❂Elians Sicht❂
Ich machte mir Sorgen. Dezeria hielt sich immer noch hinter einer dicken Eiswand verborgen und hatte aufgehört, mir zu antworten. Sie war mir böse, obwohl ich ihr gar nichts getan hatte. Wie könnte ich auch? Ich wollte doch, dass es ihr gut ging. Sie keine Angst zu haben brauchte. Leider glaubte sie mir nicht. Ich war nicht überzeugend genug. Sie fürchtete sich zu sehr vor Leo und er wiederum war nicht gewillt, nett zu sein. Warum konnte ich mir nicht erklären. Leo hatte noch nie etwas Fieses ohne Grund getan. Er war zwar ein Rea, aber ein guter.
Niedergeschlagen zog ich die zwei Decken enger um meinen Körper. Lange konnte ich hier nicht mehr sitzen. Es war unangenehm. Viel zu kalt. Mein Blick wanderte traurig über das Eis. Ob Dezeria jemals herauskommen würde? Was, wenn die anhaltende Eiswirkung ihren Tribut gekostet hatte und sie jetzt ohnmächtig war? Oder Wind sie verletzt hatte? Ich schluckte. Sprach sie deswegen vielleicht nicht mit mir? Brauchte sie Hilfe?
Ich schloss die Augen. Horchte in mich hinein. Leider war ich nicht in der Lage, etwas hinter der Kristallmauer auszumachen. Ich besaß nicht so ein feines Gespür wie Leo und meine Essenz durfte ich nicht stärker einsetzen. Ich hatte es ihm versprechen müssen. Allein bei einem Notfall war es erlaubt, aber ein solcher war es nicht. Weder mein Leben, noch das von Suciu war in Gefahr.
Unschlüssig wippte ich mit dem Oberkörper ein Stückchen vor und zurück. Ob sich bei der Regel nicht doch eine Ausnahme machen ließe? Vermutlich nicht. Leo hatte strenge Richtlinien für neue Elementare aufgestellt. Wobei. Ich war hier. Ich durfte in diesem Zimmer sitzen und Dezeria beistehen. Das widersprach ja eigentlich den Verboten, oder?
Ich grinste. Dann sollte es auch in Ordnung sein, wenn ich nur ein wenig meine Fähigkeit einsetzte. Es ging immerhin darum, dass Dezeria nicht starb. Instabil zu sein war eine schlimme Sache und ich wollte nicht, dass sie sich darin verlor. Nicht in dieses endlose Loch fiel, welches mich fast verschlungen hätte. Niemand sollte dergleichen erleben müssen.
Vorsichtig berührte ich das Eis mit den Fingerspitzen und sendete schwache Lichtwellen hinein. Suchte nach den negativen Schwingungen von Dezeria. Bevor ich jedoch irgendetwas fand, hielt ich inne. Hinter mir brach ein fürchterliches Husten aus. Es kam von Leo und klang, als würde er keine Luft bekommen. Besorgt darüber, drehte ich den Kopf zu ihm und erstarrte. Ich sah Blut. Eine Menge Blut.
Mein Körper war mit einem Mal wie gelähmt. Ich konnte nur hilflos zusehen, wie Leo zu Boden stürzte und nach Luft schnappte. Ich wusste tief in mir, dass er nicht sterben konnte. Dass Verletzungen ihn nicht langfristig etwas anhaben konnten. Dennoch. Ihn so zu sehen machte mir Angst. Schlagartig fühlte ich mich an jenen Tag zurückgesetzt, wo seine Kopie neben mir zusammengebrochen und kurz darauf verstorben war. Fremde kamen danach auf das Schiff und wollten jeden Elementar sowie Bediensteten mitnehmen. Fast wäre es ihnen gelungen.
Unwillkürlich erschauderte mein Innerstes, als ich an den hellen furchtsamen Schrei dachte. Noch nie zuvor hatte ich Suciu laut rufen gehört. Erst recht nicht nach mir. Leo war Ewigkeiten der Einzige gewesen, der ihr Zimmer betreten durfte. Er hatte gemeint, dies wäre normal und es bräuchte Zeit. Viel Zeit, bis ihre Wunden vergessen und sie bereit wäre, mich zu sehen.
