Zuerst war es nur ein dummes Gefühl, nicht mehr. Nur eine Ahnung, dass irgendetwas anders war als sonst, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. Corbin versuchte dennoch vollkommen normal weiterzugehen. Ganz sicher bildete er sich dieses Gefühl nur ein. Da war niemand hinter ihm. Allein die Tatsache, dass es schon sehr spät in der Nacht war und in dieser leeren Straße, etwas abseits des touristischen Zentrums von Edinburgh, die Laternen in größeren Abständen standen und sich keine hellerleuchteten Schaufenster aneinanderreihten, ließen die Häuser und das Pflaster unfreundlich, beinahe unheimlich erscheinen. Möglich auch, dass der junge Mann sich das nach ein paar eigentlich harmlosen Drinks in der Bar vorhin, nur einbildete. Trotzdem fröstelte es ihn und er zog den Reißverschluss an seiner Lederjacke zu. Als er seine Schritte dabei verlangsamte, kam es ihm plötzlich so vor, als höre er das Echo anderer Schritte hinter sich. Um sicher zu gehen, blieb er kurz stehen. Ja: Da waren Schritte. Von zwei oder drei Leuten, die sich ihm näherten.
Corbin hasste es, dass ihn dieses eigentlich harmlose Geräusch so beunruhigte. Für einen Moment schimpfte er sich selbst paranoid und versuchte, den Drang sich umzudrehen, zu unterdrücken, doch sein ungutes Gefühl war stärker. Was, wenn es Typen waren, die ihn wegen seines Portemonnaies oder des Handys ausrauben wollten? Nun, die würden sich wahrscheinlich leiser verhalten. Diese drei, die er nun kommen sah, redeten lauthals irgendetwas. Sie klangen aufgeregt. Vielleicht waren es Betrunkene, die, so wie er, aus einem Club oder einem Pub gekommen waren. Wohl war dem jungen Mann bei dem Gedanken nicht. Er verfluchte sich nun dafür, dass er vorhin wegen des Flirts mit einem der Musiker den letzten Bus hatte fahren lassen. Sonst wäre er hier und jetzt nicht zu Fuß unterwegs. An einer der größeren Straßen könnte er auch jetzt noch ein Taxi anhalten, aber hier, in der Seitenstraße, gab es keines. Shit.
Er beschleunigte seine Schritte, in der Hoffnung, etwas Abstand zwischen sich und die drei Kerle zu bekommen, doch so viel Glück hatte er nicht. Auch sie zogen ihr Tempo an. Corbin kam die Idee, er könne die 999 anrufen, doch würde das die Typen aufhalten? Was wollten die überhaupt? Noch einmal legte er einen Zahn zu, wobei er fieberhaft zu überlegen begann, ob er hier in der Gegend eine Abkürzung kannte oder eine Querverbindung zu einer größeren Straße, wo sicher noch Leute unterwegs waren, aber das war Fehlanzeige. Er konnte nur laufen. Hinter ihm hörte er die Männer inzwischen laut krakeelen. Was erst noch diffuser Lärm und unverständliche Rufe waren, wurde immer deutlicher. Ein Glas oder eine Flasche ging zu Bruch oder wurde geworfen. „Bleib stehen, du verfickte Schwuchtel! Wir kriegen dich!“
Corbin spürte das Adrenalin in seine Adern strömen und hörte, wie sein Atem auf Touren kam. Das war doch alles nicht wahr, oder? Er wusste natürlich, dass es so was gab. Schlägertypen, die loszogen, um Schwule „aufzuklatschen“. Aber hier? Passierte das gerade wirklich ihm? Fuck!
Er begann zu laufen, so schnell er konnte. Hinter ihm die Meute wurde immer lauter und wilder. Ihre Rufe hallten durch die Häuserschlucht. Widerlichste, angsteinflößende Beschimpfungen, dazwischen immer wieder Gegröle und Jauchzer als Ausdruck der Jagdfreude seiner Angreifer. Corbin rannte und rannte, das Blut dröhnte in seinem Kopf, machte es ihm unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen, die Luft in seinen Lungen brannte und noch immer kamen die Schläger heran. Warum? Wie?
Als er eine offene Toreinfahrt zu einem Innenhof erkannte, bog er schnell hinein. Vielleicht fand er eine Möglichkeit, sich zu verstecken oder dort wohnten Leute, die ihm zu Hilfe kommen würden. Als erstes knallte er mit der Hüfte voll gegen einen Müllcontainer, den er im Lauf im Dunkeln übersehen hatte. Damit war die Chance dahin, dass seine Verfolger vielleicht nicht mitbekommen hätten, wie er seinen Haken hier hinein schlug. Er ächzte. Irgendwo ging ein Licht an. Das war gut!
Jetzt bogen auch die Typen in den Hof ein und Corbin erkannte, dass einer von ihnen ein langes Brecheisen dabeihatte. Denen war es wirklich ernst! Todesangst stieg in ihm auf. Er hätte keine Chance, sich zu wehren. Nicht gegen drei, nicht gegen eine schwere Stange aus Eisen. Da sah er eine Hintertür. Hechtete darauf zu und polterte dagegen. „Aufmachen! Schnell! Bitte!“
Nichts. Eine nächste Tür. Auch hier rammte er die Fäuste dagegen. „Fuck! Hilfe. Aufmachen!“
Wie konnte er so dumm sein und sich selbst in so eine Sackgasse bringen? Was nun? Panisch drehte er sich um, da kamen die Kerle auch schon auf ihn zu. Ihrer Sache sicher, hatten sie es plötzlich nicht mehr eilig und kamen nebeneinander näher, um ihn festzusetzen. In höchster Not drückte sich Corbin mit dem Rücken an die Tür, als diese sich unversehens öffnete. Er strauchelte, fiel zurück, hinein, runter auf den Boden, da wurde die Tür auch schon von innen mit einem Rums zugeschlagen. Corbin schrie vor Schreck auf, verstand nicht, was vor sich ging, da machte plötzlich jemand Licht!
„Na, das war aber Rettung in letzter Sekunde, Junge!“ Eine freundliche Stimme!
Ein älterer Herr stand an der Tür und schaute den jungen Mann an. Sie waren in so etwas wie einem Fahrradkeller. In Sicherheit. Draußen hörte man das Fluchen in das frustrierte Gejohle der Schlägertypen. Corbin wagte wieder zu atmen. Sein Retter hielt ihm eine Hand hin, um ihm aufzuhelfen.