Ich dachte noch eine Weile über das Menschsein nach und kam zu dem Schluss, dass ich es versuchen wollte. Ich konnte nie richtig Wasser und Eis sein, vielleicht war das nun meine neue Aufgabe? Dann würde meine Existenz endlich einen Sinn ergeben. Nicht mehr ein Fehler sein. Genau, das schien für mich doch recht schlüssig.
“Gott! Was stimmt nur nicht mit dir?!”, schimpfte Dezeria plötzlich, wodurch ich ihr erneut in die strahlend weißen Augen blickte. Sie sah immer noch so traurig aus. Hatte ich was falsch gemacht? War ich auch schon als Mensch defekt? Sollte ich sie fragen, was an mir nicht richtig war? Würde sie es wissen? Ich war mir nicht ganz sicher, jedoch schien sie immer wütender zu werden, je länger es zwischen uns still blieb. Ich entschied also, einfach mal zu fragen:
“Warum bist du wütend?” Fing ich erst einmal damit an, weil ich bereits ihre Traurigkeit angesprochen hatte, und das war ja irgendwie nicht richtig gewesen. Ojee, ich glaube, die Frage war auch falsch, da sie so etwas wie ein Knurren ausstieß und sich dabei schnaubend die Haare raufte. “Du hörst mir überhaupt nicht zu!”, schimpfte sie und langsam glaubte ich, dass sie mit mir nur schimpfen konnte. Ich wusste, dass Menschen nicht gerne ausgeschimpft wurden – dass es etwas Schlechtes war. Musste ich mich nun also schlecht fühlen? Ich wusste es nicht. Gerade fühlte ich alles mögliche – es war schwer, da etwas Genaueres auszumachen. Vielleicht war auch dieses ganze Aufgewühlte in mir, meine Form des sich Schlechtfühlens.
Nun begann es auch noch zu regnen. Natürlich tat es das. Mein Verstand wurde immer trüber. Ich hoffte nur, dass nicht noch ein Sturm entstand. Wenn ich keine Kontrolle darüber hatte, könnte sich Dezeria noch verletzen. Das wollte ich aber nicht. Ich wollte keine weiteren Schmerzen spüren – niemand sollte so etwas. Es war nicht schön. Es tat weh. Meine besorgten Gedanken ließen offensichtlich den Regen stärker werden. Ojee, das war nicht gut ...
Dezeria blickte kurz in den immer dunkler werdenden Himmel und dann wieder grimmig zu mir. “Hör auf damit! Ich will nicht, dass es regnet! Meine Sachen sind wegen dir schon ganz nass!” Ich wollte auch nicht, dass es jetzt regnete. Sollte ich ihr das sagen oder sollte ich jetzt etwas anderes ansprechen? Ich hatte mich noch nie mit jemandem unterhalten. Nur immer zugehört und beobachtet. Genau. Das war wohl das Einzige, was ich immer gerne gemacht hatte, seit ich denken konnte.
“Wieso bist du überhaupt noch hier? Du sprichst ja sowieso nicht mit mir und machst nur Ärger! Was bist du nur für ein schlechter Gott ...”, murrte sie, warf sich die Kapuze über und zog auch den Mantel enger um ihren Körper. Ich überlegte. Wegen dem “Ärger” war ich mir nicht ganz schlüssig, was dies zu bedeuten hatte und “wieso ich hier war?” nun, ich konnte mich nicht mehr lösen. Wobei lösen kannte sie vielleicht nicht – ich glaub verschwinden passte da besser. Aber wirklich verschwinden traf es auch nicht ganz und mit “Gott” konnte ich noch nie etwas anfangen. Dieses “Gott sein” war nämlich äußerst kompliziert. Viele sprachen davon, wenn sie beteten oder auch einfach so nebenbei. Sprachen von Dingen, die sie wollten, ob nun am Tage oder in der Nacht.
Ein Gott, war dabei für jeden etwas anderes. Lange Zeit hatte ich mich damit beschäftigt, zu ergründen, was genau dieser Gott sein könnte. Es gab Menschen, die sich selbst als Götter bezeichneten. Ich hatte sie mir alle angesehen, aber nichts an ihnen gefunden, was sie von den anderen Menschen unterschied. Dann gab es viele, die das Feuer und die Sonne als Gott verehrten – aber ich glaubte nicht, dass dies stimmte. Feuer brachte Licht, jeden Tag. Das war seine Aufgabe, aber hatte nichts mit den Wünschen oder Hoffnungen der Menschen hier zu tun. Er folgte seiner Bestimmung Tag für Tag. Ohne Fehler und ohne zu denken. Immer.