Mein Herzschlag beschleunigte als die alten Bilder lebhaft vor meinen Augen auftauchten. Die Fremden wollte sie aus ihrem Zimmer zerren und ob nun beabsichtigt oder nicht – sie hatten ihr wehgetan. Jede Faser meines Seins war darauf angesprungen. Dann war da Licht gewesen. Dunkle Schatten. Feuer. Ein großes Chaos. Die Details in dieser Erinnerung waren verblasst, aber ich konnte den Schrecken noch immer fühlen. Schwer atmete ich ein und aus. Würde das jetzt wieder passieren? Würden Männer kommen und uns mitnehmen wollen?
Ein Fluchlaut und weiteres grausiges Husten von Leo ließ mich zusammenzucken. Ich schluckte und starrte schweißtreibend auf das viele Blut. Seine Augen leuchteten silber und die Finger wurden zu dunklen Klauen. Ich nahm noch einen tiefen Atemzug und versuchte, mich zu entspannen. Es war alles in Ordnung. Das da war keine Kopie. Leo war hier. Das von damals würde nicht noch einmal passieren. Das hatte er mir versprochen.
Zitternd bemühte ich mich hoch und ging auf ihn zu. “Leo? Kannst du mich hören? Was ist passiert?” Er blickte ruckartig auf und ein Knurren schlug mir entgegen – drohte mir einen qualvollen Tod an. Er war eindeutig wütend. Nein. Stärker. Wut war noch zu harmlos dafür. Ich konnte seine negativen Wellen förmlich greifen. Dies sollte ich schnell beheben. Er mochte es zwar nicht, wenn ich das tat, aber danach ging es ihm immer deutlich besser. Er sollte nicht wütend sein. Das war nicht gut. Für niemanden.
Ich streckte einen Arm mit der Handfläche nach vorne gerichtet und sog die Schatten von seiner Seele. Ein weiteres Knurren erklang und zugleich sprießten unzählige gebogene sowie gerade Klingen aus seinem Körper. Es war unheimlich, aber dergleichen kannte ich schon. Ein Verteidigungsmechanismus. Es geschah willkürlich.
“L-ASS D-AS!” Er spuckte Blut und schlug anschließend mit seinen messerscharfen schwarzen Fingern in meine Richtung. Ich wich nicht aus. Er würde mich nicht verletzten. Nie. Die beiden unmenschlichen Maschinen jedoch, die mich eigentlich vor Dezerias Eis beschützen sollten, sahen dies anders. Eine von ihnen wehrte den Schlag von Leo mit den eigenen Klingenarmen ab, während die zweite mich zurückdrängte.
“SCHH-AFFT IHN W-WEG!” Der Hass in seiner Stimme verpasste mir eine Gänsehaut. Die Blitze, die als Nächstes lautkrachend durch den Raum peitschten, taten ihr Übriges. Ließen mein Magen verkrampfen. Ich ertrug es nicht, wenn er so war.
“Hey! Lass mich los! Ich will doch nur helfen!”, schimpfte ich, als mich eine der Puppen am Kragen packte. Ich zappelte vehement. Vergeblich. Sie hielt meinen Pullover mit eisernem Griff fest und zerrte mich nach draußen.
“Das kannst du nicht machen! Leo?!” Mein Ruf blieb ungehört. Immer weiter entfernten wir uns vom Zimmer. “Lass mich los! Das ist ein Befehl!” Die Maschine hörte nicht auf mich, aber das hatte ich auch nicht erwartet. Leos Wort stand deutlich über meinem. Sie würde mich auf mein Zimmer bringen und danach einsperren, bis er etwas anderes bestimmte. Aber. Ich konnte ihn doch nicht so lassen! Nachher tat er noch etwas Schlimmes, was er anschließend bereute.
Besorgt blickte ich auf die Kralle der Puppe, die mich immer noch unerbittlich festhielt. Der dickmaschige Stoff meines Lieblingspullovers war schon ganz ausgeleiert an der Stelle. Gemeinheit. Nachher machte sie ihn noch kaputt. Leider war ich nicht kräftig genug, um etwas dagegen zu tun. Egal wie sehr ich versuchte, meine Kleidung von ihr zu befreien, es wurde nur schlimmer.
Da ich mir nicht anders zu helfen wusste, sagte ich schließlich: “Du tust mir weh!” Eine Lüge und dafür schämte ich mich sofort. Die Unwahrheit zu sagen war nicht in Ordnung. Aber irgendetwas musste ich tun. Das hier war doch ein Notfall, oder?
