Hilflos
Er fühlte sich absolut hilflos, während seine Klassenkameraden um ihn herum standen und grinsten. Allen voran natürlich Stinker mit seinem besten Kumpel Hackfresse. Sie waren immer die Schlimmsten. Nichts und niemand konnte sie aufhalten, wenn sie sich irgendeinen stumpfen Blödsinn ausgedacht hatten und ein Opfer suchten, mit dem sie ihren Spaß treiben konnten oder was sie dafür hielten. Und dieses Mal hatte es ihn wieder erwischt. Er hasste es.
"Was ist jetzt? Hast du nicht gehört, du Memme?", kläffte Stinker ihn an und verschränkte bedrohlich die Arme vor der Brust. Hackfresses Grinsen wurde noch dämlicher als zuvor und beide taten einen Schritt auf ihn zu, sodass sich der Kreis um ihn herum enger zog. Die anderen drei Jungs, machten ebenso wenig Anstalten zurückzuweichen oder ihm eine Flucht zu ermöglichen. So klammerte er sich mit feuchten Händen an den Lenker seines Kickboards und hoffte inständig, dass das alles vielleicht nur ein Bluff war oder dass endlich einer der Lehrer bei seiner Schulhofaufsicht vorbei kommen würde. Aber nein.
"Wir warten!", keifte jetzt einer der Jungs, Leon, der dicke Sitzenbleiber, der sich noch immer ein schlechtes Beispiel an Stinker nahm.
Er starrte auf den kleinen, zusammengerollten Igel, den sie vor seinem Kickboard platziert hatten und stellte sich vor, dass er und der kleine Igel in der selben schrecklichen Situation steckten. Umringt von Feinden. Absolut tödlichen Feinden, kam es ihm in den Sinn. Die Jungs wollten von ihm, dass er mit seinem Kickboard über das hilflose Tier rüber fuhr.
"Was is' jetzt? Hä?", ätzte Stinker, dem diese Idee gekommen war. "Glaubst du, wir warten hier den ganzen Tag, oder was?!"
Er schaute auf das Tier, dann auf seine Hände am Lenker. Er traute sich nicht, den Jungs ins Gesicht zu sehen und bereitete sich auf ihre Reaktion vor.
"Ich mach' das nicht", presste er leise und gequält hervor.
In dem Moment stieß ihn auch schon Hackfresse brutal mit der Faust an der Schulter. "Du machst das nicht?!", bellte er. "Weißt du, was wir mit dir machen, wenn du dich weiter so anstellst? Wenn du zu uns gehören willst, dann zeig mal, dass du's drauf hast!"
Er schluckte schwer und spürte, wie ihm die Tränen kamen. Das wäre nun wirklich das Allerletzte, was noch passieren dürfte. Dann wäre er für alle Zeiten geliefert. Das perfekte Opfer. In jeder Pause. Und er wusste, was diese Bande mit denen machte, die nicht zu ihnen gehörte. Zuletzt hatte es den quirligen Dixie erwischt. Den hatten sie stundenlang in der Streugutkiste auf dem Schulhof eingesperrt. Der war so verängstigt gewesen, dass er nicht mal zu schreien wagte. Erst der Hausmeister hatte ihn am Nachmittag zufällig befreit, weil er das Wimmern in der Kiste gehört hatte, als er seine Runde machte.
"Ich mach das nicht", wiederholte er, noch leiser als zuvor. Dieses Mal gab es einen Schlag mit der Handfläche in den Nacken. Und noch einen. Er schaute gar nicht nach, von wo die Schläge kamen. Er hielt sich krampfhaft an seinem Kickboard fest. Wenn seine Mutter ihm doch nur nie dieses Ding geschenkt hätte. Dann müsste er nicht über den Igel fahren. Er zog den Kopf ein, weil er sicher war, dass es weiter gehen würde und tatsächlich begannen die Jungs auf in zu spucken. Erst einer, dann der nächste.
"Feigling!"
"Memme!"
"Schwuchtel!"
"Schaut euch den an, wie der heult!"
"Spasti!"
"So ein motherfucker!"
"Ja, genau! Motherfucker!"
Er hörte nicht hin. Was er hörte, war das Blut in seinen Adern, das wie wild pulsierte. Er spürte auch ihre Schläge nicht so sehr, wie er ihre Worte in seinem Kopf widerhallen spürte. Dann riss er endlich die Hände hoch, um seinen Kopf zu schützen. Das Kickboard fiel zu Boden. Es schepperte und auch das Scheppern dröhnte in seinen Ohren.
Mit einem Mal ertönte der Gong zur nächsten Stunde und irgendjemand rief den Jungs zu, dass sie gefälligst rein gehen sollten.
Im nächsten Moment realisierte er, dass sie ihn stehen gelassen hatten. Einfach so. Er wagte, sich umzuschauen. Die anderen Schüler verschwanden vom Schulhof. Vorsichtig hob er sein Kickboard wieder auf und schluchzte erleichtert. Vor ihm auf dem Boden rollte sich ein kleiner Igel wieder auseinander und verschwand still im Gebüsch.