Leider blieb es so unangenehm, wie es begonnen hatte. Reznick saß wie ich am Tisch, ohne etwas zu tun oder zu sagen, während sein Vater Unmengen an Lebensmittel vertilgte. Er starrte mich regelrecht an, als hinge sein Leben davon ab. Die Situation war beunruhigend, aber gleichzeitig raste mein Herz vor Aufregung. Ich konnte immer noch nicht fassen, dass er lebte – dass er hier war. Wirklich und wahrhaftig. Ich hatte ihn so lange nicht gesehen. Viele ungesagte Worte schwirrten in meinem Kopf und je länger das Schweigen anhielt, desto schlimmer wurde es.
“Bist du ... wieder du selbst?” Diese Frage brannte mir unerträglich auf der Zunge und auch, wenn ich nicht vor seinem Vater mit ihm hatte reden wollen, so ertrug ich es keine Sekunde länger. Ich wollte – nein – musste etwas sagen!
“Ja”, antwortete er kühl und distanziert, was mich sehr verunsicherte. Auch das sich in seinem Gesicht keinerlei Gefühlsregung zeigte, war wenig hilfreich. Stand er vielleicht immer noch unter fremder Kontrolle oder war meinetwegen verärgert? Besorgt warf ich einen flüchtigen Blick nach rechts zu seinem Vater. Dieser lächelte und trank einen kräftigen Schluck, was mich auch nicht weiterbrachte. Das konnte alles und nichts bedeuten. Er amüsierte sich schließlich schon die ganze Zeit über irgendwas.
“Es ...” Nervös sah ich wieder zu Reznick, der nun doch irgendwie grimmig wirkte. “Es ... tut mir leid, dass wir jetzt hier sind. Ich wollte zu dieser Stadt, so wie du es gesagt hattest, aber ... da war sofort dein Vater und dann der Mondgott und ... Es war so verrückt.” Ich hatte das tiefe Bedürfnis, ihm zu verdeutlichen, dass ich mich keineswegs absichtlich hatte fangen lassen. “Man hat mich in der Wasserstadt in einen Tempel verschleppt und da waren lauter ... nackte Frauen und ein Kerl. Der nannte sich irgendwas mit Sonne und wollte mich für seine Sonnenkirche und dann haben sie Zerian gequält! Es war schrecklich ... Ich habe es in einem Fenster gesehen und wollte ihm helfen, aber ich war in einem Zimmer eingesperrt und dann warst plötzlich auch du da und ... ich wurde ohnmächtig –”
“Hör auf!” Nun war er definitiv wütend. “Ich will nichts davon hören! Jedenfalls nicht solange ER hier ist!” Kaum ausgesprochen lachte sein Vater aus vollem Halse, aber das ignorierte Reznick gekonnt. Sein stechender Blick blieb unerlässlich auf mir. “Du kannst mir alles sagen, aber erst, wenn wir diesen Ort verlassen haben.” Enttäuscht senkte ich den Kopf, starrte auf meinen gefüllten Teller und ballte die Hände in den Stoff meines Kleides. Mir war es im Moment vollkommen gleich, ob sein Vater hier war oder nicht. Für mich zählte allein, dass wir uns endlich hätten unterhalten können. Aber gut. Ich beugte mich seinem Wunsch.
Weitere Zeit verstrich, in der kein einziges Wort fiel. Es war zermürbend. Ich hatte keine Ahnung, wie lange wir hier schon saßen. Wie viel konnte Reznicks Vater bitteschön essen? Und wieso mussten wir unbedingt dabei sein? Spielte er mit uns? Warum? Diesmal gab es doch überhaupt keinen Grund, oder? Sein Sohn war doch wieder er selbst. Ich verstand es einfach nicht. Übersah ich vielleicht etwas Wichtiges?
Langsam wanderten meine Augen zurück zu Reznick. Es war verrückt, aber ich musste ihn ansehen, auch wenn mir sein Gesichtsausdruck einen schmerzhaften Stich verpasste. Dieses emotionslose hatte er ohne Zweifel von seinem Vater. Bisher hatte er noch kein einziges Mal so etwas wie Freude gezeigt. Ich konnte ja verstehen, dass die Situation alles andere als schön war. Er wollte nicht hier sein. Ich wollte nicht hier sein. Und doch waren wir es. Was sprach dagegen, dem anderen nur einen kurzen Einblick über die wahren Gefühle zu geben? Oder hatte ich mich derart getäuscht?
Ich lächelte verunsichert und versuchte, irgendetwas in seinen stürmischen silber-braunen Augen zu finden. Oder sonst ein Zeichen, das nur für mich bestimmt war. Aber da gab es nichts. Vielleicht war ich doch zu naiv und hatte seine Worte falsch gedeutet. Seine Berührungen und auch den unglaublichen Kuss damals – nein. Was dachte ich da? Diese Rückschlüsse waren unsinnig. Er war doch extra meinetwegen hergekommen und wollte mich hier rausholen.
