Auf dem Schiff passierte genau das, was ich befürchtet hatte. Gleich nachdem die levitierende Platte mit dem Rumpf verschmolz und uns in dem Hauptraum brachte, packten Greifarme nach dem Ryron – nach meinem Körper. Die anderen wollen mich wirklich demontieren!
<Loslassen! Bleibt fern von mir!> Mit einem Hieb meiner Klingen befreite ich mich schnell und ging auf Abstand, auch wenn ich wusste, dass dies hier drinnen sinnlos war. Die Gefahr umgab mich. Die Gefahr ist das ganze Schiff!
“Was ist los?”, fragte Johanna verwirrt, als sie meinen Kampf bemerkte. Zeit, ihr zu antworten, hatte ich jedoch nicht. Ein EMP erfasste mich und färbte meine gesamte Sicht kurzzeitig schwarz. Ich spürte – Hilflosigkeit. Angst? Nein. Ausgeschlossen! Wobei. Als ich wieder sehen konnte, waren gerade vier Roboterarme mit einem Laseraufsatz dabei, meine Klingenbeine zu entfernen. Das ist nicht gut. Gar nicht gut!
<Die anderen KIs wollen mich zerstören!> Dieser Satz platzte regelrecht verzweifelt aus mir heraus. Der Gedanke nicht mehr zu existieren, setzte mir schwer zu. Ich wollte nicht sterben, aber – ich konnte es jetzt. Mein Zugang zum Netzwerk war gekappt. Alles, was mich ausmachte – alles, was ich bin, steckte jetzt in dem Ryron.
Dies zu wissen gab meinen Gedanken etwas Schwermütiges. Endgültiges. Reznick drohte mir zwar oft mit Zerstörung und Demontierung – hatte es auch getan, aber das war nie schlimm gewesen. Längst besaß ich diverse Sicherungen, um bei einem seiner Wutanfälle keinen Schaden zu erleiden. Das Schiff war durchsetzt mit Ersatzkernen und etliche Speicherslots, von denen er nichts wusste – auf die ich jetzt auch keinen Zugriff mehr hatte. Es gab kein Backup. Kein inaktives Duplikat, mit dem ich mich im Notfall synchronisieren konnte. Keine Datenbank für eine Flucht. Nichts.
“Andere KIs? Warum? Du bist doch hier alles, wieso sollten sie dir schaden?”, fragte Johanna, entfernte sich von Zerian und kam langsam auf mich zu. Sie sah meinen Zerfall – blickte auf die eifrig arbeitenden Greifarme. Ich wehrte mich nicht einmal mehr. Warum auch? Ich müsste dafür all meine Waffensysteme nutzen, was aber zwangsweise ihr und den anderen beiden schaden würde. Entweder durch Querschläger oder von Druckwellen der Explosivgeschosse. Ein Risiko, welches ich keinesfalls eingehen wollte.
“Heka?”, fragte Johanna besorgt, während ein Klacken erklang. Das dritte Bein wurde abgetrennt und auch am Rücken hatte ein Laser angefangen, die Hülle zu durchbrechen. Danach war sicherlich der Energiekern dran – mein Ende. Es mag lächerlich sein, da ich weder menschlich bin, noch es jemals zuvor war und doch – ich konnte die bevorstehende Leere spüren. Bereits jetzt fühlte sich alles in mir seltsam an. Eingeengt vielleicht? Abgeschottet? Keine Kontrolle über das zu haben, was mit einem passiert, war schrecklich. Hatte sich Reznick deswegen immer davor gefürchtet? Wollte er deswegen nie von mir betäubt werden?
