Wer mich kennt, der weiß, ich bin ein richtiger Theater- und vor allem Opernfan. Das hat irgendwann in der 8. Klasse angefangen, als ich zusammen mit ein paar Freundinnen ein Jugendabonnement hatte, mit dem man einmal im Monat abends nicht zuhause bei den Eltern, sondern mit den Mädels unterwegs war. Das hatte so einen Hauch von Freiheit und Unabhängigkeit und wir fanden uns supercool. Im Laufe der Jahre haben sich da zahlreiche Ereignisse angesammelt, an die ich mich gern erinnere. Wegen toller Regie, fantastischer Schauspieler oder eben begnadeter Sänger. Am allerliebsten ist mir jedoch eine Vorstellung in Erinnerung, die bis jetzt noch immer unübertroffen ist. Der letzte „Siegfried“ in Bayreuth mit meinem absoluten Lieblingssänger in der Hauptrolle.
Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll zu erzählen. Vielleicht müsst ihr wissen, dass wir Mädels damals, Anfang der 90er auf gut Glück, ohne Eintrittskarten einfach dorthin gefahren sind, um uns für Karten anzustellen, weil wir wussten, dass eben dieser Lieblingssänger dort singt. Mit viel Glück und Geduld – wir haben auf der Straße vor dem Kartenbüro übernachtet – hatten wir schließlich unsere allerersten Karten für den Grünen Hügel, auf dem wir übrigens nach der Oper im Schlafsack auf einer Wiese übernachtet haben. Es war genial, es war grandios, es hat, auch wenn das pathetisch klingt, mein Leben verändert. Ich wusste, dass mich nie wieder etwas Geringeres so glücklich machen würde. Und dass es kaum wieder etwas Besseres geben würde.
Darum kam es im vierten Jahr danach zu dieser unglaublichen letzten Aufführung. Inzwischen hatte sich unter Kennern herumgesprochen, was für ein Theaterwunder sich dort im Festspielhaus ereignete. Nur Idioten aus der Musikpresse und Kritiker hielten immer noch daran fest, dass es sich um eine minderwertige Inszenierung handelte, was wir Mädels einfach intuitiv besser wussten. Aber das machte es wirklich schwierig mit den Karten. Für die „Walküre“ bestand keine Chance. In einer kalten, regnerischen Nacht standen eine Japanerin und wir für die Tickets an, aber es gab nur eine einzige Karte für die tapfere Asiatin. Habe ich erwähnt, dass Männer in solchen Warteschlangen immer aufgeben? Ist so. Sorry, Jungs. Wir gingen an dem Tag leider leer aus. Umso größer war unser Jubel, als es zwei Tage später für den „Siegfried“ klappte. Wir waren so aufgeregt, dass wir mit offener Kofferraumklappe zum Schwimmbad fuhren, um dort nochmal zu duschen, bevor es in die Vorstellung ging.
Ich weiß noch, dass wir passend zur Oper in weiße Kleider schlüpften und mir die Knie zitterten, als wir das Festspielhaus betraten. Wir waren aufgeregt wie kleine Kinder, denn wir wussten, dass es bei einer Derniere immer auch zu Späßen auf der Bühne kommt. Vorher wurde mit anderen Besuchern gerätselt, was es denn wohl sein könnte, das sich die Sänger ausdachten. Wir hofften, dass der Tenor nicht wieder die Schwerter verwechseln würde wie im Jahr davor. Das wäre unfreiwillig komisch. Erst so nach und nach wurde uns bewusst, dass dies wirklich das letzte Mal war, dass wir diese Produktion sehen und hören konnten. Mir kamen die Tränen in dem Moment, als das Vorspiel aus dem Orchestergraben nach oben drang. Mir wurde heiß und kalt zugleich und ich musste mich zusammenreißen, nicht laut zu schluchzen. Meiner Freundin ging es nicht anders.
Was würde ich heute darum geben, wenn ich diese letzte Vorstellung noch einmal erleben dürfte? In der Pause versuchte uns ein anderer, älterer Wagnerianer zu trösten und meinte, wenn wir seinem Alter wären, hätte sich die Begeisterung für den „Ring“ gelegt und es gäbe nur noch den „Parsifal“. Ein Trost war das damals allerdings nicht. Ein anderer versuchte uns zu trösten, indem er meinte, unser Lieblingssänger würde gewiss auch nach Bayreuth noch an anderen Häusern den Wotan singen. Woher wollten diese älteren Wagnerianer wissen, was uns helfen könnte?
Es half jedenfalls alles nicht. Ich glaube, ich habe nie wieder eine Oper so intensiv erlebt. Für mich war dieser Sänger, den wir so liebten (und es noch tun!) die ideale Verkörperung des Göttervaters. Es gab keinen kräftigeren Tenor in der Heldenrolle und keine stimmlich schönere Walküre. Und das Dirigat von James Levine bleibt für mich der Maßstab, mit dem sich jeder andere Dirigent messen muss. Bestimmt habe ich damals während der gesamten „Wissenswette“ die Luft angehalten. Der besondere Dernieren-Gag war übrigens das Häkelmützchen des Regisseurs, das die Walküre unter ihrem Helm trug und das herausfiel, als Siegfried sie auf ihrem Felsen fand und ihr die Rüstung auszog. Es war herrlich lustig. Und als es wirklich wirklich zu Ende war, tobte der Applaus so laut und lang, wie ich es seither nur selten erlebt habe. Wir versuchten noch Fotos zu machen. Alle verwackelt. Wie wir das Festspielhaus verlassen haben, weiß ich nicht mehr, nur, dass wir irgendwann völlig aufgelöst, verschwitzt, verheult auf dem Parkplatz ankamen. Unendlich glücklich und unendlich traurig zugleich.
Heute, so viele Jahre später, ist dies noch immer eine Aufführung, die unübertroffen geblieben ist in ihrer Intensität. Dass wir sie erleben durften, erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit, denn was sich damals noch anfühlte wie die jugendliche Hysterie zweier Mädchen, war im Nachhinein eines der emotional tiefsten Erlebnisse, die ich mir vorstellen kann. Und manchmal, wenn ich in einer heutigen Aufführung mit anderen Besuchern ins Gespräch komme, muss ich lächeln, wenn sie mit Staunen hören, wie wir damals dabei waren und wussten, dass diese angeblich „minderwertige“ Produktion ein echtes Wunder war.
PS. Für den „Parsifal“ bin ich noch immer nicht reif genug.