Ruhig! Bei den Monden, ich muss ruhig sein! Panisch presste ich beide Hände auf meinen Mund. Ich zwang meinen Körper zur absoluten Regungslosigkeit. Es fiel mir schwer – unfassbar schwer. Bilder von Blutegeln an meinen Beinen oder anderem Gewürm zwischen meinen Zehen bildeten sich unwillkürlich in meinem Kopf. Verpassten mir einen fürchterlichen Schauer nach dem anderen. O Gott! Ich durfte einfach nicht daran denken, welches Getier sich hier im Schlick und Schlamm tummelte, in dem ich immer weiter zu versinken drohte. Es ist egal. Muss mir egal sein! Ich schluckte also meinen Ekel herunter und gab keinen einzigen Laut von mir. Dafür verriet mich aber mein Herz! Es donnerte schrecklich laut in meiner Brust. Ich war mir sicher, dass meine Verfolger über mir es jeden Moment hören konnten. O bitte, Gott des Wassers, so hilf mir doch! Sie dürfen mich hier nicht finden! Bitte lass sie schnell weiterziehen!
“Auf dem Anwesen ist sie ganz sicher nicht?”, fragte plötzlich eine raue Männerstimme. Ich kannte ihn nicht, wollte aber auch gewiss keine nähere Bekanntschaft mit ihm machen. Sicherlich ist er ein Angestellter von diesem Mörder!
“Ja, das ist sicher. Ich fand an einem der Dornenbüsche ein Stück Stoff ihres Gewands”, sprach jemand anderes – klang nach diesem Richard, der komische Haus- und Hofmeister. Er war genau so ein widerlicher Kerl, wie der Graf selbst.
“Sie ist zu Fuß unterwegs. Keins der Pferde fehlt. Meine Leute patrouillieren bereits alle Straßen in Rotterval. Sie sollte also bald gefunden werden. Möglich wäre allerdings auch, dass sie jemand versteckt. Ich werde deswegen noch die Stadtbewohner in die Suche mit einbeziehen.”
Ich schluckte schwer an dem Kloß in meiner Kehle und glaubte, gleich daran ersticken zu müssen. O Gott! Diese Stimme gehörte zweifellos dem Sektorand! Wieso hilft er ihnen? Wieso hilft sogar der Gesetzeshüter unserer Stadt diesen miesen Schweinen? Wo sollte ich denn jetzt noch hin? Er war doch meine letzte Hoffnung gewesen.
Mein Körper wollte sofort vor Verzweiflung aufgeben – unweigerlich zitterten meine Beine. Im Wasser zeichneten sich schon immer größer werdende Wellen ab. O Gott! Gleich werden sie mich noch entdecken! Ich bemühte mich, schnell wieder jedwede Bewegung einzustellen. Ich wollte die Männer auf der alten Steinbrücke über mir, nicht doch noch auf mich aufmerksam machen. Meine Tränen konnte ich allerdings nicht länger unterdrücken und unweigerlich folgte darauf ein Schluchzen. O Gott der Monde, bitte, lass sie mich nicht hören! Meine Hände zwang ich fester noch auf meine Lippen. Sie dürfen mich nicht finden! O bitte, bei allem, was mir heilig ist!
Meine Lungen verlangten bereits entsetzlich nach Sauerstoff. Durch meine Schniefnase bekam ich schon kaum mehr Luft und dann – hielt ich es nicht mehr länger aus. Ich sackte in dem stillen Bachlauf laut plätschernd auf die Knie und keuchte entsetzlich. Weinte. Es passierte alles so schnell – kam wie eine Urgewalt über mich, ohne dass ich es verhindern konnte. Als ich meinen Zusammenbruch dann endlich realisierte, weiteten sich meine Augen und ich hielt vor Schreck abrupt inne. Ich schlug mir zwar noch die Hände auf den Mund, aber es war zu spät. Diesen Lärm hatten sie sicherlich mitbekommen. Ich bin verloren! Oder? Verwirrt lauschte ich und hörte seltsamerweise niemanden. Schnell kämpfte ich mich auf meine wackeligen Beine, was mich in Anbetracht des ganzen Schlamms hier sehr viel Kraft kostete. Ängstlich lehnte ich mich an den bröckeligen Steinbogen der Brücke und horchte erneut. Wartete auf ein Geräusch der Männer, die sich doch eben gerade noch dort oben beraten hatten. Als ich nach einer Weile nichts hörte, wagte ich sogar meinen Kopf aus meinem dunklen Versteck. Niemand schien mehr da zu sein. Ich war ihnen tatsächlich entkommen?
