Es wird euch vielleicht überraschen, aber Kastanien sind für mich ungefähr so etwas Besonderes wie die drei Nüsse für Aschenputtel. Ihr kennt das Märchen, oder? Jetzt denkt ihr vielleicht, dass ich spinne, aber ich will euch gern erzählen, wie es dazu kam.
In jenem Herbst arbeitete ich für das London Eye, vorn an der Kasse. Das war schon der vierte oder fünfte Job, den ich damals machte, um mein Studium zu finanzieren. Ich war sogar mal eine Zeit lang Karussellbremser unten an der Southbank und irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass dort mein Schicksal auf mich wartet. Es bleibt einem auch nicht viel anderes übrig, um sich die Wochenenden zu romantisieren. Wenn andere am Freitag- oder Samstagabend in die Clubs und Gay Bars der Stadt loszogen, dann hatte ich irgendwelche Jobs. Also war es nicht weiter verwunderlich, dass ich noch immer Single war. Ich redete mir ein, dass es mir nicht so viel ausmachte, aber das sollte sich schlagartig ändern, als ich ihm begegnete.
Er war plötzlich einfach da. Nachts um halb eins. Erst bemerkte ich nur den Duft von gerösteten Kastanien, als ich die Stufen zur Waterloo Bridge hochkam. Den ganzen Tag hatte ich noch nicht recht was gegessen und eine Tüte zum Knabbern war jetzt genau das Richtige. Also kramte ich nach meinem Portemonnaie und stellte mich hinter einen älteren Mann, der auch schon an dem Maroni-Stand wartete. Der nahm gleich eine doppelte Portion, die absolut köstlich roch. Wer auch immer da den Ofen bediente, verstand was vom Kastanien-Rösten. Und dann, als ich dran war, verschlug es mir regelrecht den Atem: Unter einem völlig unscheinbaren schwarzen Hoodie, steckte der absolut heißeste Maroni-Mann, den ihr euch nur vorstellen könnt. Nicht nur, dass er mich aus rehbraunen Augen, umrahmt von lächerlich langen Wimpern anschaute, nein, unter der Kapuze steckte auch ein üppiger Schopf kastanienbrauner Locken.
„Willst du welche?“, war alles, was er sagte und seine tiefe, warme Stimme ließ mich direkt schauern.
Ich konnte nur nicken und hoffen, dass er mich wieder anschauen würde, sobald er eine Papiertüte für mich gefüllt hatte.
„Ich krieg dann fünf-fuffzig von dir.“
Fünf-fuffzig! Der Preis kam mir direkt vor, als hätte er ein Pfund draufgeschlagen, weil ich ihn angestarrt hatte. Aber das war London und ganz sicher konnte er hier das Doppelte für seine Kastanien verlangen. Ich jedenfalls gab ihm sechs, murmelte was von „der Rest ist für dich“ und trollte mich mit meiner Beute zwei Laternenmasten weiter. Dort musste ich erstmal Luft holen. Es war keine Halluzination. Der Typ und sein Maroni-Stand waren noch da und er verkaufte weiter.
Wo war er nur hergekommen? Vom Himmel gefallen? Bei dem Gedanken kam ich mir absolut lächerlich vor und machte mich endlich auf den Weg zur U-Bahn.
Die ganze Zeit bis zum nächsten Abend konnte ich an nichts anderes denken als an ihn, und erst recht, während ich meine Tickets für das Rad verkaufte. Hoffentlich wäre er wieder noch so spät auf der Brücke. Ob ich seine Aufmerksamkeit auf mich ziehen könnte, wenn ich eine doppelte Portion nahm? Elf Pfund für Kastanien hielt ich für eine gute Investition in eine zukünftige Romanze. Vielleicht könnte ich wenigstens einen Hinweis erhalten, ob er denn auch auf Männer stand? Vielleicht holte ich mir dabei auch einen Kinnhaken. Ich fühlte mich zu fast allem bereit, während ich mir ausmalte, dass seine Küsse ganz sicher nach Maroni schmeckten und gewiss so heiß wären wie sein Ofen.
