„Was ist jetzt? Kommst du?“, fragte Xanni und deutete mit dem Blick auf ihre Armbanduhr. Sie und Polly standen bereits seit einigen Minuten am Ausgang des Souvenirshops und hofften, dass Grendi endlich aufgeben würde, nach einem besseren Kühlschrankmagneten zu suchen als dem, den sie zusammen mit ein paar Postkarten längst in der Hand hielt.
„Wir wollen doch nicht unter Zeitdruck geraten, oder?“
Grendi hatte die Steigerung des vorwurfsvollen Tons in Xannis Stimme durchaus bemerkt, also sah sie es schließlich ein und bezahlte. Warum die anderen beiden so unentspannt waren, wollte ihr nicht einleuchten, denn die U-Bahn, die vom Katharinenpalast zurück ins Zentrum von Sankt Petersburg fuhr, wäre doch sicher schneller als der Bus, den sie am Vormittag genommen hatten.
So zumindest die Theorie.
In der Praxis sah das ganz anders aus. Zwar kamen die Bahnen in kurzen Abständen und fuhren nur etwa dreißig Minuten bis zu der Station, wo die Mädels aussteigen mussten, um ins Mariinski-Theater zu gehen, doch bei den tiefgelegensten Tunneln der Welt konnte es schon mal zu Verzögerungen kommen. So, ausgerechnet an diesem Tag, zu dieser Stunde. Der Zug mit Grendi, Xanni und Polly hatte einen Antriebsschaden und stand fast eine halbe Stunde am Bahnsteig, als es den dreien zu bunt wurde.
„Wir rufen uns einfach oben ein Taxi“, beschloss Polly, die seit einem halben Jahr in der Stadt lebte und sich auskannte.
Die anderen zwei nickten. Sie kannten die speziellen Taxis mit dem Marienkäfer oben auf dem Dach schon von ihrer Ankunft am Flughafen. Das waren extra Taxis für Frauen, die ohne Männer unterwegs waren, oder Queer Folk. Coole Sache, was es in so einer Großstadt alles gab!
Nur leider waren alle Taxis dieser Art besetzt oder hingen im Feierabend-Stau fest. Damit wurde es langsam doof und der zuvor angedrohte Zeitdruck stellte sich definitiv ein. Noch dreißig Minuten bis zum „Lohengrin“ mit Maestro Gergijev. Noch 60 Minuten, wenn der sich, wie üblich, verspätete.
„Was soll’s“, fand Xanni, „nehmen wir halt einen Bus. Es fahren ja welche hier rum.“
Damit hatte sie recht, denn inzwischen standen die Mädels an einer Hauptstraße, die ins Zentrum führte und da floss der Verkehr. Kurzerhand stiegen sie in den nächsten Bus ein. Xanni und Grendi konnten sowieso weder Russisch noch Kyrillisch, also verließen sie sich auf Polly, die jedoch mit ihrem Handy beschäftigt war und nicht auf die Anzeige des Gefährts achtete. Dass sie so in einem falschen Bus standen, merkten sie dann, als der abbog und in eine ganz andere Richtung als die der Innenstadt, fuhr.
Bei der nächsten Haltestelle ging’s also wieder an die Straße. Und noch zwanzig Minuten bis Gergijev.
„Und was machen wir jetzt?“, maulte Grendi. Sie hatte im Grunde aufgegeben und ließ sie imaginären Katzenöhrchen hängen.
„Wir halten wen an!“, verkündete Russlandexpertin Polly, und noch bevor sich’s die anderen zwei versahen, sprang sie regelrecht auf den Fahrstreifen der Hauptstraße, streckte Arm und Hand aus, wie die Römer, die im Asterix-Comic ihren Caesar grüßen und stoppte so tatsächlich das nächstbeste Auto.
Im Wagen saß irgendein Russe, der gleich das Fenster herunterließ, um mit Polly auszubaldovern, was sie auf der Straße mache. Xanni und Grendi trauten ihren Augen nicht, doch ihre Freundin winkte sie bereits ran an den Wagen und erklärte, es sei alles cool. Der Typ werde sie fahren und er sagte, sie kämen rechtzeitig. Grendi schoss noch in den Kopf, dass es ein ziemlicher Unterschied war, ob man im Frauentaxi mit Marienkäfer auf dem Dach oder mit einem fremden Russen am Steuer losfuhr, aber da war es schon zu spät. Sie saßen drin und der Typ fuhr mit quietschenden Reifen los. Gleichzeitig begann er, am Handy zu telefonieren.
„Ist alles super“, erklärte Polly vom Beifahrersitz. „Er beredet jetzt seinen Kumpels, dass er etwas später kommt, weil er noch drei Frauen pünktlich zum Mariinsky fährt. Das ist sozusagen Ehrensache.“
Was davon genau Ehrensache war, fragte sich Grendi in dem Moment, als der Russe von der Straße abbog. Das war genau die Art von Situation, vor der ihre Oma und Eduard Zimmermann in Aktenzeichen XY immer gewarnt hatten. Und noch fünfzehn Minuten bis Lohengrin.
Der Typ telefonierte weiter, dann fuhr er auf eine Tankstelle, wo Polly ihm etwas Geld für Sprit gab und schon ging es wieder los. Als der Russe endlich das Handy weglegte, waren sie schon über eine rote Ampel gefahren und Xanni hielt sich an Grendis Ärmel fest. Hinten in dem Wagen gab es keine Gurte. Vorn in dem Wagen plapperte Polly auf den Mann ein, der offensichtlich seinen Spaß daran hatte, sämtliche Verkehrsregeln der Stadt zu brechen. Und noch zehn Minuten …
Ab und zu warf Polly ein paar Informationen nach hinten, um ihre Freundinnen zu beruhigen.
„Der ist Russe, der weiß, was er tut … er sagt, wir schaffen das … ich hab ihm gesagt, dass wir aus Deutschland sind, das findet er cool. Sein Opa war da mal …“
Dann, dem Himmel sei Dank, hielt der Typ tatsächlich fünf Minuten vor dem Vorhang am Theaterplatz von Sankt Petersburg. Die drei Mädels stiegen eilig aus, Polly bedankte sich mit Luftküsschen, „dann hat er seinen Kumpels was zu erzählen“, und die anderen beiden wagten wieder zu atmen. Jetzt war es nur noch ein kleiner Sprint hinein ins Theater und noch bevor das Licht im Zuschauerraum erlosch, saßen die drei erhitzt, aber glücklich, auf ihren Plätzen im Parkett.
Gergijev kam zwanzig Minuten zu spät. Ob der in der U-Bahn war? Oder im Frauentaxi?