Lautlos, wie er es von seinem Vater gelernt hatte, schritt Siegmund inmitten der Behausungen der Menschen voran. Dies war ein seltsamer Ort. Noch im Schatten des Waldes, der ihn vor jenen verborgen hatte, konnte er sie wittern. Es mussten viele sein. Mehr jedenfalls, als er bisher je zu Gesicht bekommen hatte. Umso seltsamer war es, dass er sie nach Einbruch der Nacht nicht in ihren Hütten vorfand. Er lugte durch ein mit Hasenfell verschlossenes Loch in eine dieser Wohnstätten hinein. Drinnen war niemand, nur ein paar glimmende Holzscheite in der Feuerstelle erhellten den kargen Raum. In einer anderen Hütte, durch deren Türspalt er schaute, lag ein krankes Kind auf einem Lager und eine sehr alte Frau war bei ihm. Immerhin gab es also Lebenszeichen. Den jungen Mann fröstelte und er zog sich das Hirschfell dichter um den Leib, während er weiter ging.
Inzwischen vernahm er einen Wirrwarr von Stimmen, Männerstimmen, und Gelächter. Zielsicher bewegte er sich auf die Quelle dieser Geräusche zu. Sie kamen von einem Langhaus in der Mitte der Siedlung. Vielleicht war ein Festtag und der Häuptling der Sippe hielt ein Gelage zu Ehren der Götter ab. Es wäre eine Erklärung. Doch sein Vater hatte den Jungen solche Dinge über die Menschen gelehrt und ihm war kein solches Fest, noch vor Ende des Winters bekannt. Das war seltsam. Vielleicht, so dachte Siegmund, als er sich langsam der Halle näherte, waren dies Menschen, die nicht den Lichtalben, Odin und seiner Sippe zugetan waren, sondern stattdessen den Schwarzalben huldigten.
Er beschloss, vorsichtig zu sein und vergewisserte sich, dass er sein Schwert so am Gürtel trug, dass er es leicht ziehen konnte, wenn dies notwendig war. Mittlerweile vernahm er auch die Stimme einer Frau. Sie schluchzte und jammerte. Da musste etwas im Gange sein, was ihr Angst oder auch Schmerz verursachte. Siegmund beschleunigte seinen Schritt. In dem Haus waren die Männer so laut, dass keiner von ihnen hören würde, dass sich ihnen ein Fremder näherte. Als er eine Fensterluke erreicht hatte, zog der junge Mann ihren Laden ein winziges Stück auf und spähte hinein.
Drinnen gröhlte die Menge der betrunkenen Männer, während die Frauen vorn am entfernten Ende der Halle seltsam still auf Bänken saßen. Alle schauten in die gleiche Richtung, zu einer alten Tür, die man aus den Angeln gehoben und dort aufgestellt hatte. Daran fest gebunden war eine junge Frau. Sie trug ihr Haar zu mehreren Zöpfen geflochten, die man ihr vom Kopf ausgehend strahlenförmig an das Holz geheftet hatte. Einer war von einer Axt durchtrennt, die in der Tür steckte. Sie weinte bitterlich aus weit aufgerissenen Augen.
Siegmund brauchte einen Moment, um zu verstehen, was da vor sich ging. Es schien eine Art Mutprobe zu sein. Aber warum war die Frau gefesselt und weinte? Dann begriff er. Es war ein Gottesurteil oder was diese rauen Männer dafür hielten. Betrunken, wie sie waren, warfen die Männer mit ihren Äxten nach den Zöpfen. Trafen sie die Frau, dann wäre ihre Schuld bewiesen. Zur Abschreckung ließ man die anderen zusehen. Zorn erwuchs in dem jungen Mann über eine solche Anmaßung der Sterblichen, den Willen oder das Urteil der Götter auf diese Weise zu erkennen.
Mit eiligen Schritten trat er jetzt durch den Eingang des Langhauses, vorn wo das Spektakel stattfand.
„Aufhören, sofort aufhören!“, brüllte er so laut er konnte.
Im selben Moment wandten sich alle dem Eindringling zu, der da so frech einen Befehl gab. Wer mochte der Grünschnabel sein?
Zwei kräftige Haudegen, die nah bei Siegmund standen, packten ihn rechts und links, was er sich gefallen ließ. Er wollte keinen Streit.
„Wer bist du? Was nimmst du dir heraus?“, wollte ein Mann wissen, der vorn, erhöht an der Metbank saß und einen dicken Mantel aus teurem Pelz trug. Der Häuptling, so folgerte Siegmund.
„Ich fordere euch auf, dieser Grausamkeit ein Ende zu bereiten. Nichts ist bewiesen durch das Geschick oder Ungeschick Betrunkener.“
Die Sicherheit und Dreistigkeit, mit der der junge Mann auftrat, verschaffte ihm einen gewissen Respekt oder auch eine Neugierde bei dem Obersten der fremden Sippe. Auch sah der Anführer das mächtige Schwert am Gürtel Siegmunds blitzen.
„Wenn du so mutig bist, wie du tust und etwas wagen willst, um dieses Weib zu retten, dann nimm die Axt und tu es damit!“
Diese Worte des Häuptlings ließen die Männer aufjohlen. Ja, das war ein noch größerer Spaß. Sollte es der Fremde versuchen, alle Zöpfe zu durchtrennen. Sofort teilte sich die Menge in der Mitte der Halle und man machte Platz für den Fremden.
„Natürlich“, so bestimmte es der Mann im Pelz, „brauchst du einen Abstand, der dem Maß deiner Dreistigkeit entspricht!“
Siegmund nickte stumm und ließ sich von den Männern zur Feuerstelle inmitten der Halle bringen. Von dort sollte er werfen. Es war leicht die doppelte Entfernung von der Frau, wie sie vorher für die Männer gegolten hatte. Sie jammerte und flehte um Gnade, doch dann fiel ihr Blick auf Siegmund. Er fixierte sie vollkommen ruhig und nickte ihr wie zum Gruß zu. Seine Ruhe schien sich auf sie zu übertragen, denn wie durch Zauberhand wirkte sie nun gefasst.
Vier Zöpfe musste der junge Mann treffen, dann wäre sie erlöst.
Einer der Kerle schlug nun vier Äxte in die Bank neben dem jungen Mann. Eine nach der anderen musste er werfen. Sogleich verstummten alle und schauten gebannt. Dann, mit unvorhergesehener Schnelligkeit, griff Siegmund nach der ersten Axt, warf und der Zopf fiel. Ohne Zeit zu verlieren nahm er die nächste, schleuderte sie und noch bevor der zweite Zopf den Boden berührte, flog die nächste Axt, schließlich die vierte, das Haar fiel, die Frau war frei. Die anderen Frauen begannen vor Erleichterung zu lachen und zu jubeln. Siegmund ließ seinen Siegesschrei ertönen. Dann wurde er hochgerissen auf die Schultern der Männer. So etwas hatten sie noch nie erlebt und würden es noch ihren Kindern und Kindeskindern am Feuer erzählen.