Zuletzt blieben da die beiden Monde. Wobei es sicherlich noch viele kleinere Gruppen gab, aber als ich mich mit den Monden beschäftigte, hörte ich auf, weiter noch zu suchen. Ich mochte sie. Ich wusste nicht, was es genau war, aber ich mochte sie, wie sonst nichts auf der Welt. Einer weiß, wie Eis und der andere blau, wie Wasser. Eine Ewigkeit lang dachte ich sogar, sie wären ein Teil von mir. Aber ich hatte nie Kontrolle über sie. Vielleicht hatte ich was bei meiner Entstehung falsch gemacht. Vielleicht sollte ich auch ursprünglich, wie Feuer am Himmel bleiben und hatte zwar Eis und Wasser zu den Sternen getragen, aber es nicht geschafft alles von mir zu wandeln. Ich war halt immer schon kaputt gewesen ...
“Bei den Monden! Ich hasse dich!”, schimpfte Dezeria wütend, wandte sich um und ging fort. Dies verwirrte mich. Was hatte ich jetzt falsch gemacht? Ich sah ihr, durch den immer stärker werdenden Regen lange hinterher. Sie schlug die Richtung ein, aus der wir vorhin gekommen waren. Wieso? Ich verstand zwar nicht, warum sie nicht zurückwollte – warum sie ihren Platz und ihre Aufgabe nicht annehmen wollte, aber ich akzeptierte dies. Vielleicht hatte es ja einen Sinn, den ich noch nicht verstand. Vielleicht musste man dazu länger Mensch sein. Vielleicht ... würde ich es aber auch nie verstehen, weil ich einfach nicht richtig funktionieren konnte.
Ich blickte auf und erkannte, dass Dezeria schon einen großen Abstand zwischen uns gebracht hatte. Sie war wirklich schnell oder stand ich etwa schon so lange hier untätig herum? Schnell folgte ich ihr, da ich nicht wusste, wo ich sonst hingehen sollte, und außerdem war ich ja noch irgendwie an sie gebunden. Es erschien mir daher am sinnvollsten, an ihrer Seite zu bleiben – beziehungsweise mehrere Meter hinter ihr.
*
Dezeria blickte ein paarmal zurück. Ich glaubte auch mal, eine Beschimpfung in meine Richtung zu hören, aber da war ich mir nicht ganz so sicher. Sie klang jedenfalls wütend. Der Regen ließ leider auch nicht nach, was den Weg sehr matschig und rutschig werden ließ. Ich selbst wäre fast hingefallen. Das war neu. Ebenso wie das Gefühl an meinen Füßen. Ich fühlte den weichen Boden – das nasse Gras oder hin und wieder festere Steine. Was mich ebenso verwirrte, ich spürte zunehmend die Regentropfen auf meinem Körper. Das hatte ich noch nie. Es war ... gewöhnungsbedürftig.
Probeweise streckte ich meine Hände vor und drehte die Handflächen spielerisch. Kleine Rinnsale flossen zwischen meine Finger – über meine Arme und auch in der Luft konnte ich noch das Wasser lenken. Ich war also doch noch ein bisschen Wasser. Würde mir dies erhalten bleiben, selbst wenn ich nun ein Mensch war? Oder war ich doch kein richtiger? Vielleicht dauerte es nur etwas, aber falls nicht, war ich dann jetzt vielleicht doch ein Gott? Ich überlegte. Wenn ich nun einer war, müsste Dezeria ja auch einer sein. Wir beide waren anders als die übrigen Menschen, oder vielleicht waren wir jetzt auch einfach nur beide kaputt. Ojee, dann hatte ich sie kaputt gemacht.
“AAHHH! NEIN!”, hörte ich sie plötzlich panisch aufschreien, wodurch ich verwirrt nach vorne blickte. Ich sah, dass ihre Erscheinung mit einem Mal nur noch halb so groß war. Seltsam. Ich überwand hurtig die paar Meter und fand gleich die Ursache dafür. Sie versank gerade im Moor – steckte bereits bis zur Hüfte darinnen. “O Gott! Bitte! BITTE! Hilf mir!”, rief sie ängstlich und versuchte, sich irgendwo festzuhalten, wodurch sie nur noch schneller in dieser Pampe versank. Ich verfolgte ihren Kampf und wunderte mich immer mehr darüber. Sie war doch Eis. Wieso befreite sie sich nicht selbst?
