╬Reznicks Sicht╬
Die restliche Nacht – oder besser gesagt der Morgen – war kurz und wenig erholsam. Alles wie immer also. Seit ich denken konnte, hatte es nie sehr viel Schlaf für mich gegeben. Schlaf empfand ich sowieso als überflüssig, lästig und ... schmerzlich. Immer schon. Schlaf bedeutete Erinnerungen, welche mich verfolgten und quälten. Ich sah in Träumen die Augen meiner Mutter, wie langsam der Glanz daraus verschwand – wie ihre Seele verschwand. Ich hörte weinerliche Schreie – meine Schreie und ich spürte sogar, wie sich die Riemen einer Peitsche in mein Fleisch fraß. Alles wie immer also. Ich hasste es – war dessen so überdrüssig. Es war mein Leben. Schmerz war stets ein Teil von mir und es war gut so ... So würde ich nie vergessen.
Ich seufzte und betrachte mich lange im Spiegel des Badezimmers. Das müde Gesicht, welches mich anstarrte, war dasselbe wie jeden Tag. Es war alles gleich geblieben ... gleich geblieben ... Nein. Ich war nicht mehr wirklich ich und das bereitete mir immer mehr Sorgen. Warum? Warum war plötzlich alles so anders? Ich hatte heute früh nicht meine Qual, nicht den Schmerz meiner Kindheit gesehen ... sondern Dezeria. Das war neu. Ich hatte leibhaftig Dezeria gesehen – hatte diesen einen Kuss zwischen uns gesehen. Es war so verflucht real, dass ich sogar ihre Haut fühlen konnte ... Na ja, es war alles schön, bis ich aufwachte und feststellte, dass ich gerade dabei war, über Johanna herzufallen. Ich hatte ihren nackten Leib bereits eng an meinen gepresst und sehr offensichtlich vor, das Ganze noch zu vertiefen ...
Ich seufzte erneut und sah resignierend an mir herab. Mein Handtuch, welches ich mir locker um die Hüften geschwungen hatte, zierte eine deutliche Ausbeulung. O Mann ... nicht mal die kalte Dusche hatte meinem Verlangen Einhalt gebieten können. Auch der Orgasmus durch Johannas Zungenkünsten hielt nicht lange vor. Dezeria ... wieso hieltest du schon wieder seit gefühlten Stunden meinen Verstand gefangen? Warum Weib? Warum?
Frustriert verließ ich schließlich das Badezimmer. Ich konnte mich immerhin nicht den ganzen Tag darin vor mir selbst verstecken. Na ja Tag ... Die Sonne würde erst in ein paar Stunden aufgehen. Richtig zum verrückt werden! Mir schwirrten so viele Dinge im Kopf herum, dass ich gar nicht mehr wusste, was ich als erstes machen sollte ... Verdammt, Dezeria! Lass das!
Ich ging genervt zu einem der Schränke, hielt aber auf der Hälfte der Strecke inne, weil ich ein panisches Keuchen hörte. Mein Blick ging zum Bett, in dem sich Johanna ängstlich hin und her wand. “Hör auf zu Zappeln”, sagte ich und ging zu ihr. Sie schien mich aber gar nicht gehört zu haben, so versessen versuchte sie, mit den Zähnen, die Stricke an ihren Handgelenken zu öffnen. Ja, ich hatte sie ans Gestell gebunden, da das Cynserol sehr lange wirkte und ich nach ihrem Blowjob nicht noch weiter gehen wollte.
“Johanna? Es reicht jetzt!”, sprach ich etwas lauter und das war dann auch endlich der Moment, wo sie mich realisierte. Ihre Augen starrten mich voller Panik an. Ja, Angst sah ich deutlich und sicherlich war meine halbnackte Erscheinung auch nicht gerade hilfreich, aber das war mir herzlich egal. “Ich mach dich jetzt los!” Meine nun etwas genervten Worte zeigten auch Wirkung. Sie hörte auf, sich gegen die Seile zu stemmen, gutes Kind. Vermutlich aufgrund ihrer Erziehung, nicht aber, weil sie mir vertraute. Na ja, Hauptsache sie bewegte sich erstmal nicht.
