Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn du tot wärst!!!
Jo starrte auf das Display seines Handys und konnte es nicht fassen, dass dieser Satz wirklich da stand. Wie war das möglich, dass ihn seine eigene Schwester so hasste? Er konnte fühlen, wie sich sein Herz verkrampfte, es kam ihm vor, als würde jeder einzelne Schlag in seinen Adern schmerzen, an ihm zerren, ihn fast zerreißen. Tränen stiegen ihm in die Augen. Aus Entsetzen, Wut, Angst sogar. Wie war das nur möglich? Er blinzelte und wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Augen. Dann schaute er nochmal nach. Ja, es stand da wirklich. Als erstes brach sich seine Wut nun Bahn. "Verfluchte Scheiße!", stieß er aus und feuerte sein Handy an die nächste Wand, wo es regelrecht zerschellte und seine Einzelteile irgendwo zwischen dem Bücherregal und dem Kratzbaum für die Katze auf die Erde niedergingen.
"Verflucht!", presste er nochmal hervor. Etwas leiser, aber nicht, weil der Schmerz nachließ, sondern weil ihm in den Sinn kam, dass auch dies verboten war und ihn der Hölle ein Stück näher bringen würde. Noch ein Stück. Du sollst nicht fluchen. Na, ganz toll! Wenn es nach seiner Familie ging, dann war sowieso alles, was er tat, ein Grund für ihn, in die Hölle zu fahren. Das war nie anders, aber die meisten Dinge, die ihn automatisch in den Fahrstuhl ins Fegefeuer befördern würden, hatte er bisher abstellen können. Er konnte abstellen, dass er sich mit anderen Kindern vor der Kindergärtnerin im Gebüsch versteckte, um ihr einen Schreck einzujagen. Er aß seinen Teller lehr, auch wenn es ihm nicht schmeckte, schon, weil ja die vielen kleinen Negerkinder in Afrika nichts zu essen hatten. Er ging mit seinen Eltern und Geschwistern jeden Sonntag in die Kirche, um sich dort ein noch schlechteres Gewissen abzuholen und neue Instruktionen für einen gottgefälligen Lebensweg. Da waren nur wenige Sonntage, an denen er behauptete, er habe Bauchschmerzen, weswegen er dann zuhause bleiben durfte. Ob er damals schon geahnt hatte, dass er nicht in dieses Weltbild seiner Familie passen würde? Er war nicht sicher. Er wusste nur, dass er die meiste Zeit, nach der Kirche, wirklich Bauchschmerzen hatte.
Und jetzt das: Wieder so eine Hassbotschaft von einer Schwester, einem Bruder oder sogar den Eltern. Cybermobbing über Facebook war offensichtlich ein gesegnetes Mittel, um dem schwarzen Schaf klar zu machen, dass es eine Schande war, für jeden von ihnen. Jo ließ sich an der Wand hinter sich zu Boden sinken. Seine Knie wollten ihn nicht mehr halten, er war einfach so schwer. Am Boden umfasste er seine Beine und zog sie fest an sich, rollte sich zusammen und hoffte, nicht auch noch heulen zu müssen. Diesen Gefallen wollte er ihnen nicht tun. Wenn sie sich das so vorstellten, würde es nicht passieren. Auch in der Hölle würde er keine Träne mehr vergießen, denn das hier war schon die Hölle. Schlimmer konnte es nicht werden.
Nach einer ganzen Weile, er wusste nicht, wie lange er so gelegen hatte, öffnete sich die Tür zur Wohnung und Jo fiel mit einem Mal ein, dass er nicht wollte, dass sein Freund ihn wieder so findet. Er ließ seine Beine los und versuchte, aufzustehen, doch er sackte wieder zusammen. Seine Beine waren wohl eingeschlafen.
"Ich bin zurück, Babe, wo bist du?", hörte er Kais Stimme.
Er antwortete nicht direkt. Vielleicht ging Kai erst in die Küche, um den Einkauf abzustellen und dann wäre er gleich aufgestanden ...
"Hey, Jo, was ist los?"
Sein Freund kam direkt zu ihm. Die Einkaufstüten ließ er fallen, setzte sich zu ihm und nahm Jo auf in seine Arme.
"Sag nicht, diese Mistbienen haben dich wieder vollgespamt!" Kais Stimme war beides: voller Unglauben über die Grausamkeit von Jos Familie und voller Zärtlichkeit.
Jo musste gar nicht antworten. Es gab nur diese eine Sache, die ihn so aus der Fassung bringen konnte. Er drückte sich dicht an Kai, der ihm immer Halt gab, wenn es so nötig war.
"Wann lassen die dich endlich in Ruhe?", nuschelte Kai dicht an Jos Ohr. Das war keine wirkliche Frage, obwohl es zu schön wäre, wenn es darauf eine Antwort gäbe.
"Weiß nicht", antwortete Jo dennoch, wenn auch nur, um zu testen, ob er überhaupt sprechen konnte. Er fühlte sich noch immer so verkrampft und vollkommen erschöpft. Diese Nachrichten nahmen ihm so viel Kraft!
"Wie wäre es, wenn du einfach nicht mehr an das Handy gehst?", schlug Kai vor und begann, Jo tröstend über den Rücken zu streichen. "Du kannst doch auf diese Leute verzichten, die dich nur fertig machen, für das, was du bist."
"Meinst du?"
"Ja sicher. Du hast jetzt mich und die sind dir keine Hilfe. Das waren sie nie."
Jo nickte. Er wusste, dass Kais Worte vernünftig waren und dass er sich auf ihn verlassen konnte. Trotzdem tat die Vorstellung so weh, alle Bande mit seiner Familie durchzuschneiden. Keinen Kontakt mehr mit ihnen zu haben. Abschied zu nehmen für immer, von der Vorstellung, dass vielleicht doch noch alles gut wird. Er war nur schwul, kein Schwerverbrecher. Wünschten sie sich ernsthaft, er wäre tot?
"Komm, hoch mit dir, Babe. Du kriegst erstmal 'nen Tee und dann zwanzigtausend Küsse."
Jo musste trotz allem ein wenig lächeln. Wenn es doch einen Gott gab, dann hatte der Kai zu ihm geschickt.