Na ja – fürs Erste, aber was bringt mir das jetzt noch? Mein einziges Ziel war Hellkus, unser Sektorand gewesen. Ich wollte ihm vom Mord an meinen Eltern berichten, von meiner Entführung und der Zwangsheirat. Aber jetzt? Er steckte ganz offensichtlich mit diesem widerlichen Monster Ludwig unter einer Decke. Hatte die Straßen für ihn abgesperrt, um mich einzufangen. Was soll ich jetzt nur machen? Eine Flucht durch die Wälder ist sinnlos. Die Sonne ging gerade unter und egal, wie gut ich mich immer in der Natur zurechtfand, so würde ich im Dunkeln den richtigen Weg sicherlich nie finden! Ich würde ziellos umherirren und ihnen sicherlich leicht in die Hände fallen. Hellkus besaß schließlich Leute mit Spürhunden, die konnte ich hier im kniehohen Fluss gut abschütteln, aber an Land? Im düsteren und unheimlichen Wald? Wie sollte ich zudem die Mauer dahinter überwinden? Bei den Einwohnern der Stadt konnte ich auch keinen Unterschlupf finden. Die hassten und fürchteten mich. Allein ein Dorf außerhalb hätte mir jetzt noch helfen können, aber – wie sollte ich es nun noch aus Rotterval heraus schaffen?
Auf einmal drang das kräftige Traben von Pferden an meine Ohren und sofort presste ich mich wieder enger an das Mauerwerk der Brücke. Diesmal hielten sie nicht, sondern ritten einfach weiter. Hm, vielleicht ein Suchtrupp von Hellkus oder Ludwig selbst? Wenn ich noch länger hier verweilte, würden sie mich sicherlich früher oder später finden. Und das darf nicht passieren! Ich werde diesen Mörder niemals heiraten! Nie! Schluchzend und mit zitternden Händen umschlang ich meinen bebenden Körper. Wut aber auch Kälte nahmen alles von mir ein und brachten erneut lästige Tränen hervor. Gott, ich konnte meine Finger und meine Beine kaum noch spüren. Ich musste mich bewegen – konnte nicht länger in diesem eisigen Wasser bleiben. Erschöpft raffte ich mein von Schlamm und Dreck gezeichnetes Kleid. Dass es einmal schneeweiß gewesen war, konnte man mittlerweile kaum noch erkennen.
Ich watete zügig durch das kniehohe Wasser der Sival und schleppte mich weiter zum mannshohen Schilf. Vielleicht konnte ich mich bei den alten Fischerhütten vorerst verstecken und etwas ausruhen. Ich fühlte mich inzwischen nur noch müde, schwer, eisig und hungrig. Mit einem Wort: elendig. Ich brauche dringend eine kleine Rast – nur ganz kurz. Ja, innerlich verfluchte ich mich selbst, meine Flucht nicht besser geplant zu haben. Aber, wie konnte ich denn auch sowas vorhersehen? Mit solch einem Verlauf für mein Leben rechnen? Gestern wollte ich noch mit meiner wenigen Habe den Grafen um Hilfe bitten – und jetzt? Jetzt wollte dieser mich gegen meinen Willen heiraten. Offenbarte mir bei einer gemütlichen Tasse Tee, dass er den Auftrag zur Ermordung meiner Eltern erteilt hatte. Einfach so. Als wäre es eine unbedeutende Nachricht. Dieser elende Bastard!
