Es gibt Dinge, die sollten besser nicht angerührt werden. Nicht ohne Grund sind sie verborgen, versteckt oder vergessen. Werden sie dennoch gefunden, hervorgeholt oder wiederentdeckt, kann dies böse Folgen haben. Aber das wisst ihr sicherlich genauso gut wie ich. Doch was wären die spannendsten Geschichten und Märchen ohne ein Verbot oder ein geheimnisvolles Ding? In dem Moment, wo eine Warnung ausgesprochen wird, wissen wir schon, dass sie nichts nützt. Dornröschen wird sich an der Spindel stechen, Elsa wird die Frage nach der Herkunft des Schwanenritters stellen und Orpheus wird sich nach der geliebten Eurydike umdrehen.
Doch was nutzt es, wenn es denn sowieso geschieht?
Peter war im Stadtwald unterwegs und dachte sich nichts dabei. Seine Mutter, die stets schlechte Laune hatte, weil das wenige Geld, das sie vom Amt zum Leben bekam, nicht reichte, hatte ihn mit dem Hund praktisch hinausgeworfen. Er solle erst wiederkommen, hatte sie gebrüllt, wenn er etwas Nützliches getan hätte. Der Jugendliche kannte das schon und zuckte nicht mal mehr mit den Schultern. Weil sie ihm keine Jacke und auch nicht die Hundeleine hinterhergeworfen hatte, zog er eben so mit Rocky los. Der alte Schäferhund würde ohnehin nicht von seiner Seite weichen, denn er verdankte Peter sein Leben, seit der ihn vor einigen Jahren auf der Straße gefunden hatte, wo irgendein Autofahrer den Hund erwischt und liegengelassen hatte. Gegen die Kälte rieb sich Peter immer wieder über die Arme, die in einem abgetragenen, verwaschenen Sweater steckten.
Rocky schien das alles nichts auszumachen, denn er lief immer wieder vor zu einer Baumgruppe oder um eine Biegung, kläffte, um seinem Herrchen zu sagen, dass er sich beeilen solle und freute sich, wenn der ihn endlich einholte. Peter wunderte sich über dieses Verhalten, doch vielleicht, so dachte er, wusste das Tier, wie es ihn von seinem Elend ablenken konnte, denn schon bald fand Peter so etwas wie Freude an dem Spiel. Die Luft an diesem Dezembertag war feucht und kalt, doch trotzdem wurde dem Jugendlichen warm und auch sein Herz schlug schneller und leichter.
Dann plötzlich änderte sich das Bellen des Hundes. Es klang lauter und beinahe flehentlich, sodass Peter schon glaubte, Rocky sei womöglich in eine weggeworfene Junkie-Spritze getreten oder habe sich an Scherben verletzt. Er beschleunigte seine Schritte und fand den Hund, der an einem Stück des Waldes angelangt war, wo es einen kleineren Erdrutsch gegeben hatte. Die Kälte und Nässe der letzten Tage hatten ein Stück der Böschung herunterkommen lassen und dort, wo die Erde frisch auf dem alten Waldboden lag, buddelte Rocky aufgeregt mit den Pfoten, als sei da etwas, auf das er es abgesehen hatte. Und tatsächlich. Als der Jugendliche die Stelle erreichte, sah er etwas aufblitzen, als wenn ein Sonnenstrahl auf etwas Blankem reflektierte. Wie seltsam nur, denn es war keine Sonne da.
