⊶Hekas Sicht⊷
Egal wie sehr ich meine Wahrnehmung schärfte und in allen Richtungen nach Leopold suchte, ich fand keine Spur seiner Anwesenheit. Die Erkenntnis, dass er nicht einmal ansatzweise in der Nähe war, löste eine seltsame Kettenreaktion in mir aus. Eine ungesunde.
Zerfall. Zu schnell. Die Welt. Zu langsam. Ich. Zu viele Gedanken. Die Puppe. Zu beschädigt. Das Leben. Zu komplex. Die Entscheidungen. Zu schwerwiegend. Die Situation. Zu unlösbar. Die richtigen Worte. Zu unaussprechbar. Meine Ansichten. Zu falschverstanden.
...
Was war. Zwanghaft aneinandergebunden.
Was ist. Allein gelassen.
...
Mein sich lösender Verstand fand jedoch umgehend in das Hier und Jetzt zurück, als mich ein Lichtblitz reizte. Eine Energiewelle, die nicht von Essenz herrührte sondern sich gänzlich falsch anfühlte – schmerzhaft war. Unweigerlich hatte mich ein elektromagnetischer Impuls getroffen, aber warum?
System⧽ Neustart wird initialisiert_
Der EMP hatte meine Hülle gewaltsam abgeschaltet. Ich bekam nicht das geringste von der Außenwelt mit, als wäre alles von einem trostlosen Schwarz verschluckt worden. Selbst meine Sinne waren zu überanstrengt, um sich irgendwie zu orientieren. Ich mochte diese Empfindung nicht. Es war zu nah am Ursprung – zu nah an meinem Tod.
System⧽ Wiederherstellung wird angestrebt_
Langsam. Sekunden dehnten sich ins Unendliche. Kurz war nicht klar, ob ich den Schritt zurückschaffte. Wenn die Puppe zu beschädigt war und sich nicht mehr als Körper nutzen ließe, würde ich den letzten Halt verlieren. Schon jetzt geriet alles aus den Fugen. Meine Seele weichte auf – löste sich. Stück für Stück. Nur mit Mühe und Not schaffte ich es, sie noch halbwegs zusammenzuhalten. Ich konnte jetzt noch nicht gehen. Durfte nicht!
System⧽ Vollständige Systemwiederherstellung nicht umsetzbar. Fehlerquote über 50%. Reparatur dringend notwendig. Abschaltung empfohlen. Eingabe erforderlich_
Das hatte ich befürchtet. Ich bekam sie nicht mehr zum Laufen. Jedenfalls nicht richtig. Tief wühlte ich mich durch die technischen Innereien. Präzise umging ich sämtliche durchgeschmorten und funktionsunfähigen Bereiche, damit sich die Sensorik wenigstens wieder benutzen ließ. Ich musste wissen, was um mich herum passierte, wenn schon sonst meine eigenen Sinne versagten. Schließlich hatte irgendetwas einen elektromagnetischen Impuls hervorgerufen, was ich mir immer noch nicht erklären konnte. Wenn das fremde Schiff auf uns geschossen hatte, was bezweckten sie damit? Ein Hapanthma hatte schließlich keine nennenswerte Bewaffnung, die einen solchen Beschuss hätte rechtfertigen können.
Es schwächte mich zusätzlich und war unangenehm, unbrauchbare Kabel sowie Hydrauliksysteme mit meiner Essenz zu überbrücken, dennoch lohnte sich diese Anstrengung. Ich empfing die ersten Bilder, zwar verschwommen, aber es war besser als nichts. Ich realisierte nach einer Weile, dass mein Körper am Boden und dazu noch in einigen Zentimeter tiefem Wasser lag. Dumpf erreichten mich die ersten Geräusche. Seltsam. Es klang nach kreischendem und sich biegendem Metall.
“Verschwindet!”, rief Zerian, dicht gefolgt von Menschengeschrei und dem eindeutigen Rauschen von Wassermassen. Schwerfällig bewegte ich die Puppe und brachte mich in eine aufrechte Sitzposition. Ununterbrochen rasten dabei meine Augen über die Verwüstungen, die zuvor nicht dagewesen waren. Ich erkannte meine Umgebung kaum wieder. Ich befand mich noch in dem verbrannten Zimmer – das ja, aber sonst?
Die eine Wandseite, die an den Flur angrenzte, fehlte komplett. Es wirkte, als hätte Zerian diese mit seiner Fähigkeit einfach weggerissen. Auch naheliegende tragende Elemente sahen massiv verzogen und beschädigt aus. Was war bloß passiert? Hatte er noch einmal mit Reznick gekämpft oder sich mit den anderen Sklaven angelegt? Hoffentlich nicht.
