Der Mond lag verborgen hinter den Wolken, aus denen es unablässig schneite und die lange Winternacht neigte sich bereits ihrem Ende zu. Die beiden Wölfe jagten gemeinsam und dicht beieinander durch den Wald, dessen Bäume unter der Schneelast ächzten und stöhnten. An manchen Stellen hingen die Äste so schwer und tief herab, dass sich der junge Wolf einen Spaß daraus machte, in einem günstigen Moment danach zu springen und zu schnappen, sodass das pulverige Weiß auf dem anderen dahinpreschenden Wolf landete. Ihr Lauf war jedoch so schnell, dass der alte Wolf nicht immer etwas abbekam, was den jungen keinesfalls entmutigte. Sie liebten das wilde Rasen und den tiefen Schnee, sprangen zuweilen mitten in eine Wehe hinein, rollten herum und jagten weiter. Der alte Wolf stupste den jüngeren immer wieder im Lauf an der Flanke, wie um zu testen, ob ihn das verlangsamte oder ob er ins Straucheln geriet, aber auch das war ein Heidenspaß für die zwei.
Ohne dass es der junge Wolf bemerkte, hatten sie plötzlich den Rand des Waldes erreicht. Sie mussten immer weiter und weiter bergab gelaufen sein, denn vor ihnen lag nun eine weite Ebene mit sanften Hügeln und irgendwo, fern am Horizont, bahnte sich bereits das erste Grauen des Morgens an. Überrascht hielt er an, um zu staunen. So weit war sein Vater noch nie mit ihm vorgedrungen. Auch der beendete seinen Lauf und späte auf die Ebene. Für eine kurze Weile blieben sie so, schauend und nebeneinander, sodass der eine den lauten Atem des anderen hören konnte. Dann gab der Alte das Zeichen, einen kaum merklichen Blick, den er dem jungen Wolf zuwarf und sie begannen die Rückwandlung in ihre menschliche Gestalt. Siegmund war darin inzwischen fast genau so gut und schnell, wie sein Vater. Aber nur fast. Als der Jüngling die Augen aufschlug, hielt jener ihm eine Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Neben seinem Vater schüttelte er sich nochmal, dann konnte er ohne zu schwanken stehen. Der Alte lächelte. Sie waren neben einem Hügel mit Felsen und Steinen, die eine kleine Höhle verdeckten, aus welcher der Vater nun zwei große Bündel hervorholte.
„Du warst schon hier, um das zu verstecken?“
„Nichts von dem hier ist Zufall, mein Sohn.“
Das waren merkwürdige Worte. Siegmund war es gewohnt, dass sein Vater in Rätseln sprach oder ihm Rätsel zu lösen aufgab. Aber das hier wirkte nicht wie eine seiner üblichen Lehrstunden. Normalerweise klang dann ein herausfordernder Ton in der Stimme mit, doch dieses Mal klang der Mann traurig. Warum nur? Still und ohne Umschweife öffnete der Jüngling sein Bündel und zog die Kleider an, die darin waren. Sie waren neu. Aus warmer Wolle, dicken Webstoffen und feinem Leder. Auch gefütterte Stiefel waren dabei. So etwas hatte Siegmund noch nie besessen. Ganz zum Schluss, tat er es seinem Vater gleich und warf sich noch das Hirschfell wie einen Mantel um. So standen sie wieder und schauten. Erst in die Weite, dann wandte sich der Alte an den Sohn.
„Es wird Zeit für einen Neuanfang, mein Junge. Du bist fast erwachsen und ich kann dich hier in der Wildnis nichts mehr lehren. Du musst deinen Weg zu den Menschen finden.“
Die Worte kamen wie ein Schlag und Siegmund glaubte für einen Moment die Besinnung oder mindestens den Halt unter den Füßen zu verlieren. Sogleich legte sein Vater ihm einen Arm um die Schulter und zog ihn fest an sich. Behutsam sprach er weiter.
„Hör mich an. So wie du mein Sohn, mein Wölfling bist, bist du auch ein Mensch und du wirst lernen müssen, wie einer von ihnen zu leben.“
„Warum muss ich das? Das Leben mit Mutter und Schwester in der Höhle war wie das von Menschen. Sie waren Menschen. Ich weiß, wie man bei ihnen lebt.“
Als er dies aussprach, wusste der junge Mann bereits, dass es keinen Sinn hatte. Sein Vater war stets darum bedacht, ihn für seine Aufgabe in der Welt vorzubereiten. Darum kam er in den Mondnächten. Darum lehrte er ihn alles, was ein Wolf und ein junger Krieger wissen musste und zu tun hatte. Und noch so vieles mehr. Wie man die Natur versteht, wie man mit ihr eins wird, wie man jagt, tötet, wie man gut sein muss zu Frauen und Schwestern.
Siegmund kamen die Tränen.
„Sehe ich dich wieder?“, hauchte er die erste und wichtigste Frage, die ihm nun in den Sinn kam.
Sein Vater schaute ihm in die Augen, in denen er sich selbst erkannte. „Wenn du mich brauchst, werde ich kommen“, versprach er.
„Wie kann ich dich rufen?“
„Das musst du nicht, denn ich werde es wissen“, versicherte der Mann mit ruhiger und väterlich zärtlicher Stimme. Dann deutete er auf die Binde, die er stets trug, um die Stelle zu verdecken, wo ihm das eine graue Auge fehlte. „Mit diesem hier, sehe ich dich immer und überall, daran wird sich nichts ändern“, sagte er. „Mit dem anderen“, dabei deutet er auf das vorhandene Auge, in dessen Grau ebenfalls eine Träne schimmerte, „sehe ich dich für lange Zeit zum letzten Mal.“
Der Jüngling nickte tapfer und schmiegte sich ein letztes Mal an seinen Vater. Er horchte auf dessen Atem, auf dessen Herz in der Brust, das in diesem Augenblick so menschlich schlug, wie sein eigenes. Dann lösten sie sich voneinander.
„Und nun geh und leb wohl, mein Sohn.“
…
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in and’re neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
…
(Hermann Hesse)
War mir Inspiration, darum teile ich das hier mit euch.
Alle guten Wünsche zum Neuen Jahr!