“Ich will nicht mit dir schlafen”, sagte ich, nachdem ich auch ihre Fußfesseln löste, während sie nur nackt da lag und zitterte. “Zieh dir was an”, bestimmte ich weiter und ging nun zum Schrank, um Selbiges zu tun. “Du ... du redest mit mir?” Kam es fast schon weinerlich von ihr, während sie sich zögerlich aufsetzte. “Ja, ich habe das Besylin zwischen uns beendet.” Schnell zog ich Unterwäsche an und schlüpfte danach in ein weißes Hemd. Eine schwarz-grüne Hose folgte und dann erst bemerkte ich, dass Johanna sich kein Stück bewegt hatte. Sie hockte immer noch auf dem Bett und starrte ins Leere ...
“Johanna?”, fragte ich verwundert und trat näher. Ihr Kinn zog ich mit sanfter Gewalt zu mir. Tränen flossen ihren leicht geröteten Wangen hinab. Ihre Augen starrten ins Leere. Hm? Ein verlorener Blick, der vollkommen durch mich durch ging – nichts wahrnahm. Scheiße! “Johanna?! Nicht! Lass das! Ich habe es beendet, ja, aber nicht, um dich wieder Richard zurückzugeben, hörst du?” Nein, hörte sie nicht. Ihre Augen blieben absolut regungslos. Toll. Ich seufzte und kramte aus einer Schublade meine medizinischen Mittelchen. Ich zog eine Beruhigungsspritze auf und verabreichte ihr diese auch sofort. Dass allein der Gedanke an Richard ihr solch einen Schock verpasste – verrückt. Aber gut. Die Dosis, welche ich ihr gab, würde schnell wirken und sie hoffentlich wieder mit genügend Willen erfüllen. Ich hatte heute verdammt viel vor und dafür würde ich sie nun einmal brauchen. Klar und ohne jedwede Angst!
Ich hockte mich also vor sie, sah tief in ihre blassen grau-braunen Augen und wartete. Wartete ... Dann endlich ging ein Ruck durch ihren Körper und sie erkannte mich. Ihre Pupillen weiteten sich, aber sie wagte nicht, sich zu rühren.
“Kannst du mich hören, Johanna?” Sie nickte. “Es ist alles gut, hörst du? Ich musste das Besylin beenden, es hatte keinerlei Gültigkeit mehr. Ich habe es aufgesetzt, mit dem Wissen, dass du eine Sklavin bist, das stimmt aber nicht. Du gehörst, stand deines Blutes, zu den Rea und ich hätte meine Wette so nicht einlösen können, verstehst du das?” Okay, die Frage war dumm, wer bitte würde dies so schnell begreifen können. O Mann, wie mich diese Erklärerei jetzt schon nervte ...
“Nein, ich ... ich bin ein Sklave. Immer schon gewesen ...”, antwortete sie sichtlich verwirrt und niedergeschlagen. “Dies ist nicht korrekt. Du bist Richards Tochter und gehörst somit zu der zweiten Familie, des siebten Reiches der Aschengard. Ich habe dies bereits der Spielleitung gemeldet. Unser Gespräch wird auch gerade nicht übertragen, du kannst mich also alles fragen, was du willst.” Ich ließ ihr Kinn los und entfernte mich vom Bett. “Du heißt richtig Zar’Rea Johanna Aschengard. Ich weiß, es ist jetzt etwas viel auf einmal, aber du musst dies schnell begreifen und akzeptieren.” Ich sammelte ihre Kleidung zusammen und legte diese neben ihr aufs Bett.
“Zieh dich an! Es wird heute ein Essen unter den Spielern geben.” Versuchte ich sie mit etwas Normalität im Hier und Jetzt zu halten, aber ich hatte dabei wohl wenig Erfolg. Man konnte förmlich sehen, wie ihr der Kopf rauchte.
“Johanna? Jetzt fall nicht schon wieder in so eine Starre.” Ihr tränenverhangener Blick ging zu mir und dann blitzte Zorn auf. Ah gut, das war mir sowieso lieber. “Du sagst, ER ist mein Vater? Das kann nicht sein!” Ich seufzte. “Doch. Hier, sieh selbst. Ich habe eine Probe deines Bluts analysiert, weil ich wissen wollte, warum er so versessen auf dich ist.” Ich gab ihr mein Tablet mit den entsprechenden Daten. Sie nahm es zitternd in die Hände und starrte mit offenem Mund auf das Display. “Kein Zweifel Johanna, Richard ist dein Vater.” “Nein!” “Nein? Denkst du denn, ich belüge dich und will dir hier was vorspielen?” “NEIN! Ich glaube dir nicht!” “Hm? Kannst du mir auch mal genau sagen, was daran du nicht glaubst?” “Er kann nicht mein Vater sein! ER IST ES NICHT! Er ... Er ... hat mich benutzt, mich gequält oder zugesehen, wenn andere dies mit mir gemacht haben! Und gelacht hat er dabei! Immer!”, schrie sie mich an, aber ich zuckte nur unbekümmert mit den Schultern.