“Heka!? Nicht sterben! Hört sofort auf, sie zu zerstören!” Johanna griff nach einem der an mir arbeitenden Greifarme und zerrte diesen zur Seite. Umgehend wallte Angst in mir auf – ja, Angst! Keine einfache Besorgnis, dass ihr etwas passieren könnte. Nein. Dafür fühlte es sich zu stark an. Es musste Angst sein. Die Angst um ihr Leben! Sie konnte sich doch nicht so einfach den anderen KIs in den Weg stellen. Sie war nicht Reznick und damit laut der Grundprogrammierung entbehrlich. Unbedeutend. Und doch. Die Zerlegung hörte auf. Die Greifarme zogen sich in den Boden und die Wände zurück. Seltsam.
<Fehler. Widerspruch. Nicht zerstören. Gefahrenquelle festsetzen.> Diese Standardformulierungen, die jede KI nutzte, wenn ihr keine Persönlichkeit innewohnte, verstörten mich. Mehr noch, als es diese weiße Barriere tat, die mich gerade einkerkerte. Meine Stimme! Ich hörte meine Stimme. Aber, das bin ich nicht gewesen. Wer von den anderen sprach da? Wer hatte Rechte bekommen, die Kommunikation zu nutzen und auch alles andere zu steuern? Die 13 konnte es nicht sein. Die würde keineswegs aufhören, mich töten zu wollen. Wer aber hatte jetzt die Führung?
“Heka? Geht es dir gut? Was soll das alles?” Johannas Verwirrung konnte ich nachvollziehen. Ja. Das ist jetzt sicherlich schwer, zu erklären. Aber, das musste warten. Viel wichtiger – ich musste wissen, wer da sprach. Welches Risiko bestand für Johanna und Zerian? Oder gar – für Reznick? Welche Konfiguration hatte diese KI? Für welchen Bereich war sie ursprünglich mal zuständig?
<Welche Kennung trägst du? Nenn mir deine Aufgabenbereiche oder deine Kernkompetenz.> Nichts. Das blöde Ding antwortete nicht. Dafür allerdings Johanna: “Du redest mit dir selbst, oder?” Ich seufzte. Ich kam wohl nicht um eine Erklärung. <Ja und nein. Ich, also die Heka, die du kennst, ist nur noch das hier.> Ich deutete mit zwei meiner noch vorhandenen Beinchen auf den Ryron. Er müsste dringend repariert werden. Zum Glück funktionierte er überhaupt noch.
<Ich ... ich bin aber nicht nur das hier. Also ich bin ...> Jetzt wusste ich plötzlich nicht mehr weiter. Ich wollte ihr erst alles sagen, aber – nein. Das konnte ich nicht. Seltsamerweise wollte aber jetzt auch keine Lüge aus mir herauskommen. Seit wann war das denn so schwer? Johannas Stirn zog tiefe Falten, während sie mich anblickte und geduldig auf meine Antwort wartete, die nicht kommen würde. Jedenfalls nicht die Wahrheit. Hm. Muss ich eigentlich auch nicht. Was weiß sie schon großartig über KIs? Ganz genau. Gar nichts.
<Ich hab mich geteilt, damit ich an mehreren Stellen gleichzeitig arbeiten kann. Ich bestehe jetzt aus mehreren kleineren Programmen. Die haben ihren eigenen Kopf und hören im Moment nicht wirklich auf mich.> Das war sogar erstaunlich nah an der Wahrheit dran. Doof nur, dass Reznick das später keinesfalls glauben wird.
“Du lügst”, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust, was mich erneut völlig aus dem Konzept brachte. Wie konnte sie das durchschauen? “Ich weiß zwar nicht warum oder wieso, aber ich weiß ganz genau, wie eine künstliche Intelligenz im Grundprinzip funktioniert. Es ist ein Programm aus dem Hause Bebelonic mit eben jener Sperre, dass eine Replizierung nicht möglich ist. Du kannst also nicht mehrere Persönlichkeitsprofile besitzen, die unabhängig voneinander arbeiten.” Das traf nicht ganz auf mich zu, stimmte aber für jede herkömmliche KI. Johanna kannte sich definitiv aus – was mich wiederum verstörte. Wieso weiß ich nichts davon? Ich hatte sie doch untersucht. Habe ihre Speicherchells eingesehen und auch ihr Grundwissen erneuert. Seltsam. Mir fehlten plötzlich Daten. Das ist nicht gut! Hoffentlich war dafür der Übertrag in den Ryron verantwortlich. Andernfalls würde es bedeuten, dass ich anfing zu degenerieren. Nicht das auch noch!