“Ahhhh!”, schrie ich plötzlich auf und stürzte der Länge nach ins kühle Nass. GOTT! Ich bin auf irgendetwas Scharf-Einschneidendes getreten! Der sengende Schmerz zog sich hoch bis in meine Haarspitzen. Ich konnte mich nicht wieder aufrichten, sondern nur nach meinem Fuß greifen – meine Wunde halten, einfach weil Schmerz alles war, was ich gerade fühlte. Es brannte. Sogar schlimmer noch, als ich mal an den glühenden Ofen in unserer Bäckerei gefasst hatte. Ich unterdrückte weinend einen weiteren Schrei, biss krampfhaft meine Zähne zusammen und wog mich im Wasser. Die Kälte half. Der erste Schock über die Verletzung wich langsam und dann ziemlich schnell, als ich erneut Pferde hörte. Ohhhh NEIN! Überhastet schwamm-humpelte ich ins Schilf und blieb, so gut es eben ging, unter Wasser. Ich drückte mich in den Schlamm. Jetzt, wo ich schon komplett durchnässt war, machte dies ohnehin keinen großen Unterschied mehr.
“Hier! Sammelt euch!”, hörte ich jemanden rufen und sah dann auch, wie sich eine beachtliche Menschenmenge zusammen drängte. Fackeln und Laternen hatte sie dabei – einige waren sogar auf Pferden. “Wie bereits erwähnt, wurde heute die Verlobte des Grafen aus seinem Anwesen entführt!”
Was?! Aber das stimmt doch überhaupt nicht! Ich bin weder seine Verlobte, noch hat mir jemand geholfen zu fliehen. Die ganzen Angestellten haben es einfach hingenommen, dass man mich dort gegen meinen ausdrücklichen Willen festhält!
“Sucht im Wald! In jedem Haus! In jedem Winkel! Der Graf van Rotterval zahlt für seine geraubte Braut jeden Preis!” ... Jubel erklang. Ich stutzte indes nur. Wie, jeden Preis? Warum will der Wahnsinnige denn ausgerechnet mich?! Der ist doch verrückt! Schockiert beobachtete ich, wie die Menschenmasse sich eifrig verteilte. Vereinzelte spähten auch kurz unter die Brücke, wo ich zuletzt war. Mein Herz wollte gar stehenbleiben, als einer mit seiner Fackel nun auch in meine Richtung schwenkte. O Gott! Er sah mich aber zum Glück nicht. Meine Verletzung, hatte also auch etwas Gutes. Andernfalls wär ich diesem irren Mob sicherlich direkt in die Arme gelaufen.
Ich wartete bewegungslos noch eine ganze Weile in meinem matschigen Versteck. Sah, wie die Stadtbewohner akribisch die Fischhütten durchkämmten und dann weiter rannten – weiter suchten. Letztlich wusste ich nicht, wie lange ich hier ausharrte. Es wurde schon richtig dunkel, als sich endlich das letzte Licht soweit entfernt hatte, dass ich mich hinaus wagte. Meine Zähne klapperten fürchterlich. Ein Wunder, dass mich noch keiner entdeckt hatte.
Ich muss weiter. Immer weiter! Stocksteif bewegten sich meine Gliedmaßen. Fast hätte ich es nicht geschafft aufzustehen. Etwas dankbar war ich dennoch. So spürte ich vor lauter Kälte nur noch ein dumpfes Pochen in meinem linken Fuß. Wie eine alte Frau schleppte ich mich langsam zu den Schuppen der Fischer und schlich bei einer angelehnten Türe hinein. Ich tastete mich vorsichtig im schwarz-grauen Inneren entlang. Wirklich was fühlen, konnte ich dabei nicht. Meine Finger waren durch und durch taub. Ooohh, mir ist so verdammt kalt. Gerne hätte ich jetzt ein Feuer entfacht oder in einer heißen Wanne gelegen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal so sehr gefroren hatte. Oder jemals. In Papas Backstube war es immer herrlich mollig gewesen uuund erst dieser liebliche Duft nach seinen wunderbaren Broten. Mein Magen knurrte unweigerlich bei diesem Gedanken und das Wasser lief mir im Munde zusammen. Toll. Das fehlt mir gerade noch.
Schniefend wankte ich in eine Ecke, hinter irgendetwas und ließ mich erschöpft fallen. Ich hörte Holz knarren. Vermutlich lehnte ich an einem Boot. Mit letzter Kraft zog ich meine Knie an und machte mich ganz klein. Ich weinte. Ich konnte nicht mehr weiter, das wurde mir schmerzlich bewusst. Ich konnte hier nirgendwo hin und es war nur eine Frage der Zeit, bis man mich fand.