Kurz nach Mitternacht lief ich praktisch die Stufen hinauf, denn der Geruch, der oben von der Brücke kam, war unmissverständlich. Dieses Mal stand niemand vor mir und ich fühlte mich noch etwas atemlos, als ich mich vor ihn stellte. Er sah mich an und mir wankte der Boden.
„Eine doppelt heiße Portion für mich, bitte!“
„Was? Willst du sagen, die sind nicht heiß genug?“
Ich wollte auf der Stelle versinken, warum rutschte mir so ein Mist heraus?
„Nein! Oh, nein. Die sind perfekt. Alles perfekt. Du bist perfekt, ich meine deine … Maroni.“
„Also willst du welche?“
„Ja, die doppelte Portion.“
„Sag das doch gleich.“
Er schien es nicht eilig zu haben, holte eine frische Ladung aus dem Ofen und füllte mir das Tütchen. Ich nutzte die Gelegenheit, auf seine Hände zu achten. Sie passten zu ihm, fand ich. Bestimmt konnte er damit zupacken, aber sie waren nicht ungepflegt und er trug keinen Ring.
„Hier, das macht zwölf Pfund.“
„Zwölf?!“
„Das Doppelte von gestern“, sagte er dreist und zwinkerte mir zu.
Während ich kurz überlegte, ob ich mir das jetzt einbildete, drückte er mir die Tüte in die Hand und ich hätte schwören können, dass sich dabei unsere Finger berührten. Einen weiteren Moment fürchtete ich, ohnmächtig zu werden, was nicht geschah. Dann maulte plötzlich jemand hinter mir.
„Was ist? Willst du da Wurzeln schlagen?“
Das wollte ich nicht. Das heißt, ich wollte schon, aber konnte nicht. Also umfasste ich meine knisternde Tüte köstlichen Inhalts und wandte mich zum Gehen.
„Dann bis morgen!“, hörte ich ihn noch rufen.
Das war, was immer es war. Eine Chance?
„Ja, bis morgen!“, warf ich zurück.
Hilfe! Schoss mir in den Sinn. Ich war verknallt in den Kastanien-Fuzzi von der Waterloo Bridge. Es gab kein Zurück. Am nächsten Abend wollte ich alles geben. Eine dreifache Portion würde ihm ganz sicher seine Telefonnummer entlocken.
Warum ich auf die bescheuerte Idee kam, meine Schwester am nächsten Morgen anzurufen, bleibt mir ein Rätsel. Natürlich hatte ich mir Hilfe erhofft. Seelischen Beistand oder zumindest einen guten Tipp, aber das war klare Fehlanzeige.
„Was weißt du über ihn?“
„Er verkauft Maroni auf der Waterloo Bridge.“
„Hat er dafür eine Lizenz?“
„Was? Wieso? Ist das wichtig? Ich möchte mit ihm ausgehen, ihn kennenlernen. Ob sein Geschäft legal ist, ist mir dabei eigentlich egal.“
„Du weißt also rein gar nichts. Er könnte ein Obdachloser sein, der den Maroni-Stand geklaut hat!“
„Du spinnst doch. Genauso gut kann er ein Bruder von James Bond sein und der Ofen ist die neuste Erfindung von Q.“
„Wenn du meinen Rat nicht willst und mich veräppelst, dann ruf gefälligst nicht an!“
Damit hatte sie aufgehängt. Und ich blieb mit dem Gefühl zurück, dumm zu sein, weil ich den heißen, rothaarigen Straßenverkäufer noch nicht für einen Dieb gehalten hatte.
In der Uni konnte ich mich nicht konzentrieren und wartete nur darauf, dass es Abend wurde, damit ich zur Southbank kam. Am Ticketschalter zählte ich die Minuten bis Mitternacht, wenn ich ihn wiedersehen würde. Einen Plan hatte ich allerdings immer noch nicht. Mir blieb also nichts anderes übrig, als mein letztes Geld für Kastanien auszugeben und zu improvisieren.
