Guernsey, St. Peter Port, den 5. Mai 2020
Meine geliebte Tochter,
heute ist der 75. Jahrestag der Befreiung von den Nazis und wie durch ein Wunder bin ich immer noch unter den Lebenden, um diese Geschichte aufzuschreiben. Nun ja, ich schreibe nicht selbst, Schwester Clarice ist so freundlich und tut dies für mich.
Es ist höchste Zeit, dir die Wahrheit über deinen Vater zu berichten, denn nach so vielen Jahren kann sie niemandem mehr schaden. Dir nicht, was für mich immer das Wichtigste war, mir nicht, und auch sonst niemandem, denn außer mir sind längst alle gegangen.
Wie du weißt, haben dein Vater und ich nur eine kurze gemeinsame Zeit zusammen gehabt, denn er fiel. Dies ist auch so gewesen und bleibt unverändert. Doch der Mann, den ich als deinen Vater nannte, war nicht dein Vater. Charles war ein wirklich lieber und guter Freund für mich, schon seit unserer gemeinsamen Schulzeit und als er davon erfuhr, dass ich schwanger war, bot er an, das einzig Richtige in dieser Situation zu tun. Wir heirateten. Es war nicht Liebe, es war aus Freundschaft und aus einem anderen ganz bestimmten Grund: dein Vater war einer der hier auf der Insel stationierten Deutschen.Hätte es damals irgendjemand erfahren, dass ich mich in einen von unseren Besatzern verliebt hatte, man hätte mich als Jerrybag verachtet und ausgestoßen. So nannte man damals die jungen Frauen, die mit einem deutschen Soldaten anbandelten. Damit du, meine Tochter, mich nicht verachtest, möchte ich dir von ihm erzählen.
Er hieß Rudolf und kam aus einer großen Familie in Berlin. Wesendonk, so hießen sie und sie waren stolz auf die militärische Tradition in der Familie. Als im Sommer 1940 die Deutschen die Insel besetzten, war er dabei. Wie du weißt, hatten wir nur drei Tage Zeit, auf das Festland überzusetzen und viele, die zu große Angst vor den Besatzern hatten, haben dies getan. Kinder wurden vor allem evakuiert und auch viele unserer jungen Männer gingen, weil sie sich unseren Truppen anschließen wollten. Die von uns, die blieben, hatten auch große Angst. Was würden die Feinde mit uns tun? Was wären das für Menschen, die deutschen Nazi-Soldaten. Und als sie kamen, waren sie überhaupt nicht so, wie wir sie uns vorgestellt hatten. Es waren keine Monster oder Barbaren. Eher im Gegenteil.
Ich war damals kaum älter als fünfzehn, stell dir das vor. Und wenn ich morgens mit dem Rad am Hafen vorbei zu der Buchhandlung meiner Eltern fuhr, dann war der Strand voll mit diesen jungen Männern. Sie machten Ballspiele in ihrer Freizeit, schwammen wie die Teufel um die Wette oder sonnten sich. Groß und stark schienen sie mir und es waren tatsächlich viele von ihnen blond. So viele, hübsche Kerle auf einen Haufen hatte ich noch nie gesehen. Aber ich fuhr stets schamhaft errötet an ihnen vorbei.
Und dann, eines Tages, kam er in unser Geschäft. Er wirkte etwas schüchtern, denn ihm war klar, dass es für uns Inselbewohner ein Spiel mit dem Feuer war, wenn wir uns mit unseren Besatzern verbrüderten. Er fragte nach Klaviernoten. Ich holte meinen Vater, der sich damit besser auskannte und sie stöberten gemeinsam in einer Kiste mit Noten von Schubert und Schumann und Beethoven. Stell dir das vor. Sie mochten die gleichen Stücke. Viele davon waren auch meine Lieblingsstücke. Und schließlich, als Rudi ein paar Notenblätter ausgesucht hatte, da fragte mein Vater, ob die Soldaten denn auch ein anständiges Klavier hätten, auf dem er spielen konnte. Und der junge Soldat, das werde ich nie vergessen, rümpfte so unglaublich süß die Nase, dass ich fast in Ohnmacht gefallen wäre. So dachte ich damals- Gott, wie jung war ich!
Mein Vater, weil er ihn mochte, schlug ihm vor, er könne das gute Klavier im Schulhaus benutzen, wenn er dann auch einmal für die Schüler spielen würde. Meine Mutter gab dort Nähkurse für die Mädchen und sie könne ihn einlassen. Und was soll ich dir sagen? Rudi war ein fantastischer Klavierspieler. Er konnte Musik fühlen und zum Leben erwecken, wie kein anderer. Ich war sowieso schon bis über beide Ohren vernarrt in ihn. Bis zum Winter war ich hoffnungslos verliebt und im Sommer darauf, da bemerkte es auch Rudi. Wir trafen uns immer heimlich, wenn er aus dem Schulhaus kam. Und am Wochenende war er manchmal bei uns zum Essen eingeladen. Wir redeten stundenlang über Musik und Kunst und darüber, wie sehr er seine Familie, seine Mutter vermisste.
So ein wunderbarer Mensch war dein Vater. Als er nicht mehr kam, hieß es, sie hätten ihn an die Front versetzt, weil dort mehr Männer gebraucht wurden. Der Befehl kam so plötzlich, dass wir uns nicht einmal verabschieden konnten. Ich war am Boden zerstört, untröstlich und verzweifelt. Als ich dann erfuhr, dass ich schwanger war, da kämpfte er irgendwo in Russland. Ich bekam tatsächlich einmal einen Brief von ihm. Ein Freund, dem er von uns erzählt hatte, brachte ihn. Als er zum zweiten Mal kam, da brachte er die Nachricht von Rudis Tod. Wenn ich da nicht schon mit Charles verheiratet gewesen wäre, ich habe keine Ahnung, ob ich das überlebt hätte. Er gab mir Mut und sagte, ich müsse stark sein, für mein Kind, das er aufnehmen wolle, wie sein eigenes. Wir würden es zu einem Engländer machen und niemand würde erfahren, dass es einen deutschen Vater hat.
Und was für eine mutige, wundervolle Engländerin du geworden bist, meine liebe Tochter!
Vergiss das nicht, du bist ein Kind der Liebe zweier Menschen, die unter den unmöglichsten Bedingungen die stärkste Liebe fanden. Du bist wie ein Engel, den mir dein Vater geschenkt hat. Und auch Charles hat dich geliebt.
Und vergib mir, weil ich erst jetzt die Kraft aufbringe, dir diese Wahrheit zu gestehen.
Deine, dich liebende Mutter.