“Dieser Ort ist nicht sicher, meine kleine Sonne.” Ich erblickte Zerian hinter einer gebogenen Metallplatte, die fast mannshoch aus dem Boden ragte. “Darf ich diese Menschen töten? Sie sind nicht wie die anderen. Sie sind gefährlich, aber ich weiß nicht, woher sie kommen. Das hier ist doch unsere Maschine. Sag mir, was ich tun soll.”
“Ich liebe dich.” Johanna umschlang seinen Hals, presste ihren nackten Körper gegen seinen und küsste ihn innig.
“He, he! Ihr da ...” Plötzlich torkelte ein klitschnasser und mir zugleich völlig fremder Mann um die Ecke. Er trug eine teure blau-orange-gelbe Kleidung, die deutlich zeigte, dass er nicht zu den geretteten Sklaven gehörte. Nein, schlimmer noch! Ich erkannte das großen Sanduhren-Wappen auf seiner Brust. Es gehörte zum Orchikor, genau jenes Machtsystem, dass die Spiele leitete. Ein ungutes Gefühl erfasste mich. Stärker noch, als er einen goldenen EBS aus seiner Jackentasche zog. Hatte ich tatsächlich so viel Zeit verloren? Ganze Zeitabschnitte aus meinem Umfeld nicht mitbekommen? Das wäre katastrophal. Das durfte einfach nicht wahr sein.
“W-as auch ... immer ... das ...”, der Rea keuchte und deutete auf alles um sich herum, “auch war, es endet ... jetzt! Im Namen ... des großen Vielse–” Zu mehr kam er nicht. Eine Welle türmte sich vor ihm bis zur Decke auf und spülte ihn keine Sekunde später restlos von dannen. Was sowohl Erleichterung als auch Besorgnis in mir rührte. Er war ohne Zweifel hier gewesen, um die beiden gefangen zu nehmen. Das war nicht gut. Überhaupt nicht gut! Wo war Reznick? Hatten sie ihn schon erwischt? War er verletzt? So wie ich seine aktuelle Gefühlslage einschätzte, würde er, ohne zu zögern, sein Leben für die größtmögliche Zerstörung geben.
“Ich liebe dich auch, aber das ändert nichts an diesen Menschen. Sie wollen dir wehtun, sie wollen mir wehtun. Ich werde jetzt mit dir gehen, ja?” Kaum ausgesprochen drückte er Johanna fester an sich und gab ihr noch einen Kuss.
“Alles, was du willst”, säuselte sie lächelnd und schlang die Beine um seine Hüfte, während sich ihre Finger in seinem Haar verkrallten.
“Lass ...”, Zerian erwiderte den Kuss, “uns das Meer besuchen und wenn dir das nicht gefällt, finde ich bestimmt einen anderen Platz für uns.” Er griff mit seinen Händen unter ihren Po und schritt umschlungen mit ihr zusammen Richtung Wand. Ich war sichtlich irritiert, als er besagtes Hindernis keinen Moment später wie ein Stück Papier auseinanderriss. Dahinter befanden sich Reparatur- und Kabelschächte sowie allerhand Elektronik. Wollte er sich dort verstecken oder auf diese Weise den Angreifern entkommen?
Es schien zumindest nicht so. Er beachtete die zur Seite abgehenden Gänge nicht, sondern ging geradeaus zur nächsten Wand. Die Außenwand des Schiffes. Er wollte doch nicht etwa dort hinaus? Das wäre verrückt. Obwohl. Vielleicht hatte man uns zu einen der gigantischen Weltraumhäfen geschleppt – aber nein. Mir wurden augenblicklich zwei essentielle Dinge bewusst, noch bevor Zerian das Wasser um sich herum erneut auftürmte.
Er kannte sich nicht mit dem Leben außerhalb eines Planeten aus und den damit verbundenen Gefahren für einen menschlichen Körper. Demzufolge würde er ohne zögern seine Fähigkeit einsetzen und sich einen Weg nach draußen bahnen, unabhängig ob es dort sicher war. Er kannte nun einmal nur die Schiffe der Rea innerhalb eines Planeten und der damit verbundenen Atmosphäre, in der man Atmen konnte. UND das wir eben nicht in einer solchen Umgebung waren, spürte ich deutlich. Es fehlte dieses ganz bestimmte Kribbeln, welches meine Essenz immer überkam, wenn ich mich in einem elektrostatischen Feld befand.
