendwann ein Schatten an die Fersen geheftet hat, um zu beobachten, was die Langnasen im Land so treiben. Es sei kurz erwähnt, dass wir Mädels uns im Wudang Shan Gebirge herumtrieben, weil wir natürlich die Terrakotta Armee sehen wollten und ich diese Fernsehserie erkannte über Kung-Fu Kane.
Während wir also mit dem Zug, gefolgt vom Schatten der Partei, uns in den Bergen herumtrieben, hatten sich die Jungs längst in einer Jugendherberge in Shanghai eingenistet, wo die tagelang nichts Besseres zu tun hatten, als mit Dosenbier vor der Klimaanlage zu hocken. Wie dem auch sei, wir Mädels kamen mit ganz wunderbaren Eindrücken aus dem Gebirge zurück und hatten überhaupt gar keine Lust auf Großstadt. Shanghai war im Nachhinein einfach nur ätzend. Einmal haben wir versucht, über die Straße zu kommen, ohne eine Unterführung zu benutzen. Das hat fast eine Stunde gedauert. Immerhin, als wir Mädels da waren, mussten die Jungs auch etwas mit uns unternehmen und so sind wir auf das damals höchste Gebäude der Welt gelangt. Zwei von den Jungs wurde spontan schlecht. Einem bereits im Fahrstuhl (einer dieser supermodernen, superschnellen, ruckelfreien Fahrzüge, die einen mit über 100 Sachen wie eine Flipperkugel nach oben schießen), den anderen hatte es oben auf dem Glasfußboden erwischt. Ich habe vergessen wie wir heile mit denen wieder runtergekommen sind.
Aber was ich eigentlich erzählen wollte: die Sonnenfinsternis. Das war im Jahre 2009, als man wegen Schweinegrippe im Flugzeug kontrolliert wurde und Michael Jackson gerade gestorben war. Am Tage unseres Rückflugs von Shanghai sollte diese totale Sonnenfinsternis stattfinden. Wir waren gerade auf dem Bahnhof für diesen Superschnellzug, der einen zum Flughafen bringt, als es losging. Eine kleine runde Scheibe schob sich vor die Sonne, die man im Smog der Großstadt natürlich nur grau am Himmel sah. Im Zug selbst konnten wir sie nicht sehen und waren auch sehr damit beschäftigt, auf die Digitalanzeige zu schauen, die das Tempo des Zuges anzeigte. Wirklich spannend wurde es dann, als wir in Null Komma Nix am Flughafen angelangt waren. Meine beste Freundin wollte unbedingt draußen eine rauchen, also gingen wir vor die Tür und mit einem Mal hörten die Vögel auf zu zwitschern. Ich kann es nicht anders beschreiben. Vogelgezwitscher ist etwas, dass man im Großstadtlärm kaum wahrnimmt, aber die Abwesenheit von Vogelgezwitscher war mit einem Mal unheimlich. Die Autos fuhren noch weiter, die Chinesen, ein ziemlich lautes Volk, zeterten weiter, aber die Vögel schienen fort. Wir schauten also zum Himmel, wo das Restlicht inzwischen tatsächlich verschwand und sich der Mond komplett zwischen uns und die Sonne geschoben hatte. Es wurde innerhalb von zwei oder drei Minuten komplett dunkel. Und für jemanden wie mich, den die Sommerhitze in China wirklich gequält hatte, wurde es angenehm kühl. Jetzt hielten auch Autos an. Beinah war es, als würde der gesamte Trubel am Flughafen komplett einfrieren und ich weiß noch, dass ich diesen Moment sehr friedlich fand. Und ich fand mich selbst innerhalb dieser kosmischen Zusammenhänge winzig klein. Mir fiel ein, dass ich einmal mit der Freundin, die jetzt auch in China bei mir war, auf dem Balkon ihres Elternhauses gestanden habe, als es eine partielle Sonnenfinsternis in Deutschland gab. Wir waren noch Teenager und gingen in die gleiche Klasse. Wir hatten uns Folien besorgt und Gläser geschwärzt, damit wir in die Sonne schauen konnten, ohne dass sie uns blendet. Dies war hier in China nicht nötig, wegen des Smogs, den ich schon erwähnte. Außerdem fragte ich mich, wie viele von diesen Ereignissen ich wohl noch erleben würde. Eigentlich eine seltsame Frage. Der Sonne wäre es jedenfalls völlig egal. Wir standen also staunend und stumm und mit dem Blick nach oben gerichtet neben unserem Chaos- Gepäck und ich glaube, dass auch den Anderen ähnliche Gedanken durch den Kopf gespukt sind wie mir. Irgendwann viel später hat mir meine beste Freundin mal erzählt, dass sogar ihr damaliger Freund, der ihr natürlich auch in China ständig das Ohr abgenagt hat (ihr wisst schon: mansplaining), in dem Moment still war.
Ich müsste jetzt im Internet googeln, um genau zu sagen, ob diese Finsternis sechs oder neun Minuten gedauert hat, aber das ist ja auch egal. Als es dann wieder hell wurde, begannen auch die Vögel wieder zu singen, der Verkehr floss weiter und die Chinesen begannen wieder zu zetern. Und einer anderen Freundin fiel ein, dass sie unbedingt noch drei Seitenbettdecken für sich und ihre Eltern am Flughafen kaufen wollte. Also machten wir uns auf, um zumindest so zu tun, als ob auch wir daran glaubten, dass man am Flughafen noch Bettdecken kaufen könnte. Im Nachhinein halte ich es für wahrscheinlicher, dass wir dort noch einen getrockneten Tiger-Penis bekommen hätten, wenn wir das gewollt hätten.
Warum habe ich das jetzt aufgeschrieben? Vielleicht, weil es Momente im Leben gibt, die wirklich in Erinnerung bleiben. Dafür kann es ganz schreckliche Gründe geben: Ich weiß noch genau, als Prinzessin Diana den tödlichen Unfall in Paris hatte, habe ich gerade gebügelt, als die Flugzeuge in die Türme in New York flogen, war ich gerade auf dem Weg zu einer Gesangsstunde. Ein guter Freund von mir kann sich noch genau erinnern, was er getan hat, als die Schüsse auf John Lennon fielen. Diese Sonnenfinsternis aber, war für mich ein besonderes Erlebnis der positiven Art. Sie war überhaupt nicht beängstigend, wie das eine Sonnenfinsternis in früheren Zeiten für die Menschen vielleicht gewesen ist. Sie hat die Welt für einen Moment angehalten, vielleicht war es das.