“VERDAMMT! ZERIAN!”, schrie sie verzweifelt, während der Schlamm ihr bereits bis zum Halse kroch. Es dauerte allerdings noch einen Moment, ehe ich begriff, dass sie wohl mich damit meinte – meine Hilfe wollte. O ja, natürlich! Ich versuchte sofort, das Wasser in der Luft und der Erde zu lenken, was aber nicht so klappen wollte ...
Als Dezeria schließlich ganz zu versinken drohte, konzentrierte ich mich allein darauf, sie einfach nur zu befreien. Es klappte gerade noch rechtzeitig. Das Wasser schlängelte um ihren Kopf, direkt in die Tiefe und zog sie umgehend aus dem Moor. Ich war also doch noch Wasser und konnte es steuern. Auch wenn ich es mir nun sehr gezielt vorstellen musste – nicht so wie sonst, wo Wasser und Eis vollkommen intuitiv agierten. Das war neu und absolut inakzeptabel. Ein Befehl hatte zuvor, selbst in meinem defekten Zustand, immer ausgereicht.
“D-danke ...”, hustete und keuchte sie erschöpft. “F-für ... für einen Moment dachte ich, d-du würdest mir einfach beim Sterben zusehen.” Ich betrachtete sie und überlegte, was ich darauf antworten sollte. Sie klang nun nicht mehr wütend – dies an sich war doch etwas Gutes, oder? Auch wenn sie gerade eher fürchterlich aussah. Ihr Körper war von oben bis unten mit Schlamm bedeckt.
Plötzlich erfassten mich wärmende Sonnenstrahlen, was mein Blick verwirrt zum Himmel führte. Es hatte also auch aufgehört zu regnen. Dies hatte ich aber nicht beeinflusst. Oder doch? Stimmt. Ich fühlte mich besser – ruhiger. Dies sollte ich also mehr beachten, wenn ich fortan wollte, dass das Wasser meinem Willen folgte. Ojee, wieso musste das jetzt alles so kompliziert sein?
“Aus-ausgerechnet jetzt stoppst du den Regen?”, hörte ich Dezeria flüstern, was mich dazu brachte, sie erneut anzusehen. Sie lag noch immer keuchend auf dem Rücken und tat nichts weiter, als freudlos in den Himmel zu starren. “Wieso, tust du das eigentlich alles?” Ich überlegte. Was könnte sie meinen? Sie hatte mich doch um Hilfe gebeten und ich konnte sie ohnehin nicht in dem Moor versinken lassen. So war es doch jetzt besser. Sie war ruhig. Ich war ruhig. Sie war Eis und ich immer noch Wasser.
“Weißt du was? I-ich gebe auf”, begann sie und ich fühlte deutlich, wie etwas in mir wieder aufgewühlt wurde. “I-ich kann nicht mehr u-und ... und weiß sowieso nicht wohin es geht ...” Sie weinte. Sie lag da im Gras und weinte, aber ich verstand nicht wieso. Wolken zogen leicht am Himmel, aber ich konzentrierte mich sofort darauf, dass es nicht erneut los regnete. Dies hatte sie vorhin schon nicht gemocht und ich wollte ihre Traurigkeit nicht noch schlimmer machen.
*
Es dauerte eine ganze Weile bis sie aufhörte, so bitterlich zu weinen und nur noch Schluchzgeräusche von ihr kamen. Sie hatte sich mittlerweile zur Seite gerollt und so klein wie möglich gemacht, während ich nur daneben stand. Ich betrachtete sie, wie ich sonst immer die Menschen betrachtete. Da ich mich nicht lösen konnte und sonst nicht wusste, was ich tun sollte, hielt ich das für eine gute Idee. Na ja. Ich hatte viele gesehen, die traurig waren – sie wurden getröstet von denen, die sie liebten. Ich überlegte lange, ob ich sie vielleicht in den Arm nehmen sollte, verwarf es aber dann. Ich war nicht dieser jemand. Ich war Wasser.
“Du ... du kannst mich ... jetzt zurückbringen”, sprach sie noch immer sehr traurig klingend, aber das verstand ich nicht. “Ich kann nicht mehr ... Bitte ... mach was du willst.” Ich überlegte, was ich darauf erwidern konnte. Ich entschloss mich schließlich einfach zu fragen: “Was meinst du? Ich kann mit deinen Worten leider nicht viel anfangen.” Sie richtete zittrig ihren Oberkörper auf und wischte sich dabei etwas Matsch aus dem Gesicht. “Du wolltest mich doch zum Grafen bringen.” Zurück zum Grafen? Nein, dies hatte ich gewiss nicht vor. “In dein Dorf. Wo dein Platz ist und du hingehörst.” “Aber das ist doch dasselbe!”, wurde ihre Stimme nun wieder verärgerter, was ich aber nicht verstand. Das Dorf in Rotterval war doch ihr Zuhause. Dies wusste ich ganz genau.