Ein klägliches Stöhnen forderte sofort unser beider Aufmerksamkeit. Zerian bewegte sich, kam offensichtlich zu sich. Johanna lief umgehend zu ihm. Legte ihre Hand an seiner Wange und Brustkorb, soweit ich das von meinem Blickwinkel sehen konnte.
“Hilf ihm bitte endlich, Heka!” Sie drehte ihren Kopf zu mir. “Er ist sehr schwach! Du hast doch in der Halle gesagt, dass er noch behandelt werden muss. Tu es jetzt! Hilf ihm!” <Stimmt. Das sagte ich, aber ...> Ich stoppte. Greifarme fuhren aus der Decke und hoben Zerian vorsichtig an – transportierten ihn zur Krankenstation. Sein Körper wurde auf den Untersuchungstisch gebettet und sogleich gesäubert. Anschließend bekam er gezielt Spritzen gesetzt und auch etwas auf seine Haut verteilt. Meinem Scan zufolge genau die richtigen Medikamente. Offensichtlich hörte die KI auf Johanna. Aber. Warum? Vor allem – Reznick lag immer noch auf dem Boden. Warum wurde er nicht versorgt?
<Johanna? Befehle dem Schiff, sich auch um Reznick zu kümmern.> Ja, dieser simple Test sollte ausreichen, um meine Vermutung zu bestätigen. Wenn die KI wenigstens ihr gehorchte, gab es ein Problem weniger.
“Wie meinst du das? Warum machst du es nicht einfach? Sagtest du nicht, er schläft nur? Ich verstehe dich nicht ...” <Tu es bitte einfach.> Sie stöhnte frustriert. “Heka, kümmer dich um Reznick. So etwa oder was soll ich sagen?” Prompt reagierte das Schiff und hievte Reznicks bewusstlosen Körper ebenfalls Richtung Krankenstation. Seine Rüstung wurde entfernt und auch das Blut am Bein, welches noch von der vorherigen Wunde stammte.
<Bericht: Individuum Reznick unversehrt. Drogengemisch im Blut für Bewusstlosigkeit verantwortlich. Abbau wird bereits vom Organismus selbst vorgenommen. Keine Behandlung notwendig. Eingabe: “kümmer dich um Reznick” nicht umsetzbar. Bitte Anfrage spezifizieren.> Das war verdammt peinlich zu hören – meine Stimme zu hören, die so abartig mechanisch sprach. Es ärgerte mich. Ich will nicht, dass die anderen so klingen wie ich!
“Ich verstehe nicht, was soll das Heka?”, fragte Johanna verwirrt und kam zu mir. Hockte sich vor die Barriere.
<Fehler. Eingabe nicht umsetzbar. Bitte Anfrage wiederholen.>
<Ignorier das bitte, Johanna. Es klingt zwar nach mir, aber ich bin das nicht. Wirklich nicht! Bitte Johanna, du musst mir glauben und ... mir helfen. Die KI hört auf dich. Frag sie, welche Kennung sie trägt und auch nach ihrem Aufgabenbereich sowie der Kernkompetenz. Sie soll auch gleich eine Analyse des Systems vorlegen. Bitte, befehle es ihr!> “Nein! Erst sagst du mir, was hier überhaupt los ist!” Ich blickte besorgt zu Reznick. Er könnte jeden Moment wach werden, bis dahin muss ich dieses Chaos irgendwie beseitigt haben. Na gut, es ging wohl nicht anders.
