Es war in einer langen, dunklen Winternacht. Der Schnee fiel in schweren Flocken vom Himmel und begrub die Berge, das Land, die tiefen Wälder und auch die weiten Seen unter einer dichten, weichen Decke. Der Mond war hinter den Wolken kaum zu erkennen und wer sich in so einer Nacht hinauswagte, der musste einen wirklich guten Grund haben. Styrmir, der auf seinem Pferd den Weg über ein weites, mit Verwehungen bedecktes Lavafeld suchte, hatte einen solchen. Der junge Mann war auf der Flucht. Es waren keine Verfolger hinter ihm, doch er konnte nicht länger in dem Dorf bleiben, aus dem er aufgebrochen war. Es wäre zu leichtsinnig und sein Herz war so schwer, dass er keinen Tag länger dort auszuhalten vermochte. Nicht nachdem er mit ansehen musste, wie sein Liebster, Bjarki an seinem Hochzeitstag zu Eis wurde.
Es hatte keine andere Wahl gegeben. Nachdem die Leute angefangen hatten, sich das Maul über den Erben des Goden und den Sohn des Hexenweibs aus den Westfjorden zu zerreißen, blieb nur die Hochzeit mit der jungen, nichtsahnenden Braut, die bereits vor Jahren beschlossen worden war. Bjarki hatte es gewusst und seinem Vater und dem Vater seiner Braut zu widersprechen, hätte die alte Feindschaft zwischen ihren Familien neu entfacht. So blieb ihm nichts anderes, als sich in sein Schicksal zu fügen. Die Erinnerung an jene Sommernacht, als sein Geliebter mit dem Rabenhaar es Styrmir sagte, ließ ihn aufheulen gegen den Schnee und den Wind, aber niemand würde es hören, so wie es niemand verstand.
Styrmirs Entschluss stand fest. Es war schon nach Mitternacht und wenn er sich in die Hände der Götter geben wollte, dann müsste es jetzt geschehen. Er stieg vom Pferd und sackte bis zu den Knien in den Schnee. Dann zog er sein Bündel und das Wolfsfell vom Sattel herunter und wandte sich an seinen Hengst. „Leb wohl, Grani, lauf zurück.“ Ein letztes Mal legte er seinen Kopf an den des Tieres, kraulte ihn zwischen den Ohren, dann riss er sich los und gab dem Pferd einen Klaps, damit es verstand und fortlief. Der junge Mann schützte seine Augen gegen den Wind und schaute zu, wie Grani zwischen den Schneeverwehungen und der Lava verschwand. Er würde heimkehren, da war sich Styrmir gewiss.
Er selbst setzte seinen Weg zu Fuß fort, bis er zu einer Mulde kam, die ihn vor Wind und Schnee schützen würde. Dort hockte er sich unter dem Wolfsfell nieder und wartete. Wenn es der Wille der Götter war, dass er lebte, dann würde er am Morgen noch hier sein, wenn nicht, dann würde man auch ihn irgendwann zu Eis erstarrt finden. Seltsamerweise empfand er überhaupt keine Kälte. Ganz im Gegenteil, ihm war warm, so als wäre es der laue Sommerabend, an dem er und Bjarki sich ihre Liebe gestanden hatten. Sie lagen zusammen auf der Heide, der Wind fuhr sachte durch das Wollgras und ebenso fuhr Bjarki mit seiner Hand durch Styrmirs feuerrotes Haar. Sie küssten sich und er glaubte, es gäbe nichts, was sie trennen könnte. Wie sehr hatte er sich geirrt. Er zog das Wolfsfell dichter um sich und starrte in den Schnee. Es war ihm, als könne er dort ein Gesicht erkennen. Das von Bjarki? Das seiner Mutter, der Hexe? Oder das eines Gottes?
Als der Morgen erwachte, schlug der junge Mann die Augen auf und stellte mit Staunen fest, dass er nicht erfroren war. Er sollte leben. Und er hörte die Stimme von Männern, ganz in der Nähe. Da stand er auf und zeigte sich ihnen. Wenn sie aus dem Dorf kamen, würden sie ihn fortjagen. Aber es waren Mönche, die dem neuen Gott Jesus Christus dienten. Styrmir erkannte es an ihrer Kleidung. Sie kamen auf ihn zu und schienen freundlich.
Viele Jahre später kam es, dass Styrmir und Bjarki sich einmal wiederbegegneten, was nur ein seltsamer Zufall war. Eine kleine Gruppe von dessen Männern und er selbst kamen zum Kloster, in dem der rothaarige Klosterbruder lebte. Auf einem Karren brachten sie ein Kind, das krank war und Hilfe brauchte. Es war einer von Bjarkis Söhnen, der das gleiche Rabenhaar hatte wie sein Vater. Über den hieß es, er habe unzählige Pferde und viele Kinder, aber dennoch sah man ihn nie lächeln. Styrmir erkannte den Goden sofort, war aber nicht sicher, ob der ihn erkannte. Wie seine Mutter, die Hexe, war er inzwischen ein kundiger Heiler und so zögerte er nicht und sah sich den fiebrigen Knaben an. Als er dem Vater die heilende Tinktur überreichte, berührten sich ihre Hände nur ganz kurz. Da war es für einen winzigen Moment, als schmelze das Eis im Gesicht des Schwarzhaarigen. Doch dann war es vorbei. Sie sprachen kein Wort. Der Knabe genas.