Ich verdrängte das schlechte Gefühl und freute mich stattdessen, dass die Maschine mich losließ. Schnell drehte ich herum und lief zurück. Wollte ich zumindest. Leider hatte ich die zweite Puppe ganz vergessen. Sie versperrte mir den Weg und musterte mich von oben bis unten. Vermutlich machte sie irgendwelche Technikdingens und prüfte, ob ich tatsächlich verletzt war.
“Aus dem Weg!” Nichts passierte. “Bitteee geh aus dem Weg!” Keine Reaktion. Unschlüssig hüpfte ich von einem Bein aufs andere. Ob sie es zulassen würde, wenn ich mich an ihr vorbeiquetschte? Gedacht, getan. Ich machte mir meine geringe Körpergröße zu Nutze und huschte an der Seite durch. Zu meinem Glück beobachtete sie mich nur, ohne etwas zu tun. Wobei sie es sicherlich gekonnt hätte. Vielleicht waren beide aufgrund meiner Aussage vorsichtiger mit mir, aber das wusste ich nicht genau. Es war auch nicht von Bedeutung. Wichtig war jetzt nur Leo. Ich rannte los, zurück ins Zimmer – prallte beim Türrahmen jedoch gegen etwas. Stürzte rückwärts.
“Aua!”, murrte ich und wusste dabei nicht, was mir mehr schmerzte. Mein Hintern oder mein Gesicht. “AHH!” Plötzlich riss etwas grobschlächtig an meiner Kleidung und ich donnerte im nächsten Moment gegen eine Wand. Mir schwindelte. Meine Sicht verschwamm. Das Geräusch von berstendem Metall und undefinierbares Knirschen drang an meine Ohren.
Hastig wischte ich mir die beginnenden Tränen aus den Augen. Blinzelte. Ich brauchte einige Sekunden, um mich zu orientieren. Ich erkannte silber und schwarz. Viel Metall um mich herum. Lang gezackte Klingen, die sich wie ein Dornengewächs durch den Flur schlängelten. Ich rieb mir erneut über die Augen und sah Leo. Seine einstige weißgoldene Kleidung war durch und durch von Blut verfärbt. An seinem Gesicht und Hals klebte auch noch eine Menge davon. Ansonsten schien es ihm besser zu gehen. Ich verspürte Erleichterung. Erleichterung, die beinahe sofort von neuer Sorge verdrängt wurde. Sein Körper war der Ursprung dieses gefährlich scharfen Gebildes. In seiner Klauenhand hielt er den Kopf einer der Puppen, die mich schützen sollten. Die zweite lag links neben mir. Ihr Leib war in unzählige Einzelteile zerschnitten und aufgespießt. Ich schluckte. Das wäre mir beinahe passiert, oder?
“Was machst du immer noch HIER?!” Leos glühender Blick durchbohrte mich, während er mit Leichtigkeit den Schädel der Maschine zerquetschte. Ich erschauderte. Die Aura, die von ihm ausging, war nicht gut. Sie war dunkel. Unendlich dunkel. Er wollte töten.
Ich streckte einen Arm nach vorne, aber noch bevor ich meine Fähigkeit einsetzen konnte, bewegten sich die Klingen. Blitzschnell bogen sich die Spitzen zu mir. Stachen in meine Haut. Brachen meine Konzentration.
“Ahh! Du tust mir weh!” Kaum ausgesprochen zog sich das Metallgebilde zurück und verschwand vollständig in Leos Körper. Er wiederum überwand die paar Schritte zu mir und packte meinen Arm. Zog mich auf die Füße.
“Ich habe dir verboten, das zu tun!” Ich keuchte. Sein Griff war schmerzhaft, aber ich konnte ihm verzeihen. Er tat es nicht mit Absicht.
“Ich will nur helfen ...” Missbilligend musterte er mich.
“Unfug!” Er packte mein Kinn und zog es zu sich. “Du schadest damit nur dir selbst! Dein Auge ist bereits verfärbt!” Ein Knurren entwich seiner Kehle. “Ich habe jetzt keine Zeit für dich. Wenn du so ungehörig bist, trägst du auch die Konsequenz. Jetzt bleibst du eben hier!” Er umfasste mein rechtes Handgelenk und noch bevor ich protestieren konnte, schwand die Kraft in mir spürbar. Ich sank auf die Knie. Rang nach Atem.
