In dem improvisierten Klassenzimmer wurde es ganz still. Auf dem harten Boden kauerten die Schüler und hielten sich immer zu zweit unter einer Decke warm. Einige von ihnen konnten es kaum erwarten. Die Kinder waren neugierig, denn sie hatten noch nie einen so alten Mann gesehen. Er war bestimmt hundert Jahre alt. Die Haut in seinem Gesicht hatte Falten, vor allem um die Augen, sie wirkte wie raues Leder und zeigte dunkle Flecken hier und da. Wie er es wohl geschafft hatte so alt zu werden? Die meisten Männer starben noch bevor sie fünfzig waren. Das lag an der harten Arbeit auf den trockenen Feldern oder auch an den gefährlichen Bedingungen der Jagd nach Treibstoff. Das wussten die Kinder. Unter ihnen waren sogar solche, die ihren Vater bereits verloren hatten oder auch ihre Mutter. Das war nicht ungewöhnlich. Alles was die Kinder wussten war, dass sie lernen mussten. Zuerst wie man überlebt und dann auch, welche Dinge es wert sind, zu überleben. Dafür war der Alte hier.
Er setzte sich auf einen Stuhl, auf den die Lehrerin extra ein fadenscheiniges Kissen gelegt hatte. Damit er es etwas bequem hat, hatte sie gesagt. Die Kinder wussten nicht was dieses Wort bedeutete, doch als der Mann sich setzte, lächelte er, als ob es ihm gefiele. Vielleicht hatte das etwas mit bequem zu tun. Als Nächstes wünschte die Lehrerin einen Guten Morgen und sagte, der Gast werde Nikodemus genannt und sie sollten ihm so begrüßen.
„Guten Morgen, Nikodemus“, wünschten sie.
Einige waren durch seinen Anblick noch immer wie gebannt und starrten nur mit offenem Mund. Zwei oder drei erschraken sogar, als er antwortete:
„Guten Morgen, Kinder.“
Seine Stimme war so seltsam. Wie das Knarzen von trockenem Holz oder der Angel einer verrosteten Tür. Dann war es die Lehrerin, die das Reden übernahm und den Schülern erklärte, warum Nikodemus gekommen war.
„Unser Gast ist heute hier, damit ihr ihm Fragen stellen könnt. Er ist ein Zeuge müsst ihr wissen. Jemand, der sich noch erinnern kann, wie diese Welt einmal gewesen ist, vor der großen Katastrophe. Er war ein Junge, ungefähr in eurem Alter, als sich alles veränderte. Aber viele Dinge weiß er noch und kann davon erzählen.“
Ein Schüler mit dunklen Knopfaugen meldete sich, um schon eine Frage zu stellen, bevor es überhaupt so weit war.
„Was ist denn, Jayjay?“ Die Lehrerin nahm ihn dran.
„Können wir alles fragen?“, wollte der Kleine wissen.
„Alles“, gab Nikodemus selbst die Antwort. „Und ich verspreche, dass ich alles erzähle, was ich noch weiß.“
Die Schüler murmelten. Das war wirklich aufregend! Jetzt meldete sich der erste mit einer echten Frage.
„Hast du damals die Sonne gesehen? Wie sah sie aus?“
Nikodemus nickte. Das war eine gute Frage, denn seit der Katastrophe war sie hinter undurchdringlichen Staubwolken in der Atmosphäre verschwunden.
„Sie wanderte über einen blauen Himmel. So blau, wie die Augen von einem kleinen Jungen oder Mädchen. Und sie war rund und strahlend. Man konnte mit bloßem Auge nicht hinsehen, sondern nur, wenn man sich die Hand davorhielt. Ich mochte die Sonne.“
Wieder tuschelten die Schüler. Seine Antwort gefiel ihnen. Ein Mädchen meldete sich.
„Stimmt es, dass damals auch Wasser herunterfiel? Vom Himmel, meine ich.“
Wieder nickte der Mann. Er hatte mit so einer Frage gerechnet. Immer wenn er von früher berichtete, waren die Kinder und selbst Erwachsene fasziniert davon, dass das Wetter so ganz anders war. Dass es normal war, wenn Regen fiel. Es gab sogar Flüsse, in denen noch Wasser floss. Ganze Meere, Ozeane voll davon.
„Das stimmt“, begann er zu erzählen. „Es war im Grunde überall. Es war in den Bächen und in den Seen. Man hörte es plätschern oder sogar rauschen. Wenn die Sonne schien, dann stieg es unsichtbar durch ihre Kraft auf und irgendwann kam es als Regen wieder herunter. Und manchmal, wenn man ganz früh am Morgen schon aufstand, dann hing es als Morgentau an den Gräsern. Die waren grün und frisch und alles leuchtete wie Silber. Sogar in den Spinnweben hingen tausende kleiner Tropfen und sie sahen aus wie Perlenketten.“
Die Kinder staunten. So etwas war doch gar nicht möglich? Aber Nikodemus hatte es so schön beschrieben, dass sie sich wünschten, sie hätten es gesehen.