Blutsbande
Die Überempfindlichkeit seiner Sinne war über alle Maßen berauschend und ließ ihn eine Lebendigkeit spüren, die er sonst nur von den Streifzügen kannte, auf denen er sich mit den Frauen der Menschensippen vergnügt hatte. Jedes einzelne Mal war auf seine Art einzigartig gewesen und wie oft er sich dieser Lust hingegeben hatte, ließ sich an der Zahl seiner Kinder nachzählen. Die ekstatischen Bilder dieser Nächte blitzten vor seinem inneren Auge auf, als er der rauen Wind in seinem Fell fühlte, die feuchte, kalte Erde unter seinen starken Pfoten erzitterte , die Geräusche des Waldes in seinen Ohren widerhallten. Längst folgte er der Witterung des Zwillingspaares, zu denen er ganz besondere Blutsbande hegte. Der Knabe würde ihm eines Tages, wenn er zum Manne geworden war, einen Dienst erweisen, den er, der Gott selbst nicht wagen durfte. Aber noch war es nicht so weit. Noch war es seine Aufgabe, seinen Sohn den notwendigen Kampfesgeist und den unabdingbaren Mut zu lehren, die er brauchen würde, wenn er sich dereinst dem Drachen stellte.
Als er den Ort erreichte, wo sich die Mutter mit ihren Kindern in einer Höhle barg, sah er einen schwachen Feuerschein und der Anblick erfüllte ihn mit Stolz. Er hatte ihnen beigebracht, wie man dieses Element beherrschte und es hatte sie stets beschützt. Sogleich stieß er das laute Heulen aus, das dem Knaben verkündete, wenn sein Vater in Wolfsgestalt zu ihm kam. Kaum war das Echo in den Tiefen des Waldes verhallt, da sah er den Jungen zwischen den Felsen hervortreten. Er war gewachsen, seit sie zuletzt gemeinsam durch die Nacht gestrichen waren und er kam ohne Zögern auf ihn zu. So wie er die Gegenwart seines Sohnes mit jeder Faser, jedem Sinn seines Körpers wahrnahm, so wusste auch der Knabe, wo und wann ihn sein Vater erwartete. Ein zweites Mal ließ er seinen wilden Ruf ertönen und es kam Antwort. Die Stimme des Menschenkindes erklang und wurde zu einem kaum weniger markerschütternden Heulen. Es fiel auf die Knie, wand sich im Schatten der Felsen, keuchte, lautes Krachen der Knochen und gepresster Atem wurden vernehmlich, dann machte es einen Satz und stand still im fahlen Licht des Mondes.
Er selbst trat nun auf den jungen Wolf zu und schaute ihm in die Augen, die den seinen in der Jugend, als er noch beide besaß, absolut gleich waren. Er leckte ihn als Willkommensgruß mit der Zunge an Ohren und Hals. Der junge Wolf genoss dies und rieb den Kopf an seiner Schulter. Sodann warfen sie einen Blick zu der Höhle, wie zum Gruß und noch bevor einer von ihnen den nächsten Atemzug tat, verschwanden sie auf ihrem Streifzug durch die Nacht.