Als Kind, vor allem als Kleinkind, gab es für mich nichts Schöneres, als den Wald mit all seinem Grün, seinen Geräuschen, den unzähligen Pflanzen und Lebewesen darin und dann dieser herrliche Geruch nach Erde und Moos oder Schlüsselblumen. Nirgends gab es einen besseren Spielplatz und ich erinnere mich auch an die Geborgenheit, die ich darin stets empfunden habe. Viele Spaziergänge machten meine Eltern am Wochenende mit mir im Kinderwagen, was ich jedoch nur von Fotos kenne, oder in der Karre und in der Woche war ich viel mit meiner Oma dort, die auf mich Acht gab. Später trug mich mein Vater oft auf seinen Schultern und Oma, sie hielt mich an der Hand. Dann, als mein kleiner Bruder hinzukam, da waren wir als Familie zu viert. Doch die Waldspaziergänge mit Oma, da waren meistens nur sie und ich. Ich war oft bei ihr, wenn meine Mutter sich allein um meinen Bruder kümmerte.
Einmal, als wir ohne meinen Vater, aber zusammen mit Oma im Wald spazieren gingen, daran kann ich mich noch erinnern, da hat ein Baum meinem kleinen Bruder das Leben gerettet.
Ich kannte mich dort so gut aus, dass ich vorweg lief und meiner Mutter die Maiglöckchen zeigen wollte, die Oma und ich am Tag zuvor entdeckt hatten. Sie waren etwas abseits vom Weg, gleich an dem Hang daneben. Dorthin rannte ich und rief nach meiner Mutter. Sie ließ den Kinderwagen stehen und kam zu mir, weil sie die Maiglöckchen sehen wollte. Da rollte der Wagen schon auf den Abhang zu. Er musste so unglücklich gestanden haben, dass seine Räder dem Hang und nicht dem Verlauf des geraden Weges zugewandt waren. In dem Moment, als ich das sah, schrie ich auf und meine Mutter drehte sich, doch da war der Wagen schon über den Wegesrand gerollt. Zum Glück stand da ein junger Baum, in dessen Ästen er sich verfangen hatte. Eine Fahrt, den ganzen Abhang hinunter, hätte das Baby sicher nicht überlebt. Meine Oma hatte noch versucht, den Wagen zu halten, war jedoch zu spät gewesen.
Gemeinsam mit meiner schimpfenden und zeternden Mutter zog sie den Wagen aus dem Baum heraus und wieder auf den Weg. Dann versuchte Oma, ihre Tochter zu beruhigen.
„Es ist nichts passiert. Es ist ja nochmal gut gegangen. Hattest du die Bremse nicht festgestellt?“, sind so die Gesprächsfetzen von Oma, an die ich mich erinnere.
Deutlicher erinnere ich mich an die Worte meiner Mutter und ihre Hysterie. „Das ist alles deine Schuld. Wegen dieser blöden Blumen könnte dein Bruder jetzt tot sein. Pflück deine Maiglöckchen und lass mich damit in Ruhe. Dein Bruder könnte jetzt da unten liegen, wegen dir!“
Verstanden habe ich diese Situation damals nicht. Nur, dass ich fast meinen Bruder getötet hätte. Mit Oma habe ich nicht darüber gesprochen, weil ich mich so geschämt habe. Aber ich habe kleine Zettel geschrieben und Blumenbilder gemalt. Für den jungen Baum. Ich habe sie ihm in die Äste gehängt, als Dank, weil sie meinen Bruder vor meiner Dummheit gerettet haben. So war das damals.