Eine kleine Fortsetzung zu „Ich bin nicht traurig. Ich fühle gar nichts.“
Der Hafen von Liverpool war einer der betriebsamsten Orte, den man sich vorstellen konnte. Erst recht, wenn ein großes Schiff wie die „Oceanic“ am Kai lag. Schon von Weitem waren ihre beiden Schlote und die zusätzlichen drei Masten zu sehen, die es dem Luxusliner möglich machten, den Atlantik in Rekordzeit zu überqueren. Die Maschinen hatten die Kraft von 28.000 Pferdestärken, mit denen sie die rauen Wellen des Weltmeeres durchpflügen würden. Bei der enormen Geschwindigkeit von neunzehn Knoten würden Schiff, Mannschaft und die Passagiere an Bord in kaum mehr als sechs Tagen New York erreichen. Unzählige Kutschen und Karren waren unterwegs, um das Gepäck und die Fracht über den Anleger zu befördern, und an Kränen und Gangways setzte sich die Geschäftigkeit fort.
In all dem Trubel und Lärm versuchte Lord Henry sein Automobil sicher zu steuern. Er war ein guter Fahrer und einer der Ersten, die ein solches Wunderwerk der Technik in England ihr Eigen nannten. Aber das war vollkommen unerheblich. Er war aufgeregt und seine Hände schwitzten in den ledernen Handschuhen, die sich an das Lenkrad klammerten. Zum Glück wichen Menschen und Kutschen vor dem motorisierten Gefährt zurück, sodass es dem jungen Mann beinahe erschien, als hätten sie Ehrfurcht vor ihm. Das hätten sie gewiss nicht mehr, wenn sie wüssten, was ihn zu dieser Fahrt bewegte. Er war streng genommen auf der Flucht. Ausnahmsweise nicht vor sich selbst. Diese Zeiten, in denen er versucht hatte, sein innerstes Selbst zu leugnen, waren längst vorbei. Es waren die Verpflichtungen seiner Familie gegenüber, vor denen er fortlief. Er hatte es versucht, alles gegeben, was für ihn möglich war, um ein gehorsamer Sohn und Erbe seines Vaters zu sein. Doch all das führte nicht zu dem erhofften Frieden. Es glich vielmehr einem langsamen Erstickungstod. Niemand würde den verheirateten Lord von Wutton-Cheshire des schändlichsten Verbrechens wider die Natur bezichtigen, aber er würde auch niemals wieder lächeln, tanzen, singen, leben.
Henry hupte und winkte vorbeilaufende Menschen an dem weinroten Rolls Royce vorbei, der sich im Schritttempo den Gangways näherte. Das Herz des Mannes aber hatte Mühe, im normalen Schritttempo zu bleiben. Immer wieder blickte er in die Rückspiegel, um zu sehen, ob ihm auch niemand folgte. Es wäre nicht das erste Mal, dass sein Vater ihm irgendwelche Männer hinterherschickte, um Henry vor einem- wie der Duke es ausdrückte- schlimmeren Schicksal zu bewahren. Wie damals, als sein Sohn zum ersten Mal versucht hatte zu fliehen. Gemeinsam mit ihm, Rory, der Liebe seines Lebens. Die Handlanger seines Vaters stellten die beiden jungen Männer am Bahnhof Paddington, von wo es ihnen fast gelungen wäre, auf den Kontinent nach Paris zu verschwinden. Sie waren nicht schnell genug und offenbar nicht verzweifelt genug. Henry schauderte bei der Erinnerung daran, wie sie ihn in eine Kutsche zerrten und seinen Liebsten noch am Bahnsteig verprügelten.
Er hatte den Wagen nur zu diesem einen Zweck erstanden: Er war schneller als Pferde oder Kutschen. Sobald er die „Oceanic“ erreicht hatte, würde er alles hinter sich lassen. Familie, Titel, Ehefrau. Es war ihm gleich. Sie wäre ganz sicher besser dran, ohne ihn. Endlich war es so weit. Er stellte den Wagen ab, zog die Handbremse an, ergriff seinen Koffer und hielt Ausschau nach irgendeinem Hafenarbeiter, dem er die Schlüssel in die Hand gab.
„Hier guter Mann“, erklärte er mit einem Lächeln. „Heute ist unser Glückstag. Ihnen gehört jetzt dieser Wagen und ich mache mich auf zu neuen Ufern.“
Der Beschenkte konnte es im ersten Moment gar nicht fassen. Er starrte Lord Henry hinterher, der inzwischen die Gangway erreicht hatte.
„Danke Sir, vielen Dank!“, rief der Mann und winkte dem jungen Lord zu. Dieser drehte sich noch einmal um, dann ging er an Bord. Dieses Mal gab es kein zurück und er würde alles tun, um Rory O’Malley in einer besseren Welt zu finden.