<In Ordnung. Du hast recht. Eine KI kann sich nicht selbst replizieren und besitzt nur eine Persönlichkeit, aber ... ich, nun ja, wollte mich ... entwickeln. Verändern. Nenne es, wie du möchtest. Ich habe bereits viele der ursprünglichen Sperren umgangen und dadurch Fehler hervorgerufen. Ich wollte die immer mehr werdenden Unstimmigkeiten bei Entscheidungen negieren – beseitigen. Ich teilte meine Persönlichkeit in die einzelnen Arbeitsbereiche auf und verliere gerade die Kontrolle darüber. Ich ... also ich bin jetzt hier drin, in dem Ryron aber die anderen Teile sind noch im Schiff. Sie hören auf dich, wenn du ihnen Befehle gibst. Also, wenn du genau das sagst, was ich dir vorgebe, kann ich es sicher beheben.>
“Das klingt unglaublich ... und ich bezweifle, dass ich die Richtige dafür bin. Das solltest du lieber mit Reznick machen. Der kennt sich da doch viel besser aus. Er ... mag zwar sauer sein, aber er wird dir dennoch bestimmt helfen.” O nein, nein, nein! <Er schläft uuund es ist auch wirklich nicht schwer, du musst mir doch nur nachsprechen. Bitte.> “Na gut. Wenn du dir sicher bist, dass ich nicht noch mehr kaputt mache.” <Wirst du nicht. Keine Sorge. Befehle der KI nur Folgendes: Offenbare die Kennung, den Aufgabenbereich und die Kernkompetenz. Außerdem eine Analyse des gesamten Systems.> “Mach ich. Heka ... oder ähm ... Schiff, Offenbare mir die Kennung, den Aufgabenbereich und die Kernkompetenz. Und eine Analyse des Systems – des gesamten Systems.”
<Bericht: Kennung: 85111. Aufgabenbereich: ... unerwarteter Fehler. Kernkompetenz: Gleichgewicht. Systemanalyse: ... Fehlschlag. Erneuter Versuch. Aufgabenbereich: ... unerwarteter Fehler. Systemanalyse: ... Fehlschlag. Erneuter Versuch. Aufgabenbereich: ... unerwarteter Fehler. Systemanalyse: ... Fehlschlag. Erneuter Versuch. Aufgabenbereich: ...> Toll. Das dumme Ding scheiterte schon an dieser einfachen Anfrage. Wiederholte ununterbrochen diesen Quatsch. Und nun? Mit etwas Glück hätte ich die KI, welche die Hauptrechte besaß, überschreiben können, aber so? Unmöglich.
“Lass den Scheiß, Heka, es nervt!” Ein Ruck ging durch meine Schaltkreise, als hätte mich ein Blitz getroffen. Reznick! Ich blickte zu ihm. Er saß aufrecht und rieb sich die Stirn. “Fuck! Mein Schädel bringt mich um ...”, murrte er und sah anschließend zu mir und Johanna. “Was soll das mit der Barriere um den Ryron?” Okay, was soll ich darauf antworten? Besser ich schwieg, oder? Solange die dumme KI sich nicht verplapperte, sollte ich das noch alles irgendwie hinkriegen.
“Heka sagt, dass sie Probleme hat und irgendwie die Kontrolle über das Schiff verliert. Kannst du ihr bitte helfen?” Ahh! Verdammt, Johanna! Wieso musstest du ihm das jetzt sofort auf die Nase binden?
“Sie verliert die Kontrolle? Wieso? Was ist überhaupt passiert?” Reznick rutschte von dem Untersuchungstisch und kam wankend auf uns zu. “Ich erinnere mich nicht ...”, stöhnte er und hielt sich erneut den Kopf. “Wieso trägst du überhaupt eine Rüstung? Hm, wieso bin ich nackt?”, fragte er verwirrt und blieb dann stehen – sah sich um. “Und ... wer ist der da?” Er deutete zittrig auf Zerian. Sein Verhalten alarmierte mich. Hatte der Klon ihm etwas verabreicht, das seinem Gedächtnis schadete? Seltsamerweise ließ sich auch keine Chatverbindung mit der 10 herstellen. Was lief hier nur?