“Bis ich zurückkomme, kannst du darüber nachdenken, warum ich dich bestrafe.” Er entfernte sich mit schnellen Schritten.
“Leo ... warte ...” Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Ich konnte nicht aufstehen. Meine Beine gehorchten mir nicht. Ich war zu schwach. Zitternd starrte ich auf meinen Arm. Er hatte mir einen Bleasta verpasst. Einen massiven. Das war nicht fair.
“Leo ... bitte ...” Ich bemühte mich, ihm hinterher zu kriechen, aber ich kam nicht weit. Kaum einen halben Meter schaffte ich, bevor ich erschöpft aufgab. Leo kümmerte das nicht. Er verschwand aus meinem Sichtfeld, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wie konnte er mir das nur antun? Er wusste ganz genau, dass ich mit dem Kristall nicht aufstehen, geschweige denn laufen konnte.
“Leo ...” Ich schniefte. Das war gemein. Ich fühlte mich elendig. Der Boden war hart und kühl. Wie lange musste ich hier liegen bleiben? Hoffentlich kam er schnell zurück. “Bitte ...”
Plötzlich raschelte es und etwas fiel auf mich. Ich zuckte erschrocken zusammen, entspannte aber gleich darauf wieder. Es war nur eine Decke. Ich drehte mühselig den Kopf. Sah eine Bedienstete, die sich neben mich hockte.
“Bitte sagt Leo, dass er mir das abnehmen soll ... Bitte. Er soll zurückkommen.” Sie schüttelte den Kopf, half mir aber soweit, dass ich mich an die Wand lehnen konnte und nicht mehr der länge nach auf dem Teppich liegen musste.
“Danke ...” Das Wort blieb mir fast im Halse stecken, als mit einem Mal eine Eiswelle knapp vor meiner Nasenspitze vorbeirauschte. Es riss die kindliche Puppe regelrecht von den Füßen und fror sie einige Meter von mir entfernt in einem großen Kristallklumpen fest. Ich blinzelte. Was war das heute bloß für ein Tag?
“Elian, geht es dir gut?” Dezeria tauchte vor mir auf und betrachtete mich besorgt. Sie war seltsamerweise nur mit einem Laken bedeckt. “Gott, was hat er dir angetan?!”
“Du bist rausgekommen ...”, flüsterte ich und lächelte. Es ging ihr gut. Das beruhigte mich.
“Ich ...” Sie schüttelte den Kopf. “Um mich geht es jetzt nicht. Du bist verwundet und blutest ... und dein eines Auge sieht auch schrecklich aus ...” Ihre Finger berührte mein Gesicht. Vorsichtig. Zärtlich.
“Ich blute?”, fragte ich verwirrt und blickte langsam an mir herab. “Oh nein, mein Pullover ...” Wehleidig strich ich über den zerschnittenen Stoff. Ich zählte fünf Löcher, aber da waren bestimmt noch mehr. “Er war ein Geschenk ... von Meekamahi gewesen.” Ich schloss die Augen. Das war heute viel zu viel für mich. Zu anstrengend. Zu kräftezehrend.
“Hey, Elian? Nicht einschlafen, ja?” Ich blinzelte müde und bekam nur am Rande mit, wie Dezeria meine Kleidung hochschob. Mich abtastete. “Tut es weh? Du hast einige blaue Flecke und noch weitere Schnitte hier unten ... Dieses elende Monster.” Sie tupfte mit dem Laken an mir herum.
“Das war keine Absicht von ihm ...” Leo tat nie etwas ohne Grund, aber ich konnte nicht wirklich darüber nachdenken. Mir fielen wieder die Augen zu.
“Nicht mit Absicht?!” Sie klang empört. Verärgert. “Ich hatte Angst, dass er dich tötet! Ich habe euch gehört und auch das viele Blut gesehen ... Aber es scheint nicht von dir zu kommen. Kannst du aufstehen? Was ist überhaupt passiert? Hast du mit ihm gekämpft?” Ich wollte nicht reden. Nicht denken. Nur ausruhen.
“Elian? Hey, Elian?” Sanft rüttelte sie mich. “Ich kann keine tiefere Verletzung finden. Sag mir, wo es dir wehtut, ja? Nicht einschlafen! Rede mit mir, bitte!” Sie klang verzweifelt und das sollte sie nicht. Träge öffnete ich die Lider.