“Was willst du jetzt? Etwa mein Mitleid? Ich bin an diesem Theater nicht interessiert. Ich habe weitaus größere Probleme.” Gut ... ich hätte dies sicherlich etwas freundlicher und nun ja einfühlsamer verpacken können, aber dazu hatte ich gerade weder Zeit noch Lust. Ihre Tränen ließen mich auch kalt ... Ihr Blick allerdings weniger. Verflucht, Weib! Lass den Scheiß!
“Er ist nicht mein Vater!”, schniefte sie und ich hasste es. Ich hasste es, weil es etwas in mir ansprach und ich gar nicht anders konnte, als mich zu ihr zu setzen. Vorsichtig umfasste ich ihr Gesicht und hob es zu mir an. “Du musst ihm jetzt nicht verzeihen, du musst ihn auch nicht lieben ... du musst nur verstehen, was das für dein weiteres Leben bedeutet, Johanna. Verstehst du?”, fragte ich bemüht freundlich und wischte ihr dabei sanft die Tränen fort. “Du wolltest Freiheit. Den Tod hättest du von mir bekommen, aber mit deinem Stand als Adliger – als einer der Rea, darf dich niemand ohne die Zustimmung des heiligen Rats umbringen. Das wird auch der Grund sein, warum Richard dich nicht tötete, sondern nur quälte.” “I-ich versteh nicht. Warum ...” “Warum er dich überhaupt in die Welt setzte? Dies konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Die Aschengards verwahren ihre Familienbücher extrem geschützt. Gut möglich, dass du aus einer nicht genehmigten Verbindung stammst. Den Adelsstand kann man nicht anheiraten, sondern nur in einen solchen hineingeboren werden. Vielleicht hat Richard auch eine seiner Sklaven oder Gespielinnen aus Versehen geschwängert ... Das wird er dir wohl nur selbst sagen können.” Ich ließ ihr Gesicht los und wartete einen Moment, bis sie dies verdaut hatte.
“Aber eigentlich ist dies gerade nebensächlich, Johanna. Du hast zwei Möglichkeiten, also hör mir jetzt gut zu!” Sie nickte zögerlich. Ja ich weiß das war alles etwas viel, aber wir hatten nun mal keine Zeit, um uns da langsam heranzutasten. Ich will nicht, dass mein Vater die Chance bekommt, mir neue Steine in den Weg zu legen. Dein Adelsstand war einfach perfekt, um all unsere Probleme zu lösen. Aber dafür musstest du erstmal mitspielen. Begreifen, Verstehen und Zustimmen ...
“Nun, du gehörst zum Adel, Johanna. Es ist dafür allerdings nötig, dass du deinen Namen von Richard einforderst.” Ja, hier lag wohl die größte Schwierigkeit und deutlich lief ein Angstschauer durch deinen Körper. “Du wirst ihm ins Gesicht sehen und von ihm verlangen, dass er dich bei deinem richtigen Namen nennt. Du wirst dich nicht vor ihm hinknien und seine Stiefel lecken, hörst du?!” “I-ich kann d-das nicht”, sprachst du stotternd und strapaziertest damit ungewollt meine Nerven. “Doch du kannst und du wirst es auch müssen! Du willst doch frei sein, oder? Ich will es ebenso und dafür brauchen wir deinen Stand!” Okay, ich merkte selbst, dass ich sauer wurde, also erhob ich mich und ging im Zimmer auf und ab.
Ich wollte Dezeria unbedingt wieder sehen und nun konnte dies mit diesem Plan so leicht gelingen! Kein Risiko. Kein kompliziertes Hin und Her durch Wetten. Johanna musste nur ihren Namen annehmen und ich würde sie meinem Vater als Frau vorstellen. Da sie zu den Rea gehörte, konnte er ihr auch nichts antun. Das war schon zu perfekt, um Zufall zu sein. Ich hatte erst eine Intrige meines Vaters vermutet, aber Richard und Johanna haben beide keine Anzeichen dafür gezeigt. Ja, mein Vater konnte nicht wissen, dass Johanna eine versteckte Adlige war ... O Mann, wie gut sich das anfühlte, ihm einen Schritt voraus zu sein. Dezeria, ich könnte dich schon sehr bald tatsächlich zu mir holen! Ich könnte ...
