Weihnachtsmarkt, erleuchtete Buden, Glühwein, Lebkuchen, Strohsterne und bunte Lichterketten. Das alles sollte wieder für ein Jahr vorbei sein. Elli hatte schon vor Stunden damit angefangen, ihren kleinen Stand aufzuräumen. Am letzten Tag des Weihnachtsmarktes kamen sowieso nur noch Cookies vorbei, also Leute, die nur gucken wollten. Der letzte Kunde, der tatsächlich etwas gekauft hatte, war der Ehemann am frühen Nachmittag, der plötzlich gehetzt auf der Theke lehnte, das Angebot der Blaudruckerin mit einem eiligen Blick überflog und dann nur sagte:
„Ich brauche irgendwas für meine Frau, die mag Braun.“
Inzwischen gab es nichts mehr, was Elli noch erschüttern konnte. Wie jedes Jahr hatten auch wieder Betrunkene versucht, in eines ihrer hölzernen Blaudruckmodel zu beißen, denn immerhin hatten die entfernte Ähnlichkeit mit verbrannten, unförmigen Printen. Und natürlich hatte sie geduldig ausgeharrt, während Ehemänner ihren Frauen erklärten, dass das Kartoffeldruck sei und so eine Kartoffel könnten sie der Gattin problemlos schnitzen. Jetzt war das alles vorbei, sie machte die Läden dicht, drehte die Gasflasche zu und schaltete das Licht in der Bude aus.
Als sie hinten aus ihrer Weihnachtsmarkthütte heraustrat und die Tür abschloss, fiel ihr plötzlich siedendheiß ein, dass ja wirklich Weihnachten war. Wenn sie also jetzt nach Hause fuhr, dann warteten da ihre Katzen, ihr Göttergatte und der kleine Sohn. Ungefähr in dieser Reihenfolge. Sie schaute sich um, ob noch irgendeine Bude offen war, wo man vielleicht ein paar Fritten auftreiben könnte. Aber der Frittenmann war auch schon zu. Sie schaute auf ihr Handy, denn sie könnte ja ihren Mann fragen, ob der an Heiligabend irgend einen besonderen Wunsch hätte. Sie könnte doch beim Chinamann anhalten. Andererseits, wenn schon Weihnachten war, dann sollte es vielleicht eine Überraschung sein.
Sie schüttelte etwas Schnee aus ihren Ballerinas, setzte ihre Mütze auf, mummelte sich in ihren Schal ein und schulterte die Handtasche mit den Einnahmen. Da fiel ihr Blick auf einen Laternenpfahl, an dem die Stadtsoldaten, die den Weihnachtsmarkt geschmückt hatten, schon vor Wochen einen Tannenbaum angedrahtet hatten. Ach ja, dachte sie, zu Weihnachten gehört ja ein geschmückter Baum! Im letzten Jahr war ihr Mann so geistesgegenwärtig und hatte einen Baum besorgt, damit der Kleine was zu gucken hatte. Als sie den dann alle gemeinsam an Heiligabend schmückten, fiel ihrem Sohn plötzlich auf, dass der Baum im Wohnzimmer keine Wurzeln hatte. Da fing er bitterlich an zu weinen, denn irgendjemand hatte diesen Baum getötet. Und das nur, damit er ein paar Tage im Wohnzimmer stand, wo die Katzen ihn malträtieren würden. Was also konnte Elli tun? Sie schaute noch einmal auf den längst gefällten Baum an seinem Marterpfahl und da kam ihr die Idee. Der war ja auch schon fertig geschmückt! Und sowieso schon tot. Sie würde einfach den mitnehmen, wie sich das für eine gute Mutter gehört.
Inzwischen hatte dichtes Schneetreiben eingesetzt und so war der Platz wie leergefegt. Niemand würde sie sehen und niemand würde den Baum vermissen. Den Stadtsoldaten war es sicher recht, wenn sie einen Baum weniger entsorgen mussten. Elli pirschte sich also an das Ziel ihrer Begierde heran, kramte aus ihrer Handtasche ein Multitool hervor, ohne dass eine anständige Verkäuferin in keiner Weihnachtsmarkthütte bestehen könnte, klappte eine kleine Zange auf und knipste den Draht in Windeseile durch. Sie schaute noch einmal über ihre Schulter, in jede Richtung, ob die Luft rein war und sie war es. Also ging es los.
Ihr kleiner roter Mini Stand nicht weit vom Markt in einer Parkverbotszone, die aber immerhin das Halten zuließ und Elli war es gewohnt, lieber die Strafzettel zu zahlen, als unnötige Umwege zu laufen. Sie schlörte den befreiten Baum also hinter sich her über den Bürgersteig, scherte sich nicht darum, was der noch alles einsammelte und erreichte so ihren Wagen. Er war wirklich klein, fiel ihr jetzt auf. Also nicht der Baum, aber der Mini. Es blieb daher nichts anderes übrig, als das Schiebedach aufzumachen. Gesagt, getan. Jetzt musste sie nur noch den Baum hineinbekommen. Sie schaute sich hilfesuchend um und tatsächlich torkelte da noch ein Betrunkener umher, der womöglich den Anschluss an seine Gruppe verpasst hatte. Elli winkte ihn heran, lächelte adrett und versuchte nicht wie eine Weihnachtsbaumdiebin auszusehen.
„Entschuldigung, Sie! Könnten Sie mir bitte helfen? Ich krieg den Baum alleine nicht durch das Dach.“
Der Mann war irgendwie noch in der Lage zu erkennen, woher die Rufe kamen, so bewegte er sich auf Elli zu, stoppte mit einem kleinen Schlenker und bekam direkt den Baum in die Hand gedrückt.
„Hier halt den mal. Ich gehe rein, und wenn ich drin bin, schiebst du den Baum von oben durch und ich zieh ihn von unten.“
Der Mann nickte nur und sah zu, wie Elli die Beifahrertür und das Dach öffnete.
„Kann losgehen!“, flötete sie aus dem Innern des kleinen roten Mini.
Gleich darauf hievte der Mann den Baum durch das Dach, die Blaudruckerin zog von unten mit aller Kraft. Tannennadeln rieselten auf sie herab, die Dekoration am Baum klingte und klonkte, aber das Werk war vollbracht.
„Dankeschön!“, rief sie dem Mann zu.
Der nuschelte irgendetwas Unverständliches, das wie „frohe Weihnachten“ klang. Dann setzte er seinen Weg durch den Schnee fort.
Elli stieg jetzt aus der einen Tür hinaus und zur Fahrertür des Wagens hinein, damit sie sich hinter das Lenkrad setzen konnte. Es war ganz schön eng. Sie musste ein paar der Äste nach hinten hinter den Sitz klemmen, was noch mehr Nadeln rieseln ließ. Na ja, wenigstens, dachte sie, wird mein Sohn sehen, dass der Baum schon tot ist. Er wurde nicht extra nur für diesen einen Abend gefällt. Der Gedanke gefiel ihr richtig gut. So startete sie ihren kleinen roten Flitzer, der vorn an der Windschutzscheibe noch das Parkticket stecken hatte, und fuhr fröhlich nach Hause. Sie war so glücklich über ihre festlich geschmückte, nadelnde Beute, dass sie glatt vergaß, beim Chinamann anzuhalten.