Ich stöhnte frustriert. Brüche in den Beinen waren immer schon extrem nervig zu heilen. Sie trugen das Körpergewicht und mussten deswegen entlastet werden, bevor man eine Reparatur durch die Nanobots einleiten konnte. Fluchend hüpfte ich Richtung Bett – warf mich bäuchlings aufs Laken. Johanna ließ sich auch von dieser Erschütterung keine Reaktion entlocken – seltsam. Bei dem ganzen Lärm, den ich in der Zwischenzeit veranstaltet hatte, konnte sie ja unmöglich noch schlafen. Traute die Frau sich jetzt gar nicht mehr aus diesem albernen Deckenkokon?
Ich zog den blauen Stoff ruckartig herunter und hielt verwirrt inne. Eine Frau in einem blau-weißen Nachtkleid mit schulterlangen rotbraunen Haaren lag da. “Johanna?” <Lasst sie schlafen.> Ein Greifarm fuhr aus der Decke und dem Boden – bedeckte die leblose Gestalt wieder.
“Hast du an ihr einen Eingriff vorgenommen? Sie modifiziert?”, fragte ich knurrig, denn mir gefiel es nicht, dass sie betäubt war. Immer noch. Bei niemandem mochte ich diesen verletzlichen, hilflosen Zustand. Es weckte zu viele Erinnerungen, die ich tief in meinem Geist verschlossen hatte.
<Ja. Ich muss deswegen auch noch mit Euch sprechen. Allerdings bezweifle ich, dass Ihr derzeit die notwendige Aufmerksamkeit dafür aufbringen könnt.> Ich hob eine Augenbraue, öffnete meinen Mund und schloss ihn dann wieder. Es stimmte. Ich hatte gerade überhaupt keine Kapazitäten für sie übrig. Johanna war mir egal. Wie alles andere auch. Alles – bis auf Dezeria.
Ich seufzte und rollte mich auf den Rücken. Legte meine Konzentration auf die Heilung des lädierten Beines. Nach ein paar Minuten sollte es dann auch schon wieder belastbar sein. Ich muss mich unbedingt zusammenreißen! Weitere sinnlose Verzögerungen darf ich mir nicht erlauben. Von meiner Ausrüstung fehlte nur noch die Brustplatte, Stiefel und Handschuhe. Dann kann es losgehen. Endlich.
“Ist das Schiff schon in Mewasinas?”, fragte ich nach einem Moment und setzte mich anschließend auf. Bewegte prüfend das rechte Bein. Der Schmerz war immerhin schon vergangen.
<Ja. Wir befinden uns vor der Stadtgrenze.> “Stadtgrenze? Ich sagte zum Nav-Punkt! Los! Flieg gefälligst zum Gasthaus!” Ein elektronisches Seufzen erklang. <Wie Ihr wünscht.> “Na also. Geht doch”, murrte ich unnötigerweise hinterher. Wir wussten beide, dass sie mir diesen Befehl nicht verweigern konnte. Immerhin hatte sie mit dem Verhalten von diesem Glaubensspinner keine Gegenargumente mehr. Von dem Vertrag schien er überhaupt nichts zu wissen, was die Vereinbarungen hinfällig machte. Dezeria war zweifelsohne in Gefahr. Ich musste mich beeilen. Genervt starrte ich auf mein Bein – wippte ungeduldig auf der Bettkante. Kann das verdammte Ding nicht schneller heilen?
Durch mein ständiges Gewackel glitt schließlich die Bettdecke von Johannas Schulter. Ihre kupferfarbenen Haare passten so gar nicht hierher. Und, hatte sie nicht vorher braune gehabt? Was ich mit ihr machen sollte, wenn ich Dezeria wieder hatte, wusste ich auch noch nicht. Hm? Ich stutzte. Blickte genauer in ihr Gesicht, als einige Strähnen zur Seite rutschten. Meine Augen fraßen sich regelrecht an ihrer Stirn fest – an dem rechteckigen kleinen weiß-silbernen Gerät, das sich dort befand.