“Mir geht es gut ... Nur eine Strafe. Leo will, dass ich mich so fühle. Er zeigt mir dadurch, wie schwach ich bin, und ich bin es. Ich soll auf ihn hören, dann würde mir sowas erspart bleiben. Er hat recht ...”
“Strafe?! Das ist doch verrückt! Elian, nicht einschlafen. Du musst wach bleiben und aufstehen! Wir verschwinden, bevor er zurückkommt, ja? Schaffst du das? Komm, ich helfe dir.” Sie versucht, mich zu stützen, aber das brachte nichts. Die Muskeln meines echten Beines konnten im Moment kein Gewicht tragen und meine Prothese wurde unterbewusst von meinem Verstand gesteuert, um möglichst natürlich zu arbeiten. Wenn ich so wie jetzt völlig ausgelaugt und erschöpft war, funktionierte sie ebenso wenig.
“Lass mich ... Ich muss hier warten. Meine Strafe ...”
“Gott, Elian, hörst du dir überhaupt zu? Du hast keine Strafe verdient. Niemand hat das. Geht es dir deswegen schlecht? Hat er dir wieder sein Blut gegeben? Dich betäubt?” Ich schüttelte den Kopf – wollte ich zumindest, aber nichts rührte sich. Ich war müde. So müde. Ich wollte in mein Zimmer. In mein Bett. Mich an Suciu kuscheln.
“Hmm, ich will mich ja nicht einmischen, aber das liegt an dem Ding an seinem Arm.” Die Stimme kannte ich. Das war Wind. Mit letzter Kraft öffnete ich die Augen. Er stand lediglich mit einem weißen Hemd bekleidet im Türrahmen und musterte mich unbekümmert. Auf Höhe seiner Brust hielt er eine gläserne Schale, die mit dunklen Kugeln befüllt war und stopfte sich einige davon in den Mund.
“Meinst du? Wenn es wie bei dir ist ...”, murmelte Dezeria und hob meinen Arm mit dem Bleasta zu sich. Sie umfasste vorsichtig den grau-weißen Kristall und sah mich anschließend mit einem aufmunternden Lächeln an. “Vielleicht bekomme ich es auch ab, dann geht es dir hoffentlich besser, ja? Halte durch, Elian.”
“Mhm hm ... Klar geht es ihm dann besser. Sieht man doch deutlich. Das Teil zieht sämtliche gelbe Fäden aus ihm. Ich bezweifle, dass es guttut ... Was auch immer das ist.” Er warf sich eine neue Ladung Kugeln, welche ich nach näherem Betrachten als Schokolade erkannte, in den Mund und kaute genüsslich. Das war gemein, ich wollte auch.
“Du kannst es sehen? Gelbe Fäden?” Dezeria sah ihn verblüfft an, wandte aber schnell wieder den Blick zu mir. Ihre Wangen nahmen eine leicht rosa Farbe an. Sie mochte ihn vermutlich, aber das war gefährlich. Er war gefährlich.
“Klar.” Hendrick zuckte mit den Schultern. “Siehst du es nicht?”
Plötzlich ging ein Ruck durch mich hindurch. Ich fühlte mich besser. Viel besser! Überrascht davon, sah ich auf Dezerias Hände. Sie hatte tatsächlich den Bleasta kaputt gemacht. Unglaublich. Mir war nicht einmal bewusst, dass es ohne Leos Einverständnis möglich war. Ich schluckte. War es bestimmt auch nicht, oder? Es würde ihm sicherlich missfallen und seine Wut nur noch verstärken. Konnte er sie deswegen nicht leiden? Hatte sie zuvor auch schon ohne seine Erlaubnis ihre Fesseln abgenommen? Oder was, wenn er schwächer wurde? War das möglich? Konnte er nach all den Jahren auf einmal schwächer werden? Irgendjemand hatte ihn angegriffen. Hatte es etwas damit zu tun?
“Den Monden sei Dank! Wie fühlst du dich, Elian?” Dezeria entfernte die letzten Bruchstücke von mir und warf alles im hohen Bogen davon.
“Gut, denke ich. Mein Po und mein Kopf tun etwas weh und überall brennt es irgendwie ein bisschen.”