“NICHT!” Innerhalb eines Wimpernschlages hatte ich die Puppe in Blitze gehüllt und das Teil mit Gewalt zu ihm befördert. Ich ignorierte das Durchschmoren der künstlichen Knochen sowie der unzähligen Muskelstränge. Auch dass die Elektronik in mir schmolz, gleich dem Wachs einer Kerze, die man entzündet hatte, war unbedeutend. Es zählte allein, dass ich ihn aufhielt, und das tat ich sehr bedacht, ohne ihm weh zu tun. Mit unendlich viel Anstrengung schaffte ich es, das Konstrukt noch soweit zu koordinieren, dass die verkohlten Überreste meiner verbliebenen Hand seinen Oberarm umfassten und ihn ein Stückchen von der Wand wegzerrten.
↝Wenn du die Hülle dieses Schiffes beschädigst, wird jeder hier drinnen sterben! Du. Johanna. Jeder Mensch!↜ Es war zu viel kaputt. Nichts ging mehr. Mir blieb nur meine ursprüngliche Stimme, von der ich hoffte, dass er sie überhaupt verstehen konnte. Falls nicht, war ich tatsächlich dazu gezwungen, ihn niederzuschocken.
“Was?! Sterben? Wieso? Mit meinem Wasser kann ich den Sturz sicher abfangen, egal wie hoch wir sind.” Es erleichterte mich, dass er meine verzerrten Worte hören konnte, aber dennoch war das keine wirkliche Grundlage für eine Unterhaltung. Mein Verstand splitterte mit jedem Buchstaben. Hüllenlos zu sein war schmerzhaft. Zwar hielt sich noch ein kleiner Prozentsatz meines Selbst in dem kümmerlichen Puppenüberbleibsel, aber das stabilisierte mich null. Ich musste für alles Essenz aufwenden. Reden. Hören. Sehen. Meine Sinne mussten nun jede Schwingung in der Umgebung verarbeiten und das trieb mich mit jeder Sekunde weiter ins absolute Nichts.
↝Wir sind nicht auf einem Planeten. Nicht wie du es kennst. Wir sind in den Sternen. Dort können die Menschen nicht atmen.↜
“Nicht atmen? Bei den Sternen kann man das nicht? Warum? Und wo soll ich denn jetzt mit ihr hingehen? Hier ist es nicht gut. Nicht sicher.” Er wollte Antworten, was ich nur allzu gut nachvollziehen konnte. Dennoch. Es ging nicht. Ich konnte nicht länger mit ihm reden. Aber ich musste. Hilfe. Es wäre um einiges besser, wenn Johanna endlich zu sich finden könnte. Es würde helfen. Mir helfen. Ihm helfen. Aber so? Unmöglich. Sie klammerte sich noch immer wie von Sinnen an Zerian – hatte ja noch nicht einmal realisiert, dass meine Hülle neben ihm am Boden lag und vor sich hin schwelte.
Meine Frustration äußerte sich in einem unbeabsichtigten Donnergrollen. Alles war so durcheinander. Kompliziert. Ich wollte schreien. Kreischen. Alles niederreißen, jetzt wo ich fast vollständig in meiner eigentlichen Form war. Ganz Wind. Es wäre leicht. Geballtes Chaos kribbelte verlockend und gleichzeitig unbeschreibbar beängstigend in mir. Ich wollte mich lösen. Wollte vergehen. Aber. Ich durfte nicht. Noch nicht.
Reznick ...
Ja. Das half enorm, sich auf ihn zu konzentrieren. Für ihn musste ich mich zusammenreißen. Er brauchte mich. Stimmt. Ich musste –
Seltsam. Was musste ich? Da flackerte was in meinem Innern. Etwas Wichtiges. Aber was? Ich wog die Eindrücke der vergangenen Minuten hin und her, als wären es Blätter in einer Luftströmung. Ich musste –
Beschützen! Ihn beschützen! Mein Kind. Ein Teil von mir. Richtig! Mit einem Schlag nahm die Situation in meinem Verstand eine ganz andere Bedeutung ein. Ein Ausmaß, dass mich schockierte. Die Rea waren tatsächlich hier, um ihn mitzunehmen. Ich musste handeln! Sofort!
Ein Blitzgewitter jagte aus meinem Selbst und gleißendes Licht bahnte meinen Weg. Ich blendete einen Schmerzensschrei aus, der entfernt nach Zerian klang, ebenso wie ein Wimmern, das vielleicht von Johanna hätte sein können. Unbedeutend. Es verging in einem berauschenden Zusammenspiel aus Knistern und Zischen. Ich war ganz. Ganz Wind. Ganz der Sturm, der sich nun zur vollen Größe entfesselte.