Sogleich erfasste ihn auch die Neugier und wie der Hund ging er auf alle Viere und grub mit und holte endlich einen alten Spiegel hervor, der, so schien es, auf wundersame Weise kaum Spuren von seinem Verbleib tief im Erdboden aufwies. Er war nicht zerbrochen und auch sein Rahmen war weder rostig noch verbeult. Peter nahm die Ärmel seines Sweaters, um die Spiegelfläche, ein Oval von etwa 40 cm im Durchmesser abzuputzen, und staunte nicht schlecht, denn es zeigte ein Bild von ihm selbst und Rocky hinter sich, doch nicht so wie man es erwarten sollte. Weder sah der Hund so schmuddelig, zerzaust und alt aus, wie er war, noch erblickte sich Peter als der abgemagerte, graugesichtige Jugendliche, der er war. Beide sahen sie viel sauberer aus, wohlgenährter und beinahe so, als gäbe es einen farbigen und fröhlichen Zwilling für sie beide. Erst glaubte der Junge, er bilde es sich ein, doch in den dunklen Augen von Rocky lag das gleiche Erstaunen.
So beschloss Peter, den Spiegel mitzunehmen nach Hause. Bestimmt würde seine Mutter ihn für nützlich erachten. Wenn er richtig gesäubert war, musste er vielleicht sogar wertvoll sein. Vielleicht war der Rahmen aus Silber und wenn nicht, dann zeigte sich der Mutter vielleicht auch so ein schönes Bild und sie bekäme bessere Laune. Mit dem Spiegel unter dem Arm, der erstaunlich leicht zu tragen war, lief Peter so mit seinem Hund zurück durch den Wald und zu dem schäbigen Hochhaus, in dem er mit seiner Mutter wohnte. Da der Fahrstuhl wie immer nicht funktionierte, nahmen der Junge und der Hund die Treppe und da das fröhliche Kläffen im Flur sie schon verraten hatte, öffnete die Mutter die Wohnungstür noch bevor Peter klingelte.
„Was willst du schon hier? Hast du was Nützliches gemacht?“, zischte sie und Peter kam der für sie typische Geruch von billigem Schnaps und kaltem Rauch entgegen.
„Ja, Mum“, beteuerte er und konnte es kaum erwarten, ihr sein Fundstück zu zeigen. „Lass mich schon rein, wir haben etwas mitgebracht.“
Die Frau zuckte etwas missmutig mit den Achseln und ging von der Tür, sodass ihr Sohn und sein Hund hereinkommen konnten.
„Was ist es denn?“, verlangte sie zu wissen.
Peter trug den Spiegel noch immer unter dem Arm und holte ihn nun hervor.
„Hier schau, es ist ein alter Spiegel, aber ich glaube, er ist etwas Besonderes“, sagte er und hielt ihn seiner Mutter hin.
Als diese sich dem Oval zuwandte, erstarrte sie und riss ihre Augen in Entsetzen auf.
„Was ist das? Wer ist dieses Monster da? Hilfe! Nimm es weg!“
Peter verstand nicht. Er drehte den Spiegel herum und erblickte nur sich selbst.
„Hier ist nichts, es ist nur ein Spiegel!“, rief er und hielt ihn ihr erneut hin.
Ihre Zweite Reaktion war noch heftiger als zuvor. Sie schrie auf, taumelte vor Schreck zurück, fasste sich ans Herz und fiel nach hinten um.
Peter war geschockt. Wie konnte so etwas geschehen? Er ließ den Spiegel fallen, sah nach seiner Mutter und beschloss, schnellstens einen Notarzt zu rufen. Er hastete zum Telefon, wählte die 110, doch so wie Rocky inzwischen neben der Frau saß und sie stupste, schien sie bereits leblos. Innerhalb nur weniger Augenblicke. Was auch immer der Spiegel ihr als ihr Bild gezeigt hatte, es war tödlich gewesen.
Peter und Rocky jedoch blieben noch lange zusammen. Die Pflegefamilie, bei der der Jugendliche aufgenommen wurde, hatte schon einen eigenen Sohn in gleichem Alter und auch einen Hund, einen Golden Retriever. Gleich im ersten Jahr fuhren alle gemeinsam in den Urlaub. Für Peter war es das erste Mal. Und als er sich dort, in Italien, zufällig in einem Hotelspiegel sah, da erkannte er den hübschen, gesunden Jungen, den ihm der Spiegel aus dem Wald gezeigt hatte.