Es war so gar nicht ihre Art, einen Sechstklässler so ruppig anzufahren, aber es musste sein. Jonas trug keine Maske.
„Was ist denn mit dir? Wo hast du deine Maske?“ Sie hatte sich direkt vor dem Bengel aufgebaut und sah streng von oben auf ihn herab.
Jonas wirkte zwar irritiert, weil er Frau Lassen so noch nicht erlebt hatte, aber nicht wirklich beunruhigt.
„Frau Müller hat gesagt, wie müssen die nicht aufsetzen“, begann er zu erklären, was er inzwischen als scheinbaren Regelverstoß erkannt hatte.
„Was Frau Müller sagt, ist Blödsinn! Die Schule hat euch und euren Eltern in einem Elternbrief erklärt, dass wir das mit den Masken und dem Abstand durchführen. Und da kann Frau Müller viel erzählen und du machst das, oder was?“
Jetzt wurde dem Schüler doch etwas mulmig. Das sah Frau Lassen ihm an der Nasenspitze an und auch an der Art, wie er nun zwischen seinen Turnschuhen und zwei von seinen Freunden im Gang hin und her schaute.
„Ich weiß nicht“, begann er zu drucksen. „Meine Maske hab ich vorhin Leila gegeben. Die hatte keine. Aber Leila hat sie auch nicht mehr. Ich glaube, Leon hat sie.“
In dem Moment, als die Lehrerin nun die Luft einzog, um ihrem Entsetzen Ausdruck zu verleihen, erkannte Jonas, dass es ernst wurde.
„Du hast deine Maske also weiterverliehen?“, schnaubte sie. „Deine Schutzmaske, mit deinem feuchten Atem?“
Jonas nickte stumm, was ihr nun wieder leidtat. Es war eben sonst nicht ihre Art. Sie atmete hinter ihrer Maske einmal tief ein und aus und redete weiter, dieses Mal in kontrolliertem Ton.
„Jetzt hör mir mal gut zu, Jonas. Was wir hier gerade machen, ist so was wie ein Probelauf. Verstehst du? Jetzt gerade ist die Zahl der Neuansteckungen zurückgegangen und es ist Sommer. Das wird wieder anders, wenn es im Herbst kälter wird und nass. Da ist es wichtig, dass wir bis dahin genug geübt haben und das alles Routine ist. Wir müssen uns dann aufeinander verlassen können.“
Sie sprach noch immer ernst, denn was sie eben erklärt hatte, war keine Kleinigkeit für sie. Als Jonas schließlich bedröppelt dreinschaute, war es dann aber genug.
„Okay, wir gehen ins Sekretariat und da rufen wir deine Eltern an. Die sollen dich abholen oder dir eine Maske bringen.“
Der Junge nickte still und so machten sich beide auf den Weg.
Sie hoffte wirklich, dass diese Maßnahme und ihre Erklärung bei Jonas zur Einsicht führen würde. Der Virus war kein Spaß und solche harmlosen Kindereien konnten schon bald böse Konsequenzen haben. Frau Lassen wusste, dass nicht nur sie, sondern auch alle Kollegen schon jetzt mit der Doppelbelastung durch Homeschooling und Präsenzunterricht völlig überarbeitet waren. Viele machten sich obendrein Sorgen um ihre eigene Gesundheit oder die von Angehörigen, die zur Risikogruppe gehörten. Das Ministerium würde die meisten von ihnen trotz der Anträge auf Homeschooling dennoch in den Schützengraben werfen. Schule musste ja weitergehen. Trotz Lehrermangel. Trotz mangelhafter Digitalisierung. Und dann sollten doch wenigsten diese Lappen im Gesicht und ein bisschen Rücksicht möglich sein!