Es war einmal ein weit entferntes Land hoch im Norden, wo in klaren Nächten bunte Zauberlichter den Himmel zierten und die Wölfe ihr ewiges Lied anstimmten. Dort stand auf einer einsamen Klippe am Meer ein hoher Turm, der aussah, als bestünde er aus reinstem Eis. So hoch war er, dass die wenigen Lebewesen, die ihn gesehen hatten, sich erzählten, man könne die Spitze nur erahnen. Tatsächlich war es kaum möglich, sie zu erkennen, denn an den meisten Tagen lag sie über einer Wolkendecke verborgen. An den wenigen Tagen, wenn die Sonne schien, dann reflektierten ihre Strahlen so hell auf dem Eis des Turmes, dass es unmöglich war, ihn mit bloßem Auge anzublicken. Kein Wunder also, dass man begann, sich die wundersamsten Dinge zu erzählen. Es hieß, der Turm sei vor langer Zeit von einem Magier erschaffen worden. Wenn man sich ihm zu sehr näherte, sollte man selbst zu Eis erstarren. Und angeblich lebte darin ein kaltherziger Jüngling, schöner noch als die Zauberlichter und das Sonnenlicht, aber einsam und grausam. Viele hatten schon versucht, einen Beweis für diese Geschichten vom Turm und vom Eisprinzen zu erlangen, doch gelungen war es noch keinem.
Da wurde eines Tages ein junger Falke vom Sturm so weit nach Norden geweht, dass er die Klippe am Meer erreichte und sich dort niederließ, um zu rasten. Die Möwen, die dort lebten, berichteten ihm von dem unheimlichen Turm oberhalb ihrer Nester und Höhlen, und auch von den Geschichten.
„Wie kommt es, dass ihr nicht mehr wisst“, wollte der Falke wissen. „Ihr könnt doch fliegen wie ich und nachschauen.“
„Wir fürchten uns“, sagten die Möwen. „Und so hoch wie du können wir nicht hinauf mit unseren Flügeln.“
Das verstand der Falke und versprach ihnen, dass er sein Bestes tun wollte, um herauszufinden, ob da jemand in dem Eis lebte. Gleich am Morgen, wenn er gerastet hatte, wollte er es versuchen.
Als der Morgen kam, versammelten sich die Möwen um den Falken. Sie wollten mit ihm gemeinsam fliegen, so weit sie es vermochten, um ihn anzuspornen. Und tatsächlich konnten einige von ihnen eine ganze Weile mithalten. Die Vögel zogen ihre Kreise um den eisigen Turm und stiegen dabei immer höher und höher hinauf, doch irgendwann war es nur noch der Falke, der weiter flog, selbst über die Wolken hinaus, bis keine der Möwen ihn mehr sehen konnte.
Er aber hielt gebannt Ausschau, ob sich ihm an den Wänden des Turmes irgendetwas zeigte. Seine Augen waren scharf und selbst so weit oben könnte er vieles erkennen, was anderen verborgen geblieben war. Da kam plötzlich ein kalter Wind auf, der ihn weiter und weiter aufsteigen ließ, gleichzeitig aber seinen kleinen Falkenleib gefährlich auskühlte. Er schlug schneller mit den Flügeln, um sich zu wärmen, doch es war bitterkalt und als er einige Rufe ausstieß, da gefror sein Atem in der Luft. Trotzdem wollte er nicht aufgeben und kämpfte sich abermals empor. Da sah er, nicht mehr weit über sich, ein Fenster in der eisigen Mauer. Es stand sogar offen und wenn er es erreichen könnte, dann würde sich ihm das Geheimnis des Turmes zeigen.
Mit letzter Kraft schlug er seine Schwingen und wirklich, es gelang, er landete auf dem Rand der Fensteröffnung. Vor Freude stieß er einen neuen, eisigen Ruf aus und noch bevor die Eiskristalle den Boden der Turmkammer erreichten, da sah er ihn: den Eisprinzen. Was die Möwen über seine Schönheit gesagt hatten, war nicht übertrieben. Er sah aus, als sei er aus Silber und Elfenbein, und sein goldenes Haar fiel ihm glänzend auf die Schultern herab.
„Wer bist du?“, fragte er den Falken mit einer Stimme, die ungewöhnlich sanft und warm klang, für jemanden, der grausam sein sollte und sie in der Einsamkeit des Turmes kaum genutzt haben konnte.
„Ich bin ein Falke und ich wollte herausfinden, ob es dich gibt“, sagte der Angesprochene und es kam ihm recht vor, den Kopf zu neigen, vor diesem schönen Jüngling.
„Aber natürlich gibt es mich. Es gab mich schon immer“, entgegnete der Eisprinz.
„Es heißt du seist grausam und allein.“
„Allein, ja, das bin ich. Aber ich bin nicht grausam. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, die für viele Lebewesen grausam scheint, doch für alle ist sie lebensnotwendig“, fuhr der Jüngling fort.
„Welche ist das?“, wollte der Falke wissen.
Der Prinz staunte. „Weißt du das denn nicht? Ich bin der Herrscher über den Wind und die kalten Stürme. Ich bringe Regen, Schnee und Eis. Ich halte das Gleichgewicht in Händen, das alle Natur braucht. Ich habe auch dich durch die Lüfte hierhergebracht.“
Jetzt wurde dem Falken alles klar. Das war ein guter Grund, warum der Eisprinz so hoch oben lebte und es erklärte, warum ihn viele für grausam hielten. Doch er war ebenso der Bewahrer wie der Vernichter von Leben. Es war notwendig, was er tat.
„Warum hast du mich zu dir geholt?“, fragte der Falke nun.
„Aus zwei Gründen: Ich mag nicht länger allein sein und ich brauche dich, damit du anderen von meiner Aufgabe erzählst. Sie scheinen es vergessen zu haben.“
Da freute sich der Falke, denn es gefiel ihm sehr, diesem schönen Prinzen zwei so wichtige Dienste erweisen zu können.
Und so geschah es, dass der Falke von der Spitze des Eisturmes über die Lande flog und von dem Eisprinzen berichtete, auf dass es alle Lebewesen wieder erfuhren, warum er oben in dem Turm hauste. Wenn der Vogel zurückkam, so erzählte er die abenteuerlichsten Geschichten aus fernen Ländern, die der kalte Wind erreichte und gemeinsam mit dem Eisprinzen lachte er und es kam sogar vor, dass sie gemeinsam sangen. Lieder, die oben im Turm die wunderbarste Melodie hatten und die wie ein wildes Tosen und Brausen klangen, wenn sie über die Ebenen und durch die Täler fegten.