*
Ich musste dann irgendwann eingeschlafen sein, denn mit einem Mal sah ich Licht durch diverse Spalten in den Schuppen fallen. Der erste Schreck, dass es von Fackeln oder Laternen stammen könnte, wich allerdings schnell. Es war nur das Mondlicht, stellte ich erleichtert fest, wenn auch noch elender fühlend als zuvor. Mein kurzer Schlaf in der zugigen Hütte und auf dem kühlen Boden hatte meinem Körper nicht gutgetan. Mein Fuß meldete sich auch mit diesem schmerzlichen Pochen zurück. Meine Situation hatte sich nicht verbessert.
Was soll ich denn jetzt tun? Soll ich draußen weiter meine Flucht versuchen? Hm, ich bin nicht sonderlich schnell, aber vielleicht findet sich ja irgendwo eine Möglichkeit. Zu meinem alten Freund kann ich ja nicht. Dort würden sie mir sicherlich auflauern. Mein Bein muss zudem versorgt werden, vielleicht hat jemand Mitleid mit mir. Es können sich doch nicht alle Menschen dieser Stadt gegen mich verschworen haben! Für was? Für Geld? Sie alle haben immer so gerne bei uns im Laden eingekauft! Es muss doch jemanden geben, der mir noch helfen wird ... Ja, klar. Wem mache ich hier eigentlich etwas vor?
Ich lächelte über meine eigenen dummen Gedanken. Ich hockte hier klitschnass und halbnackt in Stofffetzen, die man mir aufgezwungen hatte. Ein Hochzeitskleid sollte ich anprobieren für die morgendliche Trauung mit einem Mann, nein, einem Monster, welches meine Eltern brutal ermordet hatte. Ich gehöre ihm nicht! Nie! Eher sterbe ich! Schluchzend hielt ich mich mit meinen Armen umschlungen und erlag einem intensiven Heulkrampf. Ich konnte einfach nicht aufhören zu wimmern und zu bibbern. Ob vor Kälte oder Traurigkeit wusste ich dabei nicht einmal mehr. Pferdegewieher ließ mich dann abrupt zusammenzucken. Gott, sie suchten noch nach mir – und würden erst ruhen, wenn sie mich gefunden hatten. Es ist aussichtslos.
Ich starrte verschwommen ins Leere und dann auf das einfallende Weiß des Mondes. Ich blickte auf ein kleines Boot, kaum größer als zwei Mann. Das einfallende Licht zeigt mir also einen letzten Ausweg? Mit all der Kraft, die ich noch in mir aufbringen konnte, stand ich also stöhnend auf. Lebend – wird mich gewiss keiner kriegen! Ich hatte mich entschlossen. Ich hinkte zur Tür und schob diese vorsichtig auf, zog an einem dicken Tau das Boot auf der Führungsrille hinter mir her.
Gott! Ich muss mich beeilen! Das Knarren und Knarzen des Holzes wird sicherlich schnell jemanden anlocken! Panisch blickte ich mich um. Noch hat man mich nicht entdeckt, aber wie lange noch? Ja, nur noch ein Stückchen. Sobald ich erst einmal auf dem See bin, werden sie es sowieso nicht mehr rechtzeitig schaffen.
Hurtig ließ ich den Kahn zu Wasser, auch wenn ich dabei öfters ausrutschte und beinahe stürzte. Durch das grelle Mondlicht sah ich auch den Grund. Dunkle Fußabdrücke auf dem Holz. Blut? Ich nahm es zur Kenntnis. Spielte meine Verletzung doch nun keine Rolle mehr. Ich bestieg etwas ungelenk die wackelnde Nussschale. Fast wäre ich dabei umgekippt. Schwer ging mein Atem. Mein Herz raste. Ich brauchte einen Augenblick, um mich wieder zu fassen.
“O bitte lieber Gott des Wassers und der Monde, lass sie mich nicht sehen”, stieß ich noch flüsterleise ein Stoßgebet gen Himmel, bevor ich schnell ein Paddel vom Boden ergriff und langsam los ruderte.