Fotografien waren überhaupt nicht sein Fachgebiet. Toms Fachgebiet waren Klaviere oder besser, die Restauration alter Tasteninstrumente. Die gab es haufenweise in alten Häusern, in alten Gaststätten oder in irgend einem Keller, auf irgend einem Dachboden. Wenn Tom also in der Zeitung las, dass so ein nutzlos gewordenes Möbelstück günstig zu erwerben war, dann genügte normalerweise ein Anruf und anschließend machte er sich mit seinem Jeep samt Anhänger auf, um das Schätzchen abzuholen. Er hatte Freude daran, die Klänge eines solchen Instruments wieder zum Leben zu erwecken. Gerade diese alten Instrumente hatten für ihn einen besonderen Charme, der nicht vergleichbar war mit modernen, geistlosen, fabrikgefertigten Massenprodukten aus China oder Japan. Er stellte sich vor, dass diese Klaviere eine Geschichte hatten oder Zeugen von Geschichte geworden waren. Sie hatten etwas Uriges, etwas Geheimnisvolles, etwas Melancholisches, etwas Besonderes eben.
Aber dieses Mal war etwas anders. Als er das Klavier öffnete, um die Mechanik darin genauer unter die Lupe zu nehmen, fiel etwas zwischen den gespannten Saiten heraus. Da er das Schätzchen aus einem alten Dorfgasthof geholt hatte, glaubte er zunächst, es seien alte Bierdeckel oder Spielkarten, aber tatsächlich waren es zwei verblichene Fotografien in schwarz-weiß. Neugierig hob er sie auf und schaute sie an. Sie waren wirklich schon sehr verblichen, hatten einen deutlichen Gelbstich und eins davon sah aus, als hätte ein Mäuschen dran geknabbert. Das Motiv darauf weckte sein besonderes Interesse, denn es zeigte zwei junge Männer, die offenbar sehr vertraut miteinander waren. Auf dem einen Foto, das eindeutig im Studio eines Fotografen gemacht worden war, standen sie steif in Uniform und militärischer Pose. Tom drehte das Foto um und fand auf der Rückseite ein Datum: 1914. Also waren da zwei Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, wie interessant! Nun ja, dachte er, dann sind die beiden sicher schon tot, wenn sie denn den Krieg überhaupt überlebt hatten. Das zweite Foto zeigte die beiden an einem Strand, was für die damalige Zeit sicher sehr ungewöhnlich war. Sie trugen diese seltsamen Schwimmanzüge, mit denen auch Männer damals ins Wasser gingen und der eine hatte den anderen Huckepack. Sie hatten eindeutig Spaß und lachten. Tom drehte auch dieses Foto herum und die Zahl auf der Rückseite lautete 1919. Er musste lächeln, denn dieses Datum verriet, dass die beiden überlebt hatten. Vielleicht war das der Grund, warum sie auf dem Foto so fröhlich waren. Und mit einem Mal kam es Tom so vor, als müsste er etwas unternehmen. Er hatte diese Fotos in dem Klavier gefunden, aber ganz sicher hatten sie eine eigene Vergangenheit und dann war es doch nicht in Ordnung, wenn er sie einfach so behielt oder sogar wegwerfen würde.
Er beschloss also, noch einmal zu dem alten Dorfgasthof zu fahren und dort zu fragen, ob jemand die Männer auf dem Foto kannte oder wüsste, wen man bitten könnte, sich die Fotografien genauer anzuschauen. Vielleicht gab es Nachkommen der beiden Männer, die sich darüber freuen würden, diese Erinnerungsstücke zurückzuerhalten.
