Anne war in ihrem vierten Semester des Studiums für Germanistik und Anglistik und eigentlich hatte sie gehofft, an einem Seminar teilnehmen zu können, das den spannenden Titel „Schauerromane zu Beginn des 19. Jahrhunderts“ trug. Doch wie immer hatte sie beim Auswahlverfahren Pech. Für diejenigen unter euch, die nicht studiert haben, oder die jetzt erst studieren sei erklärt, dass die Universitäten sich da immer etwas besonderes einfallen lassen. In diesem Fall hieß es, man solle am Dienstagvormittag um 8.00 Uhr seinen Namen auf eine Liste setzen, die vor der Tür des Professors aushängen wird. Was dieser Information nicht zu entnehmen war, war der Umstand, dass das Büro im hinteren Bereich der germanistischen Bibliothek lag. Das bedeutete, die Studierenden warteten bereits ab ca. einer Stunde vorher vor der verschlossenen Bücherei auf Einlass. Als sich um 8.00 Uhr die Tür öffnete, hatten sich längst alle ausgerechnet, dass es wahrscheinlich nur 50 Plätze in dem Seminar geben würde, es standen aber mindestens 80 bis 100 Studierende bereit, um einen Platz zu ergattern. Also setzte eine regelrechte Stampede ein. Die Ersten, die durch die Tür drängten, merkten, dass die Hinteren zum Überholen ansetzten und begannen, schneller zu gehen, schließlich zu laufen. Um nicht komplett überrannt zu werden, lief auch Anne den Gang entlang, immer in der Hoffnung, dass die anderen den direkten Weg zum Büro kannten.
Dem war tatsächlich so. Irgendwo am Ende des Flurs bildete sich eine Traube aus drängelnden und schiebenden Studierenden, die vor einem DinA4 Zettel versuchten, ihren Namen leserlich auf die vorgedruckten Linien zu setzen. Im letzten Jahr hatte es bei so einer Anmeldung gestauchte Rippen und einen gebrochenen Arm gegeben. In diesem Jahr sah alles zumindest noch etwas harmloser aus. Anne entschied, dass es ihr die Sache nicht wert sein, wenn sie sich dafür in die Menge werfen musste. Als sie endlich der Liste nahekam, schleppten sich schon die ersten erschöpften Drängler zurück. Ein paar von ihnen schauten triumphierend, denn offenbar war es ihnen gelungen, ihren Namen auf dem Papier, vielleicht sogar leserlich und vielleicht sogar auf den Linien zu platzieren. Schließlich kam Anne zu der Tür und dem Blatt Papier. Die untere Hälfte war abgerissen worden. Offenbar erhofften sich die viel zu spät ankommenden Studierenden, dass sie so die Anzahl der Bewerber reduzierten, indem ein Teil einfach verschwand. Auf dem oberen Teil des Blattes standen Namen kreuz und quer und überall. Anne überlegte, ob sie sich noch dazuschreiben sollte, auch wenn es kaum Hoffnung gab. Sie tat es dennoch. Dann schaute sie sich um und entdeckte gegenüber im Flur eine weitere Tür, an der ebenfalls eine Liste hing. Sie wurde neugierig, denn diese sah noch relativ frisch und intakt aus. Und tatsächlich gab es für „Die Nesthäkchen-Romane von Else Ury. Vom Kaiserreich bis zum KZ“ noch drei freie Linien. Dort setzte die Studentin ihren Namen hinzu. Und wie sich herausstellen sollte, war dieses Seminar über das wilhelminische Frauenbild und Erziehungssystem im Nachhinein ein wirklich spannendes und für Anne wegweisend, denn im Anschluss widmete sie sich gezielt der Literatur von Schriftstellerinnen und den Gender Studies. Schauerromane las sie trotzdem weiterhin gerne. Vor allem solche wie „Frankenstein“ von Mary Shelley, deren Mutter eine berühmte Frauenrechtlerin war.