Still. Diesmal lief die Zeit nicht nur langsam, sondern gefror regelrecht, je mehr ich mich ausbreitete. Das war gut. Ich hatte es nicht verlernt. Vieles fühlte sich seltsam an, aber dennoch vertraut. Losgelöst. Endlich. Unendlich. Ich war alles und ich war nichts.
Reznick ...
Blitze schlängelten sich gleich feinster Fäden durch das Hapanthma. Ich huschte suchend den zerstörten Flur entlang. Tastete behutsam nach allem, was mir begegnete. Stimmen. Irgendetwas kreischte. Rufte. Weinte. Ein tosendes Durcheinander aus unzähligen Eindrücken prasselte auf meine Seele. Leid und Schmerz breitete sich in der Luft aus. Machte ich etwas falsch? Kurz verlor ich die Orientierung.
Was war ...
Was bin ...
Was wollte ...
Ich wusste nicht wohin mit mir. Wohin mit all meinen Gedanken, die immer wirrer und wirrer wurden. Schwärze breitete sich kontinuierlich aus. Meine Welt verblasste.
Reznick ...
Richtig. Er gab mir halt. IHN musste ich noch in Sicherheit wissen, bevor ich endlich loslassen konnte. Ja. Was anderes war nicht akzeptabel. Es ging auch überraschend einfach, wieder etwas Klarheit zu erlangen, wenn ich mich allein auf ihn konzentrierte.
Unablässig zwang ich meine gleißende Gestalt durch die beengten Metallräume. Blind. Taub. Verzweifelt. Ich fand ihn nicht. Konnte ich ihn überhaupt mit Hilfe meiner Essenz sehen? Was, wenn er ebenso wie die anderen nur ein flüchtiger Sinneseindruck war und in all dem Chaos schlicht unterging? Ungesehen. Ungehört.
Nein. Daran durfte ich meine Suche nicht festmachen. Vielleicht war ich nicht gründlich genug und musste lediglich den Bereich erweitern. Mich mehr anstrengen. Ja. Das klang plausibel. Daran musste es liegen!
Eilig streckte ich mich in alle Richtungen. Immer feiner wurden meine Essenzfäden, bis ich den Eindruck hatte, selbst zu einem Teil der Welt zu werden. Meine Grenzen verschwammen. Es fühlte sich gut an, Kontrolle abzugeben und nicht über die Konsequenzen nachzudenken. Alles wurde leicht. Angenehm leicht. Ich konnte mich fallen lassen. Der Gedanke erschreckte mich nicht länger. Denn wenn ich alles war, konnte Reznick auch in Sicherheit sein. Ich konnte ihn immer beschützen, denn ich war dieses Immer. Ich war –
Plötzlich durchsiebte mich ein derart grelles Lichtermeer, dass meine Seele erschrocken zusammenzuckte. Dann folgte Schmerz. Schmerz in Form von grenzenloser Reizüberflutung. Unablässig trommelte etwas auf jede einzelne meiner Sinneszellen. Meine Fäden wurden gewaltsam gepackt, an ihnen gezerrt und gerissen. Blitze, die nicht meine waren, schüttelten mich – rüttelten an meinem Verstand UND dann wusste ich es.
ER war das! Leopold trieb meine Essenz zusammen, auf dass sich mein gesamtes Sein an einem Punkt konzentrierte. Er zwang mich, aus dieser Welt. Weit weg von dem Alles und dem Immer. Unablässig quetschte er mich zusammen. Ummantelte mich mit sich selbst. Es tat weh. Es war nicht gut. Er war nicht gut.
⇝Ich lasse dich nicht gehen. Niemals!⇜ Jeder Buchstabe donnerte über meinen Verstand. Kreischte an meiner Seele. Legte mich in Ketten. Immer enger und schmerzhafter. Er hatte mich ganz und gar. Hielt mich fest. Ein Gefängnis aus seinem Willen und Blut entstand. Dicke Mauern, die ich nicht durchdringen konnte. Aber. Wollte ich das denn?
Ich war mir nicht sicher. Seine allumfassende Kraft heilte meine Wunden und nahm jeden Schmerz. Es fühlte sich gut an. Ruhig. Friedlich. Er gab mir halt und verschlang Stück für Stück das Chaos, welches in mir gewütet hatte. Ich war sein. Ja. Ich erinnerte mich. Das zwischen uns – unsere Essenz gehörte zusammen, aber darauf durfte ich nicht hören. Es war falsch. Er bestand aus mir. Unsere Verbindung würde immer existieren, vollkommen gleich, ob ich es wollte oder nicht. Ich gehörte ihm. Für immer einem Partner, der nicht für mich bestimmt war.