“Was ... ist das?”, hauchte ich kaum hörbar, dennoch reagierte Heka darauf und bewegte sofort drei Greifarme in unsere Richtung. Einer wandte sich direkt zu mir, während die zwei übrigen Johanna wieder mit der Decke verhüllten.
<Braucht Ihr eine zusätzliche Injektion für Euer Bein?> Ungläubig betrachtete ich das Metallkonstrukt, welches mir gerade zu aufdringlich eine Spritze vor die Nase hielt. <Darf ich Euch das Siasal verabreichen?> “Wage es ja nicht!”, knurrte ich wütend und schlug den Arm beiseite. Schnell riss ich die Bettdecke von Johanna und drehte sie auf den Rücken. Ich brauchte Gewissheit. Habe ich mir das eingebildet? Nein. Schockiert sah ich das Ding auf ihrer Stirn. Das mir prompt einen hektischen Herzschlag bescherte.
“Wo-woher ... hast du das ... Heka?”, fragte ich halb erstickt. Eine Bilderflut fegte unglaublich intensiv durch meinen Kopf. Lähmte mich. Ich sah Kinder, die in mehreren Reihen auf medizinischen Untersuchungstischen lagen. Alle trugen diese Apparate auf der Haut. “Scheiße!” In meinen Ohren hallte plötzlich das diabolische Lachen meines Vaters. Ruhig! Verdammt! Ich muss mich zusammenreißen!
Mehrfach atmete ich tief durch, bevor diese mir unbegreifbare Panik verebbte. Ich zitterte. Das ist mir schon ewig nicht mehr passiert. Ich streckte meine Hand vor, wollte das Gerät entfernen – zerstören, aber Heka hielt mich auf.
<Nicht! Ich bin noch nicht fertig.> Ich blickte verstört auf die Greifarme, die mich festhielten. “Fertig womit? Was ist das?! Nimm es ihr ab, SOFORT!” Ich wusste nicht, warum ich so extrem darauf reagierte, aber es musste weg. Jetzt!
<Das ist ... ein Sil-Mod aus dem Hause Eures Vaters.> Wusste ich's doch! Ich startete gleich noch einen Versuch, ihr das Teil von der Stirn zu reißen, denn wenn es von meinem Vater kam, konnte es einfach nichts Gutes sein. Jedoch vergeblich. Heka hielt mich weiter fest.
<Es wird Schäden an ihrem Verstand verursachen, wenn man es vorzeitig entfernt.> “Dann sag mir, was ein Sil-Mod ist und warum wir Technik meines Vaters hier haben! Ich verbiete es!” <Es liest nur Erinnerungen aus. Ich habe Johanna untersucht und dabei festgestellt, dass sie dasselbe Driv-Cor-Implantat trägt, welches auch Ihr habt. Eine exakte Kopie – bis hin zur Identifikationsnummer. Es ist zudem absichtlich beschädigt worden. Das ist doch seltsam, nicht wahr? Ich wollte natürlich mehr darüber in Erfahrung bringen. Leider vergeblich. Selbst in den hausinternen Datenbanken der Aschengards ließ sich nichts finden. Fast, als wollte man ihre Kindheit auslöschen. So wie bei Euch.>
Okay. Mein Kopf rauchte. Johanna hat ein identisches Gehirnimplantat, sogar mit der gleichen Kennung? Sowas gab es nicht. Ein bisschen kannte ich mich schließlich im Bereich der Gentechnik aus. Jeder Rea bekam sein Fabrikat aus dem Hause Gedenna, eigens auf die DNA zugeschnitten. UND wir beide hatten gewiss nicht die gleiche. Kein Mensch schaffte eine derartige Übereinstimmung, sodass noch mal dasselbe Modell benutzt wurde. Nicht einmal Zwillinge. Jedes war einzigartig. Andernfalls wäre ja auch diese persönliche Identifikationsnummer sinnlos. Lediglich alle CeKyde und natürlich generell Klone erhielten zur einfachen Zuordnung immer dieselben Nummernkreise. Aber, keins davon waren wir. Mein Vater hat etwas damit zu tun, aber was? Warum habe ich Erinnerungen an dieses Gerät? Mist! Noch mehr Puzzleteile, die ich nicht zusammenbrachte.