Als ich endlich zur Brücke eilte, kam mir abermals der Duft gerösteter Maroni schon von weitem entgegengeweht und ich fragte mich allen Ernstes, ob er eine aphrodisierende Wirkung auf mich hatte, oder ob ich mir das nur einbildete. Sowieso war ich wieder völlig außer Atem, als ich zu dem Stand kam, wo dieses Mal ein Paar und noch eine ältere Lady vor mir dran waren. Erst dachte ich, das verschafft mir Zeit, mich zu beruhigen, doch der Anblick meines Schwarms ohne seine gewohnte Kapuze, trieb meinen Puls direkt in die Höhe. Der Wind musste sie ihm vom Kopf gerissen haben und spielte nun mit seinen rotbraunen Locken. Es war zu befürchten, dass ich keinen einzigen Ton rauszukriegen würde, doch zum Glück übernahm er den Anfang.
„Sieh an, du schon wieder. Wie viele?“
„Viele!“
Es war einfach nur peinlich und ich dachte gerade, dass er mir womöglich einen Spruch geben würde, doch stattdessen nahm er betont langsam eine seiner Papiertüten auf, öffnete sie mit der vollen Portionierschaufel und begann damit, die Maroni praktisch einzeln hineinfallen zu lassen.
„Eins, zwei, drei, du sagst, was du eigentlich willst oder wann es genug ist, okay? Vier, fünf …“
Oh, Himmel, seine Stimme!
„Ich …“
„Ja? Sechs …“
„Ich heiße Aidan …“
„Sieben, freut mich, ich bin Rufus. Acht …“
„Schöner Name …“
„Wie?“
„Du bist bei neun. Ich sagte …“
„Ich hab gehört, was du gesagt hast. Neun, zehn …“
„Okay, okay. Du machst es mir nicht leicht!“
„Wenn du es gern leicht hättest, elf, hättest du auf dem Schild gelesen, was die Portionen kosten und nicht meine überzogenen Fantasiepreise bezahlt. Zwölf …“
Er deutete mit dem Blick auf eine Tafel, die an dem Stand hing. Einfache Portion: 2.50£. Doppelte Portion: 4.50£. Es war klar zu lesen.
„Du bist echt ein Aas, Rufus.“
„Und du bist, dreizehn, süß, Aidan. Vierzehn …“
Süß? Er hatte wirklich süß gesagt! Das bedeutete, dass ich keinen Kinnhaken bekäme, wenn ich ihn jetzt fragte, ob er …
„Fünfzehn …“
… sich mit mir verabreden wollte …
„Sechzehn …“
… und mir seine Telefonnummer geben würde …
„Achtzehn …“
Ich nahm also all meinen Mut zusammen, schaute ihm direkt in seine kastanienbraunen Augen und plapperte los.
„Du … Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, aber darum geht’s auch nicht. Es geht darum: Ich mag dich und wünsche mir, dich kennenlernen und wenn du mir eine dreifache Portion Maroni und deine Telefonnummer gibst, dann rufe ich dich an. Dann machen wir morgen Nacht eine Runde in dem Riesenrad, wo ich arbeite. Was sagst du?“
Er hatte aufgehört zu zählen und ließ nun den Rest der duftenden Kastanien von der Schaufel in die Tüte rutschen. Alle auf einmal. Dann hielt er sie mir hin und lächelte das absolut schönste Lächeln, was ich je gesehen hatte. Wie in Trance griff ich nach den Maroni, da hielt er meine Hand fest. Ein Kribbelkrabbeln durchfuhr mich und schon hatte er einen Kuli gezückt, mit dem er auf meinen Handrücken schrieb. Eine Londoner Nummer. Und ein Herz daneben.
„Die schenk ich dir“, sagte er noch mit einem Augenzwinkern und meinte meine dreifache Portion.
„Danke! Dann … sehen wir uns morgen.“
„Ruf an und sag wann.“
„Das werde ich.“
„Ich freu mich.“
„Und ich erst.“
„Bis dann.“
„Oh, Mann!“
Ich weiß nicht mehr, wie ich danach zur U-Bahn und nachhause gekommen bin. Aber eines weiß ich ganz sicher: Kastanien bringen Glück wie im Märchen.