“A-a-aber ich kann nicht. Er ist mein Meister ...”, flüsterte Johanna plötzlich und durchbrach damit meine überschwänglichen Gedanken. Verdammt, Weib! Das kann doch nicht so schwer sein, seinen dämlichen Namen einzufordern. “Du musst. Du kannst. Und wirst! Zar’Rea Johanna Aschengard, los sprich es aus!” “Ich kann ihm nicht mal in die Augen sehen!” Meine Fingergelenke knackten laut, als ich diese wütend zu Fäusten ballte. Verdammt! Ich musste mich beruhigen! Ihr mit grausamen Schmerzen zu drohen, nur weil sie sich fürchtete, war definitiv nicht das Richtige. Wo waren bloß meine Manieren? Langsam war ich echt verrückt ... Verrückt nach dir Dezeria ...
Frustriert atmete ich mehrmals ein und aus. “Komm schon Johanna, was kann er schon machen? Ich werde neben dir stehen, wenn du das willst. Er wird dich nicht verletzen – nicht einmal anrühren. Wovor fürchtest du dich?” “Er wird mich bestrafen, wenn ich spreche ... Wenn ich ihn ansehe! Ich darf das nicht ... darf es nicht!”, keuchte sie halb erstickt, offensichtlich eine Panikattacke. “Verdammt Johanna, atme!”, rief ich und eilte zu ihr. Noch eine Dosis Beruhigungsmittel wollte ich ihr aber nicht geben, sie musste es von selbst überstehen. “Wird er nicht, hörst du? Er wird dich nicht anrühren, ich verspreche es dir!”
*
Ich hielt sie lange einfach nur im Arm. Wir hatten dafür eigentlich keine Zeit, denn die Kameras in diesem Raum würden sich gleich wieder anschalten, aber was solls. Hätte mich auch gewundert, wenn alles so reibungslos abgelaufen wäre. “Johanna, wir können uns gleich nicht mehr offen unterhalten, bis dahin solltest du es dennoch mal versuchen, deinen Namen zu nennen. Ja? Versuch es ... Zar’Rea Johanna Aschengard.” Sie schniefte und schluchzte in mein Hemd, aber riss sich dann doch soweit zusammen, um es zu versuchen.
“Z-Zar’Rea Johanna Asch ...” “Aschengard.” “Zar’Rea Johanna Aschengard”, wiederholte sie es zwar unglaublich verunsichert, aber immerhin. Jetzt musste sie es nur noch irgendwie schaffen, Richard gegenüber zu stehen. “Johanna, nachher beim Essen wirst du von Richard verlangen, dass er dich bei diesem Namen nennt. Du wirst es schaffen. Ich werde derweil nicht von deiner Seite weichen. Vertraue mir bitte.” Sie nickte, ihr Blick war ehrlich und hoffnungsvoll, aber ob sie es wirklich schaffen würde?
Ich atmete einmal tief durch. Ich konnte ihr diese Aufgabe nun mal leider nicht abnehmen. Es würde schon irgendwie klappen – musste es einfach. Um ehrlich zu sein, war ich auch nicht einhundertprozentig bei der Sache. Dezeria drängte sich schon wieder stärker in meine Nervenbahnen. Ich hatte sie einfach schon zu lange nicht mehr gesehen ... Ob es ihr gut ginge? Heka hatte sich bisher nicht gemeldet, was mich eigentlich beruhigen sollte, tat es aber nicht. Warum? Es bedeutete, dass es keine Probleme gab – dass sie gut vorankämen. Ein flüchtiger Blick auf meine Armbanduhr verriet mir, dass wir noch ein paar Minuten unbeobachtet waren. Gut. Ich entfernte mich von Johanna, die gerade dabei war, sich anzukleiden, und rief auf meinem Tablet die Kamera der Drohne auf. Ich musste Dezeria einfach sehen ... musste ...
Ich stutzte verwirrt, als sich keine Verbindung zu Heka aufbauen ließ. War die Blockade für diesen Raum etwa so stark, dass selbst dieser Link gekappt wurde? Nein. Ausgeschlossen. Aber, wieso funktionierte es dann nicht? Ein technischer Fehler der Drohne? Dies wäre rein theoretisch möglich, aber auch die direkte Verbindung zu meinem Schiff war davon betroffen. Zwei Fehler? Unmöglich! Hatte mich etwa einer sabotiert? Nein, dazu hatte hier keiner die technischen Mittel ... Fuck! Was lief hier?