Heka ließ mich derweil los. Frustriert fuhr ich mir durch die Haare. Stöhnte genervt. Mich störte immer noch massiv der Anblick dieses Sil-Mod-Dingens. Johanna sollte es nicht tragen. Ich stutzte. Etwas passte nicht zusammen.
“Du hast gesagt, es liest nur Erinnerungen aus. Warum bekommt sie denn einen Schaden an ihrer Psyche, wenn ich es entferne? Du erwähntest außerdem, du hast es von meinem Vater? Seit wann? Hast du es auch an mir ausprobiert?” Schlagartig wurde mir flau im Magen. Das Gefühl, etwas nicht unter Kontrolle zu haben, breitete sich wie ein Lauffeuer rasend schnell aus.
<Es dringt sehr tief in das Driv-Cor-Implantat ein. Ihr zieht ja auch nicht den Stecker, wenn Ihr eine Systemüberprüfung durchführt. Mir war nicht bewusst, dass Ihr derart abgeneigt bezüglich dieser Technik seid. Sonst hätte ich sie gar nicht erst benutzt. Ich wollte nur Informationen beschaffen.> Das klang einleuchtend. Überzeugte mich aber in keinster Weise. Außerdem fehlten Antworten.
“Dann beende deinen Suchlauf einfach. Nimm ihr das Teil endlich ab! Und du hast meine andere Frage ignoriert.” <Nun. Was wollt Ihr jetzt von mir hören? Dass man damit auch Erinnerungen umschreiben kann? Dem Benutzer eine andere Vergangenheit einspeisen kann?> Ich versteifte augenblicklich. Erinnerungen umschreiben. Das hatte ich schon einmal gehört – konnte es aber beim besten Willen nicht zuordnen. So eine verfluchte Scheiße! Es passte – es passte so verdammt gut. Ich konnte mich an meine Kindheit nur etappenweise erinnern. Einige Stellen existieren glasklar in meinem Kopf. Wohingegen andere – Jahre fehlten. Hatte mein Vater mich damit etwa manipuliert? Oder, Heka selbst?
“Du hast es also an mir benutzt”, sprach ich mit aufkommender Wut, denn darauf war sie erneut nicht eingegangen. “Du wusstest, dass ich es kenne. Wieso hast du sonst versucht, Johanna damit in meinem Bett zu verstecken, hm? Andernfalls hättest du sie in der Krankenstation gelassen.” Sie seufzte. <Wenn Ihr Euch beruhigt, und versprecht, nicht auszurasten, erzähle ich Euch alles.> Ich ballte meine Hände zu Fäusten. “Was hast du getan?!” <Reznick, bitte. Ich versichere, dass ich niemals etwas tun würde, was dir schaden könnte.> “Hör auf, mich für dumm zu verkaufen! Spuck es endlich AUS!” <Ich habe den Sil-Mod von Eurem Vater gestohlen. Das ist schon über zehn Jahre her. Ich benutze ihn seither regelmäßig, um Eure Alpträume zu entschlüsseln. Eure Vergangenheit zu rekonstruieren. Und. Ich habe es bislang nur einmal angewendet, um dich etwas vergessen zu lassen. Du warst nach einem Treffen mit deinem Vater außer Kontrolle gewesen und ich wollte doch nur, dass du endlich aufhörst, dich selbst zu verletzen.>
Ich starrte vor mich hin. Unschlüssig, was ich dazu sagen sollte. Mein Kopf war mit einem mal wie leer gefegt. Alles kam mir plötzlich so unwirklich vor. Verloren fühlend wanderten meine Augen zu einem kleinen roten Stoffstern, welcher auf dem Nachttisch stand. Ich erinnerte mich dumpf, so etwas auch einmal gehabt zu haben – nur in blau. Ich lachte bitter auf. Was von meinen Leben ist überhaupt echt gewesen?