Auf der Autofahrt fragte er sich erneut, ob die Fotografien vielleicht sogar eine Geschichte erzählen würden. Vielleicht zeigten sie zwei Brüder, aber eine Familienähnlichkeit war Tom bei den beiden nicht aufgefallen. Dann waren es vielleicht Schulfreunde aus der gleichen Klasse, die gemeinsam in den Krieg zogen und daraus zurückgekehrt waren. Oder, und dies war vermutlich der brisanteste Gedanke, es handelte sich sogar um ein Paar. Warum nicht, dachte Tom. In der damaligen Zeit war das mit Sicherheit nicht unproblematisch, aber das hieß nicht, dass es von vornherein auszuschließen wäre.
Als er den Gasthof erreichte, hatte er Glück und die Wirtsleute zeigten selbst auch großes Interesse an den verblichenen Fotografien. Die Frau kam nicht aus dem Ort, aber der Ehemann war dort aufgewachsen und konnte Tom eine ältere Dame nennen, die schon immer in dem Ort gelebt hatte und die sich möglicherweise an zwei so schneidige Soldaten erinnern würde. Sie war etwas über 80 Jahre alt, aber wenn die beiden Männer im Dorf gelebt hatten, dann würde sie sie vielleicht erkennen.
Tom fuhr also zum Forsthaus, wo die alte Dame mit Namen Emma Blümel mit ihrer Familie lebte. Er parkte den Jeep und klingelte. Die Frau, die ihm die Tür öffnete, war Emmas Schwiegertochter. Tom erklärte ihr, weswegen er gekommen war und auch sie fand die Fotografien höchst interessant und bat Tom herein, damit er sich mit ihrer Schwiegermutter unterhalten konnte. Und so saßen sie schließlich am Kaffeetisch, wo es Kaffee und Kekse gab. Emmas Augen waren nicht mehr die besten, also sucht ihre Schwiegertochter eine Lupe her, mit der die alte Dame die Fotos begutachtete.
„Und die haben sie in einem Klavier gefunden?“, fragte Emma.
„Ja. Ich restauriere alte Instrumente und die beiden Fotos sind herausgefallen.“
„Das ist ja höchst interessant.“
„Kennen Sie die beiden oder einen von ihnen?“ Tom wollte nicht drängeln, aber er hielt es vor Neugier kaum noch aus.
Emma ging mit der Lupe noch dichter heran und schaute erst das eine, dann das andere Foto noch einmal intensiv an. Dann bemerkte Tom, dass die alte Dame lächelte.
„Und?“
„Ja, ich glaube der eine hier ist der Rudi Müller. Als ich ein kleines Mädchen war, hatte der einen Bäckerladen im Ort. Der war Soldat im Krieg gewesen. Und dann ist das andere hier sein Freund, der Michael.“
„Haben Sie eine Ahnung ob es da noch Familie gibt?“
„Nein, ich glaube nicht. Von den beiden war keiner verheiratet. Aber der Michael hat immer Klavier gespielt. Vielleicht hat ihm das Instrument gehört, bevor es in der Dorfkneipe gelandet ist.“
Tom lächelte die alte Dame an. „Danke sehr. Wissen Sie sonst noch irgendetwas über die beiden?“
Sie überlegte. „Nein, nichts weiter. Aber zu uns Kindern waren die immer sehr nett. Manchmal bin ich mit meiner Schwester zum Einkaufen gegangen und in dem Bäckerladen vom Rudi gab es immer einen Keks oder ein Bonbon für Kinder. Schön, dass sie mit diesen Fotografien gekommen sind. Das hatte ich glatt vergessen. Und an Weihnachten, da spielte der Michael am Klavier in der Kirche, wenn Krippenspiel war. Er konnte das wirklich gut. Wie schön, dass sie das alte Instrument jetzt restaurieren.“
„Ja, das ist wirklich sehr schön. Und ich danke Ihnen für diese wunderbare Geschichte.“
Die alte Dame lächelte.
>>> Weil es gerade so schön passt möchte ich diese kleine Geschichte dem einzigen Instrumenten-Restaurator widmen, von dem ich weiß: Chrissy, die ist für dich :)