“Ach, mit dir zu reden ist vollkommen sinnlos!”, schimpfte sie und mühte sich wankend aufzustehen. “Bring mich dahin, so wie du es wolltest!” Ich war nur noch verwirrt, aber wenn sie nun doch an ihren Platz wollte, war es mir nur recht. Ordnung war immer richtig. Alles musste dorthin, wo es hingehörte. Wie es vorbestimmt war.
Ich zeigte in die Richtung, in die wir mussten, wodurch sie mich jedoch nur grimmig ansah. “Was soll das jetzt?”, fragte sie und schien auf etwas zu warten. “Es geht da entlang”, antwortete ich, aber das schien sie sofort weiter zu verärgern. “Hier ist überall Moor! Willst du, dass ich wieder versinke? Trage mich so wie das letzte Mal auf deinem Wasser oder Eis! Diese Magie eben!” Ich sah sie an und überlegte. Konnte ich das Wasser dazu kriegen? Prüfend blickte ich danach zu Boden und versuchte, einen schwebenden Fluss entstehen zu lassen. Ein, zwei Rinnsale erhoben sich auch aus der Erde, fielen aber wenig später wieder effektlos herunter.
“Was war das? Hast du etwa keine Magie mehr übrig?”, fragte sie verwirrt und ich wusste nicht, wie ich das beantworten sollte. Wasser hatte ich genügend, daran lag es nicht. Vielleicht stellte ich es mir nicht genau genug vor. Mir wurde dies schnell zu anstrengend – war so gar nicht meins. Ich musste mir nie so viele Gedanken darum machen, wie, wo und was genau mein Wasser machen sollte. Es tat es einfach. Immer.
“Du bist wirklich zu gar nichts zu gebrauchen oder? Bist du überhaupt ein richtiger Gott?” Ich überlegte. War ich es? Ich hatte darauf keine Antwort, aber ich bezweifelte es. “Bei den Monden! Wieso antwortest du nie?! Das macht mich wahnsinnig! Du willst also jetzt keine Magie machen? Gut. Schön! Und nun? Soll ich hier sitzen und warten?! Oder einfach durch das Moor gehen und darauf hoffen, dass du beim nächsten Mal nicht so lange zögerst, wenn ich versinke?” “Wieso gefrierst du den Boden nicht und gehst gefahrlos drüber?”, fragte ich, denn das schien mir als die brauchbarste Lösung.
“Soll das ein schlechter Scherz sein?”, fragte sie und stellte sich deutlich wütend vor mich. “Du hast gefragt. Ich habe geantwortet. Wieso bist du deswegen sauer?”, fragte ich und wartete. Ich betrachtete ihre zitternden Hände und rechnete fest damit, wieder einen Schlag von ihr zu bekommen. Es war für mich nicht neu. Ich hatte viele Menschen gesehen, die einander geschlagen hatten. Einige für Geld, wieder andere, um Macht zu demonstrieren oder um zu bestrafen. Mir war nur noch nicht ganz klar, wofür ich es bekommen würde. Vielleicht gab es ja auch noch weitere Bedeutungen. Menschen waren kompliziert.
“Du sagtest, ich soll den Boden einfrieren?! Ich kann sowas nicht! Du bist doch hier der möchtegern Gott!”, schimpfte sie und fuchtelte mit den Armen vor meiner Nase rum. “Du bist jetzt Eis. Ich bin nur noch Wasser”, sagte ich und sah, wie sich ihre Augen weiteten. “Nein ... Du ... du hast aus mir nicht wirklich eine Hexe gemacht? Oder?”, fragte sie nun sichtlich schockiert. “Du bist Eis”, wiederholte ich und verfolgte, wie sie zitternd auf die Knie sank. “Aber ... das kannst du doch nicht machen ... Ich will kein Monster sein ... Ich ... ich dachte, ich hatte es mir eingebildet ... Wa-was hast du mir nur angetan?” Ich hatte es ja auch nicht absichtlich gemacht, aber nun war es nun mal so. Du warst Eis und ich Wasser.