<Reznick? Geht es dir gut?> “Was für eine selten dämliche Frage”, erwiderte ich kühl und betrachtete erneut die friedlich schlafende Johanna. Wie oft ich wohl die letzten Jahre so dagelegen hatte? Ich erschauderte unwillkürlich. Mein Verstand zerfraß sich regelrecht an dem Gedanken, dass sämtliche meiner Erinnerungen nur künstlich waren. Ich suchte eine Bestätigung – suchte krampfhaft Beweise, es zu widerlegen. Aber. Das führte zu nichts. Ein hämisches Grinsen zog in mein Gesicht. Das ist doch ein Spiel ganz nach deinem Geschmack, nicht wahr, Vater? Aber. Heute würde ich gewiss nicht brechen. Den Gefallen tue ich dir nicht! Ich habe schließlich noch etwas zu tun. Dezeria.
Ich atmete tief durch. Hörte auf, mir weiter darüber Gedanken zu machen. Es als gegeben hinzunehmen. Vorerst. Auch wenn das Gefühl von Verrat schmerzte. Der leise Verdacht, dass Dezeria nur ein Hirngespinst von Heka oder meinem Vater war, brannte wie Säure in meinen Adern. Ich mein, warum sonst bin ich so versessen auf sie? Das konnte nichts Echtes sein. Ach. Auch egal. Ruckartig stand ich auf. Mein rechtes Bein ließ sich problemlos belasten. Gut.
<Reznick? Bitte sag etwas.> “Ich werde jetzt Dezeria holen und mir erst danach über alles andere den Kopf zerbrechen.” Mein Blick streifte ein letztes Mal Johanna. “Was machst du jetzt mit ihr? Ihren Kopf durchwühlen, Sachen löschen oder umschreiben?”, fragte ich spöttisch und ging zum Schrank zurück, um den Rest meiner Rüstung anzuziehen. Am liebsten hätte ich ihr dieses Teil vom Kopf gerissen, aber es schien mir zu riskant. Was, wenn es ihr wirklich schadete?
<Ich erstelle nur einen Report. Nichts anderes.> “Schön für dich.” Ich schnaubte abfällig. “Nimm es ihr ab oder ich vergess mich gleich. Für einen von uns beiden wird das dann definitiv tödlich enden.” Meine Stimme war mehr ein Knurren als alles andere. Heka beugte sich dieser unmissverständlichen Warnung. Ein Greifarm entfernte sofort das Gerät von Johannas Stirn. Gut. Jedoch zerstörte Heka es nicht – behielt es.
“Hältst du es für schlau, mich weiter zu provozieren?” <Ich kopiere lediglich die gewonnenen Daten. Danach gebe ich dir den Sil-Mod.> “Aber natürlich”, sprach ich monoton. Vermutlich würde ich nur ein funktionsloses Duplikat erhalten. Es nun auszutauschen war schließlich kinderleicht. Du willst also weiter spielen, Heka? Fein.
Resigniert schritt ich rüber zum Labor. Mischte mir ein Beruhigungsmittel zusammen, sowie einige entgiftende Mittel für Dezeria. Wer weiß, was man ihr in der Zwischenzeit alles verabreicht hatte und in welchem Zustand sie war, wenn ich sie fand. Ich wollte auf alles vorbereitet sein.
<Was braucht Ihr?> “Von dir nichts, danke.” <Benötigt Ihr Changonis? Das ist noch vorrätig. Fach B5.> “Schön für dich”, antwortete ich desinteressiert und stellte geschwind die von mir gewünschten Arzneien her. Keineswegs würde ich hier noch etwas anfassen, was Heka fabriziert hatte. Selbst jede Essenz überprüfte ich mit einem Schnelltest, ob es auch wirklich das war, was auf dem Etikett stand. Ich vertraute ihr nicht und das schien sie nun auch zu begreifen.
<Du glaubst, ich täusche dich. Das ist aber nicht wahr.> Ich lächelte freudlos. “Lass gut sein, Heka. Wer weiß schon, was du alles hinter meinem Rücken machst oder besser ... gemacht hast”, sprach ich spöttisch und versuchte zwanghaft, mich nicht weiter aufzuregen. Nur noch eine Ampulle mischen und dann – bloß weg von hier.