Halloween-Special 2020 :)
Es war empfindlich kalt in jener Nacht. Der Wind brauste von den Höhen des Ith hinunter ins weite Tal, rüttelte die letzten gelben Blätter von den Bäumen und ließ die Tiere des Waldes Schutz vor dem einsetzenden Regen suchen. Bei einem solchem Wetter, pflegte man vielerorts zu sagen, jagt man doch keinen Hund vor die Tür. Dennoch war Gabriel in seinem Mini Cooper mit Sommerreifen auf der Landstraße unterwegs. Es war unvorsichtig, denn überall lag rutschiges Laub auf der Straße, jeden Augenblick mochte ein Dachs oder ein Fuchs im Scheinwerferlicht auftauchen oder gar ein Wildschwein, doch er konnte nicht anders. Zu groß war der Zwang, den er verspürte, zu gering war seine Gegenwehr. Er musste einfach zu der verfluchten Kurve bei den Rabenklippen, wo sich vor Jahren der Unfall ereignete, der seinen Zwilling das Leben gekostet hatte.
Während der junge Mann durch die schmierigen Spuren der Wischblätter ins Dunkel starrte, kamen die Bilder, die Geräusche und selbst die Gerüche jener verhängnisvollen Autofahrt wieder in seinen Sinn. Ihre Mutter war aufgebracht gewesen und fuhr schneller als es die Sichtverhältnisse zuließen. Die beiden Jungs hatten damals nicht verstanden, dass sie ihren gewalttätigen Vater in jener Nacht verlassen hatte und sie alle in Sicherheit bringen wollte. Hinten auf dem Rücksitz weinte Raffael in Gabriels Armen, klammerte sich an ihn und beide zitterten, denn die Heizung in dem alten Volvo funktionierte nicht. Auch nicht das Gebläse für die Scheiben. Und so passierte es. Der Wagen schleuderte mit überhöhter Geschwindigkeit gegen die Leitplanke. Gabriel und seine Mutter überlebten auf der Fahrerseite, doch Raffael schaffte es nicht. Der Geruch des Blutes seines Bruders, seine weitgeöffneten, starren Augen und die Schreie seiner Mutter verfolgten Gabriel von nun an jede Nacht in seinen Träumen.
Aber das war nicht das Schlimmste. Die Persönlichkeit seiner Mutter veränderte sich, bedingt durch den Verlust des einen Kindes und die schwere Kopfverletzung. Es war, als sei sie von der Vorstellung besessen, dass der Unfall kein Zufall war. Die irrsinnige Behauptung, dass es ihr Mann fertiggebracht hatte, den Volvo von der Fahrbahn abzubringen, konnte ihr kein Therapeut, kein anderes Familienmitglied und auch Gabriel selbst, als er älter wurde, nicht austreiben. Wenn er es versuchte, giftete sie ihn an, was er sich denn einbildete. Und er solle froh sein, dass er noch lebe, denn Raffael habe den Tod gewiss weniger verdient als er. Wenn sie eine Wahl gehabt hätte, dann hätte sie ihn hergegeben und den Bruder behalten.
Das war es, was Gabriel nicht losließ. In manchen, besonders dunklen Nächten, da war es ihm, als höre er die kindliche Stimme seines Zwillings rufen. Wo bist du, Gabriel? Warum hast du mich nicht festgehalten, Gabriel? Wir sollten tauschen, Gabriel! Das Wehklagen und Anklagen wurde mit den Jahren immer schlimmer und der junge Mann begann sich zu fürchten. Vor den bösen Augen seiner Mutter und den dunklen Nächten.
Doch jetzt wollte er es darauf ankommen lassen. Eine Minute vor Mitternacht zeigte die Uhr im Cockpit. Es konnte nicht mehr weit sein, bis zu der Kurve. Der Wald wurde dichter und der Sturmwind hatte abgestorbene, dünne Äste auf der Straße verteilt, die er mit seinem Cooper einfach überfuhr. Einige von ihnen schleuderten unter dem Wagen gegen den Boden und es krachte gegen das Blech, wie in jener Nacht vor elf Jahren. So lange war es her. Immer hatte Gabriel seither diese Landstraße gemieden. Doch er war mit seinen Kräften am Ende. Endlich tauchte das hölzerne Kreuz, das den Unfallort markierte, im Scheinwerferlicht auf und Gabriel hielt neben der Leitplanke. Mitten in der Kurve. Als er ausstieg, schlugen ihm eisiger Wind und Regen ins Gesicht und er begann zu blinzeln. War da etwas bei dem Kreuz? Lehnte dort jemand an der Planke?
„Raffael? Bist du das?“
Am nächsten Morgen fand man die Leiche des jungen Mannes unten an den Rabenklippen. Warum er in einer stürmischen Nacht, in einer gefährlichen Kurve aus dem Auto gestiegen war, wollte niemand deuten.