Der Henker ließ seinen Blick über die Köpfe der Schaulustigen schweifen, die sich im Innenhof des Towers versammelt hatten und den Weg zum Schafott säumten. Nichts unterschied diese Hinrichtung von all den anderen, die er bereits vollstreckt hatte und das waren nicht eben wenige, angesichts der unruhigen Zeiten. Nichts deutete darauf hin, was sich sogleich ereignen würde.
Er war sich dessen bewusst, dass man einen Guillaume Thénardier, den besten Scharfrichter Frankreichs nicht ohne Grund herbeiorderte, um auf englischem Boden eine Enthauptung durchzuführen. Wer auch immer es war, dessen letzte Minuten auf Erden angebrochen waren, es musste eine hochgestellte Person sein. Nur dieses adlige Pack konnte es sich leisten, die Überfahrt des Ärmelkanals und die Unkosten zu bezahlen, anstatt mit einem ordinären Henker Vorlieb zu nehmen.
Guillaume schaute gebannt auf das Tor in der hohen Mauer, welches sich nun öffnete und einen ersten Blick auf die Soldaten, die den Verurteilten herbrachten und einen Pfaffen freigab. Dann kam der Todgeweihte selbst. Es war ein junger Mann, so jung, dass der Henker seine Augen zusammenkniff, um besser zu schauen, weil er es auf den ersten Blick nicht fassen konnte. Der Jüngling war von hoher und jugendlich schlanker Gestalt und nichts an der Art wie er den Kopf hielt oder wie er jetzt auf das Blutgerüst zuging, zeugte von Angst oder Verzweiflung. Er schien vollkommen ruhig und gefasst. Ein plötzlicher Wind fuhr durch sein schwarzes Haar und ließ das weiße Büßergewand, das man ihm angezogen hatte, flattern. Er jedoch schritt voran, während der Henker und die Menge nur starrten.
Dann, mit einem Mal, war es, als bräche der Damm des Schweigens, jemand in der Menge johlte auf und sogleich wurden mehr wütende und spottende Stimmen laut. Guillaume verstand nicht genug Englisch, um zu wissen, was sie riefen, aber ihr Zorn und ihre Verachtung waren nur allzu offenkundig. Die Gaffer und Schreihälse begannen mit Abfall und Unrat zu werfen, die nun das Büßerhemd des jungen Mannes besudelten, aber auf seltsame Weise weder sein Gesicht noch sein Haar befleckten, als wäre es die Schönheit seines Antlitzes selbst, die ihn beschützte.
Als er das hölzerne Schafott erreicht hatte, stieg er ohne Zögern die Stiege hinauf und sah sich nicht ein einziges Mal um. Stattdessen richtete er den Blick auf Guillaume, der mit geschärfter und polierter Axt bereitstand, sein blutiges Handwerk auszuführen. Der Henker hielt den Atem an, als der Jüngling direkt zu ihm trat und ihm in die Augen sah.
"Ihr seid der mit Namen Thénardier, den man aus Frankreich kommen ließ", stellte er in nahezu perfektem Französisch fest. Guillaume erwiderte den Blick aus blauen Augen und nickte.
"Ja, junger Herr, das bin ich. Ihr werdet keinen Schmerz spüren. Es geht schnell und lautlos."
Der Jüngling nickte.
Im selben Moment griffen zwei der Soldaten nach ihm und wollten ihn auf die Knie werfen, wie es wohl die englische Unsitte war. Aber ein Aufstampfen mit dem langen Griff der Axt ließ sie zusammenfahren. Sie nahmen ihre schmutzigen Pfoten erschrocken von dem jungen Mann. Der warf Guillaume ein dankbares Lächeln zu.
"Danke, Monsieur, ich werde das selbst tun, wenn Ihr mir die Hände löst."
Der Henker wusste, was er zu tun hatte, er nickte, dann nahm er ein Messer aus seinem Gürtel, um die Fesseln des Jünglings zu durchtrennen. Seine Hände, hinter dem Rücken, ließen Guillaume erschauern. Wer hatte es gewagt, diesen engelsgleichen jungen Mann zu foltern? So behutsam, wie er es vermochte, durchschnitt er die Bande. Der Jüngling zuckte. Dann, ohne Eile, wandte er sich der Menge zu und mit seinen befreiten Händen, zog er sich das Büßergewand über den Kopf und warf es fort.
Die Umstehenden und Guillaume erblickten voller Staunen das gleißende, scharlachrote Hemd, das der Verurteilte unter dem besudelten Fetzen trug. Ein Raunen ging durch den Hof und dem Henker war klar, was man sich nun zuflüsterte. Scharlachrot. Das war die Farbe der Märtyrer, die Farbe des Gewandes Christi, als er am Kreuz starb.
Guillaume fasste sich wieder.
"Wollt Ihr eine Augenbinde?"
Der Jüngling verneinte stumm und blickte seinem Henker beherzt entgegen.
"Wollt Ihr noch etwas sagen? Ein Gebet sprechen?"
Wieder fuhr der Wind durch das rabenschwarze Haar, als der Todgeweihte verneinte. "Es ist alles gesagt. Zu den Menschen und auch zu Gott. Ich habe keine Worte und keine Tränen mehr. Tut Euer Werk. Ich vergebe Euch."
Mit diesen letzten Worten schritt er über das Stroh, bis zu dem massigen Block, auf dem er sein zartes Leben lassen musste. Dort kniete er sich hin, legte das Haupt in die Mulde, dann streckte er die Arme weit vom Körper weg, so als wären sie Flügel und würden ihn gleich davon tragen.
Guillaume zögerte nicht länger. Er trat hinzu, bekreuzigte sich, dann fasste er seine Axt so fest er konnte, hob sie hoch über dem Kopf in die Luft und ließ sie niederfallen. Das war alles. Kein Laut. Kein Schmerz. Nur das dumpfe Geräusch, als der Kopf fiel.
Nie wieder würde Guillaume Thénardier, der beste Henker ganz Frankreichs, auch nur ein weiteres Leben nehmen. Die Axt steckte noch in dem Block, als er durch die schweigende Menge den Platz verließ.