Da es wieder so gut passt, geht die Geschichte von Lord Henry weiter ;) https://belletristica.com/de/books/16849-sixty-minutes/chapter/91754-ich-bin-nicht-traurig-ich-fuhle-gar-nichts
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Henry war sich ziemlich sicher, dass er sich verlaufen hatte. Die Straßen in diesem New York hatten keine Namen, wie die in London oder irgendeiner anderen Stadt, von der er wusste. Alles an dieser Neuen Welt, Amerika, war anders als er es kannte. Er drehte den Stadtplan und las noch einmal die Nummern auf den Schildern. Immerhin hatte er den richtigen Stadtbezirk gefunden. Er war in Hell’s Kitchen.
Es war nicht besonders schwer gewesen, herauszufinden, wohin es die die irischen Einwanderer verschlagen würde. Gleich nach seiner Ankunft im Hafen hatte er sich auf die nächste Fähre nach Ellis Island begeben. Dort mussten sich alle Einwanderer aus Europa einer Untersuchung unterziehen und gegebenenfalls für einige Zeit in Quarantäne bleiben. Für jemanden wie ihn, der mit einem Luxusliner in der ersten Klasse reiste, war das natürlich nicht notwendig, aber Rory war ganz sicher dort gewesen. Und natürlich gab es Akten, in denen zu lesen war, wo er sich auf der Insel aufgehalten hatte und auch, wann er sie wieder verlassen hatte.
Für den jungen Lord war es wie ein kleines Wunder, nach beinahe drei Jahren, die vergangen waren, seit man sie gewaltsam voneinander getrennt hatte, etwas über seinen Liebsten zu erfahren. Er war mit einem Keuchhusten vom Schiff gekommen. Kein Wunder, denn zuvor hatte er in einem kalten, englischen Gefängnis gesessen. Aber der Husten war nicht hartnäckig gewesen und mit dreiundzwanzig Jahren war Rory bald gesund und durfte mit der Fähre übersetzen. Er hatte angegeben, dass er als Jagdwärter und als Gärtner gearbeitet hatte. Daher war Henry sicher, dass es sich um den selben, seinen Rory in der Akte handelte.
Die Häuser in diesem New York waren ebenfalls höher als die meisten, die Henry je gesehen hatte. Er hatte von den dem Ideenreichtum und der Ingenieurskunst der Amerikaner gehört, aber all das selbst zu sehen, war etwas Vollkommen anderes. Auf eine seltsame Weise, die er nicht recht verstand, gaben ihm die Architektur der Häuser und die geraden Straßenzüge in Richtung der Sonne am Horizont Hoffnung. Vielleicht, wenn auch nicht gleich, dürften er und sein Liebster hier ein Leben führen, wie andere Menschen auch. Vielleicht würde man sie in Ruhe lassen und irgendwann könnten sie aufhören, sich zu verstecken. Aber erst musste er Rory finden.
Als er endlich zu der Straßenecke kam, an der sich das Pub befand, nach dem er suchte, brauchte er einen Augenblick, um sich zu sammeln. Er lehnte an einer der modernen Straßenlaternen und schaute quer über die Kreuzung herüber. „O’Malley’s Irish Pub“ stand dort geschrieben und ein Schild hing über dem Eingang, das eine irische Harfe zeigte und dazu nicht das typisch irische Kleeblatt, sondern eine weiße Rose. Henrys Herz begann höher zu schlagen, als er die Blume erkannte. Es war die aus dem Wappen seiner Familie. Sie wuchs überall am Rand der Wälder seines Vaters und in glücklichen Tagen waren Rory und Henry oft gemeinsam in den Wald gegangen, denn es gab sonst keinen Platz, wo sie zusammen sein konnten. Und jetzt hing dieses Zeichen ihrer Verbundenheit einfach so an einem Pub in New York. Für einen Moment kämpfte Henry gegen Tränen, denn dies konnte nur bedeuten, dass seine schlimmsten Ängste seit der Abfahrt der Oceanic aus Liverpool, sich nicht bewahrheiteten. Rory war nicht mit einem anderen Mann zusammen.
Als er dies erkannt hatte, lief er einfach schnurstracks über die Kreuzung. Männer in Kutschen fluchten, weil er ihnen beinahe vor die Räder geriet, Pferde scheuten, aber das kümmerte Henry nicht. Er hatte sein Ziel klar vor Augen und zögerte nur einmal kurz, bevor er die Flügeltür des Pubs öffnete. Drinnen waren keine Gäste zu sehen, dafür war es zu früh am Tag. Nur ein Mann, der mit dem Rücken zu Henry stand, war hinter dem Tresen zu sehen.
„Es ist noch geschlossen, Buddy. Komm in einer Stunde wieder“, rief der Mann über die Schulter, ohne sich groß umzudrehen. Henry aber blieb in der geöffneten Tür stehen und war sich der Aufmerksamkeit des Mannes hinter dem Tresen gewiss. Das war Rory, es gab keinen Zweifel. Und nun entschied er endlich, sich zu dem ungebetenen Gast am Eingang umzudrehen.
„Du verdammter irischer Bastard, ich hab dich endlich gefunden“, stieß Henry wie einen Seufzer der Erleichterung aus.
Rory zuckte zusammen, dann wandte er sich um und strahlte über das ganze Gesicht. „Himmel, Arsch und Zwirn! Was hat dich so lange aufgehalten?“
Im nächsten Augenblick machte er einen regelrechten Satz über den Tresen und lief Henry in die Arme.
… etwas quick, aber 19.00 Uhr ;)