“Das Brennen kommt von den Schnitten, aber die sind alle zum Glück nicht sehr tief. Das Blut rinnt bereits. Mehr Sorgen mache ich mir um dein Auge. Kannst du dadurch überhaupt sehen oder ist es verschwommen?” Das mit meinem Auge hatte ich schon wieder völlig verdrängt.
“Ich kann alles wie immer erkennen.” Ich schluckte. “Welche Farbe haben sie denn?” Das allein war ausschlaggebend.
“Dein linkes ist weiß und das andere .... Nun. Es ist richtig schwarz ... Es sieht unheimlich aus. Hast du Schmerzen?” Erneut schluckte ich. Deswegen war Leo sauer gewesen. Grau wäre noch in Ordnung, aber nicht schwarz. Schwarz war lebensbedrohlich. Ich hatte meine Fähigkeit überschätzt und mich selbst mit Dunkelheit belastet. Daher die Strafe. Leo hatte richtig gehandelt. Ich war dumm und unvorsichtig. So konnte ich vorerst nicht zu Suciu zurück.
“Elian? Hörst du mich? Hast du Schmerzen?” Sanft rüttelte Dezeria an meiner Schulter.
“Hm? Oh ... nein. Das geht wieder weg.” Mit viel Konzentration und Ruhe die nächsten Tage. Diese Art Schäden waren hartnäckig, aber das musste sie nicht wissen. Sie würde es nicht verstehen. Sich nur noch mehr Sorgen und das wollte ich nicht.
“Gut. Kannst du aufstehen? Wir müssen schnell hier weg.” Ich nickte – auch wenn ich nicht wusste, was sie mit dem weg meinte – und ließ mir langsam von ihr aufhelfen.
“Hm? Seid ihr endlich fertig? Gehen wir? Wohin eigentlich?” Mein Blick traf Hendrick, der die restliche Schokolade aß und uns genauestens musterte. Ich erschauderte innerlich, da mir erst jetzt bewusst wurde, dass er ebenso kein Bleasta am Körper trug. Er könnte uns spielend verletzen oder gar töten. Er war gefährlich.
“Weißt du, wer du bist?”, fragte ich vorsichtig, denn ich wusste um die misslungene Anpassung, die Leo regelmäßig an ihm vornahm. Ich fand es keinesfalls gut, aber ich wusste auch, dass es für ihn lebenswichtig war. Dezeria würde es vermutlich nicht verstehen. Ich wollte es ja lange Zeit auch nicht begreifen, aber mittlerweile wusste ich es besser. Ich hatte ihn in seiner instabilen Phase erlebt. Hatte gesehen, wie er durchdrehte und dabei fast das ganze Schiff zerlegte.
“Wer? Ich?” Er grinste. “Ich bin Hendrick. Glaube ich.” Er stellte die leere Glasschale auf den Boden und sah zu Dezeria. “Was machen wir jetzt? Mir ist langweilig und ich habe immer noch Hunger.”
“Wir gehen zu einem Schiff, das uns wegbringt. Elian?” Sie nahm meine Hand und drückt diese, sah mich flehend an. “Du weißt doch, wo ein Schiff ist, oder? Du kennst dich hier aus.” Ich biss die Zähne zusammen und verlagerte mein Gewicht unruhig von einem Bein aufs andere. Mir gefiel die Richtung dieses Gesprächs nicht.
“Ja ...”
“Kannst du uns hinführen?”
“Warum?” Meine Frage schien sie zu überraschen oder zu verwirren, da war ich mir nicht ganz sicher.
“Na damit wir endlich verschwinden können! Ganz weit weg.” Das hatte ich befürchtet und schüttelte vehement den Kopf.
“Das geht nicht. Ist nicht gut. Leo würde das nicht erlauben ...” Ich enttäuschte sie mit diesen Worten, dies sah ich deutlich in ihrem Gesicht. Es tat mir leid. Ich würde ihr gerne etwas anderes sagen, aber das war unmöglich.
“Bitte, Elian, du kannst doch nicht hierbleiben wollen! Er tut dir weh und hält dich hier gefangen. Er ist ein grausames Monster ...” Ich hörte ihre Worte, sah ihr flehen und doch war nichts, was aus ihrem Mund kam wirklich bedeutsam. Nicht für mich. Ich konnte hier nicht weg. Ich mochte es nicht. Ich war hier sicher. Leo beschützte mich
“... Ist es wegen Suciu? Wir nehmen sie natürlich mit! Wir fliehen alle zusammen.” Ich schüttelte erneut den Kopf.
“Nein, das geht nicht. Sie kann das Zimmer nicht verlassen. Sie ist auf die Hilfe von Leo angewiesen.” Dezeria kämpfte mit sich. Ihr gefiel nicht, dass ich mich weigerte. Sie suchte nach einer Lösung, obwohl es kein Problem gab. Sie würde mich nicht umstimmen können. Es war ihr vielleicht auch bewusst und doch wollte sie mich nicht zurücklassen. Ich konnte dieses Verhalten nicht einordnen. Vermutlich war sie schon zu instabil. Ich mochte sie, aber ich würde dennoch für nichts auf der Welt Suciu aus ihrem hier vertrauten Umfeld reißen. Sie verlassen erst recht nie.
“Wenn er nicht mitwill, lass ihn doch.” Hendrick lief herum und begutachtete die langsam schmelzende Eisspur am Boden. “Was ist mit der da? Kommt die denn mit?” Mit schiefem Kopf betrachtet er die Maugeri, die noch immer an der Wand festgefroren war.
“Nein. Sie gehört auch zu den ... Bösen”, murrte Dezeria und ich sah, wie Hendrick darüber schmunzelte. Ich hatte keine Ahnung, was sie ihm erzählt hatte, aber ich wagte es auch nicht zu fragen. Ich wollte keinen Widerspruch in seinem Verstand auslösen.
“Und was ist mit dem anderen Ding da?” Er deutete in den Gang hinter uns. Er war leer.
“Welches Ding?”, fragte Dezeria verwirrt und genau in diesem Augenblick, trat eine neue Bedienstete um die Ecke. Sofort schoss Eis nach vorne und fror die Puppe ebenso fest.
“Auch böse, was?” Hendrick schlenderte amüsiert an uns vorbei und brach gelegentlich einen Eiszapfen ab, um ihn sich in den Mund zu stecken. Ich beobachtete ihn genau. Er nutzte seine Fähigkeit, um die Sinne zu schärfen. Anders hätte er nicht wissen können, dass eine Maschine herkam. Auch wie er sich bewegte machte deutlich, dass er ganz und gar Wind war. Er prüfte. Wägte ab. Es würde nicht lange dauern, bis er sich eine Meinung gebildet hatte und einen eigenen Weg einschlug.
“Elian!” Dezeria umfasste meine Schultern. “Wir können hier nicht bleiben ... Ich kann hier nicht bleiben. Bitte, hilf mir.” Ich kaute nervös an meine Unterlippe. Die Situation war schwierig. Es war nicht richtig, wenn ich ihr zur Flucht verhalf. Außerhalb Leos Schutz gab es unzählige Reas. Ihr würde mit Sicherheit etwas passieren. Etwas Schreckliches. Das wollte ich nicht.
“Elian, bitte! Ich flehe dich an!” Ihre weißen Augen zeigten so viel Schmerz und Verzweiflung. Das sollte so nicht sein. Es tat mir weh, sie anzusehen.
“I-ich ... Ich kann dir zeigen, wo es zu den Schiffen geht, aber das wird dich nicht weiterbringen ... Ich kann keines steuern und dir wird die Technik ebenso nicht gehorchen.” Vielleicht half ihr diese Wahrheit dabei, diesen Plan zu verwerfen. Ich hoffte es von ganzem Herzen.
“Ich kann es”, sprach Hendrick und tippte interessiert an dem Eis herum, welches die Maugeri vollständig umschloss. “Hui, ziemlich massiv ...”, flüsterte er und drehte sich anschließend mit einem berechnenden Lächeln zu uns. “Dezeria meinte, ich könnte irgendetwas steuern. Ich gehe jetzt mal davon aus, dass es sich dabei um dieses Schiff handelt, richtig?”
“Ja.” Dezeria nickte ihm zu, bevor sie sich wieder zu mir drehte. “Ich dachte, vielleicht erinnert er sich, wenn er es sieht, verstehst du?” Ich konnte diesen Gedankengang verstehen, hielt ihn aber nicht für sonderlich gut. Schon allein, weil sie mit ihm allein würde fliegen müssen, wenn es funktionierte. Nicht zu vergessen, dass Leo außer sich sein würde. Ich schluckte. Wie kam ich aus dieser Sache nur wieder raus?