Ich seufzte. Offensichtlich war ich nicht mehr in der Lage, vernünftig nachzudenken. Oder überhaupt zu denken. Reznicks Nähe machte es mir unmöglich und dann noch die Aussicht auf seinen nackten muskulösen Oberkörper. Gott! Mein Herz schlug wie verrückt und mir war heiß. Mein ganzes Sein schien jede seiner Regungen, selbst wenn er nur atmete, auf sich zu beziehen. Ich suchte in allem eine Ablehnung oder Zuneigung seinerseits. Das konnte nicht normal sein und musste dringend aufhören. So war ich ihm nun wirklich keine Hilfe. Vermutlich plante er schon die ganze Zeit, wie wir entkommen konnten, und wollte mit dieser kühlen Art keine Aufmerksamkeit erregen. Auch wenn ich im Moment keine Gefahr in seinem Vater sah, was bedeutete das schon? Reznick kannte diesen Mann schließlich schon Jahre, wogegen ich – was? Ein oder zwei Tage diese abartige Gesellschaft erleben durfte? Er hatte zwar unentwegt vorgegeben, aus einem guten Grund zu handeln und auch immer alles geheilt, was er mir – Moment. Meine Stirn legte sich in tiefe Falten, als ich mal wieder bei einer von Reznicks schrecklich großen Narben hängen blieb.
“Ich habe eine Frage.” Verärgert sah ich zu dem Monster. “Warum hat Reznick die vielen Narben, wenn Ihr doch jede Wunde heilen könnt?” Das passte für mich nicht zusammen und es machte mich wütend. Er hatte kein Recht, ihn so zuzurichten oder generell ihm etwas anzutun!
“Alexander.” Er nahm einen Bissen von einer ovalen grünen Frucht und schluckte diesen hinunter. “Er heißt nach wie vor A–”
“Gott, bitte lasst diesen Quatsch!” Mahnend sah er mich an, aber das war mir egal. “Beantwortet die Frage!” Es war mir ernst und um das zu unterstreichen, griff ich nach dem Schlüssel, der neben meinem Teller lag.
“Nicht jetzt. Wir reden über die Dinge, die meinen Sohn betreffen, nach dem Essen. Zu deiner Person jedoch gibt es keine Beschränkungen. Also, was willst du wissen? Vielleicht über –”
“Nein, verdammt!” Reznick schlug mit der Faust auf den Tisch. “Wir wollen dein Scheißessen nicht und auch nichts bereden! Lass Dezeria frei und dich von mir abstechen! Du widerlicher Arsch, ich werde –”
“Nicht in diesem Ton.” Er putzte sich gelassen mit einem kleinen Stofftuch den Mund, während sein Sohn vor Wut bebte, aber doch kein weiteres Wort von sich geben konnte. Die Kontrolle seines Vaters bestand nach wie vor, wohingegen ich nicht länger davon beeinflusst wurde, oder? Prüfend schob ich den Stuhl zurück und stand auf. Zu meinem Erstaunen klappte es ohne Probleme. Ich konnte mich sogar einige Schritte von meinem Platz entfernen, bevor eine durchscheinende weiße Wand genau vor mir auftauchte. Ich strich vorsichtig mit den Fingern darüber. Sie war massiv – blockierte effektiv meinen Weg.
“Es ist richtig, dass du nicht länger unter meinem Einfluss stehst.” Das Monster erhob sich ebenfalls und kam langsam zu mir. “Dennoch bestehe ich darauf, dass du wieder Platz nimmst.” Er sah zwar durch das freudlose Gesicht unheimlich und bedrohlich aus, aber das machte mir keine Angst. Es gab schließlich keinen Grund mir etwas anzutun, wenn man sein sonstiges Handeln berücksichtigte, und zur Not hatte ich ja immer noch das Eis.
“Ich möchte aber nichts mehr essen. Beantwortet meine Frage. Sagt uns, was Ihr zu sagen habt und dann lasst uns gehen, bitte.” Sein Blick fiel auf meine Hand, die den Schlüssel fest umklammert hielt.
“Und wenn nicht? Wirst du dann dein Eis einsetzen?”
“Ist das denn wirklich notwendig?”
“Ich weiß nicht. Ist es das?” Na toll. Ich atmete einmal tief durch. Jetzt spielte er wieder irgendein dummes Spielchen.
“Ihr macht mir keine Angst. Was auch immer Ihr gerade versucht ... es ist albern.” Er lachte.
“So, so. Du hast keine Angst?” Er lächelte breit. “Erliege nicht dem Irrglauben, dass ich dir nie wieder etwas antun werde. Sollte es die Situation erfordern, würde ich dir ohne zu zögern den Hals umdrehen.” Reznick knurrte laut, während ich von dieser Aussage lediglich genervt eine Augenbraue hob.
“Was wollt Ihr? Habt Ihr überhaupt etwas Wichtiges zu sagen oder war das nichts weiter als eine Lüge?” Bei dem Wörtchen Lüge verging ihm dann endlich das doofe Grinsen.
“Fein. Dann begib dich auf deinen Platz und ich fange sofort an. Eigentlich hatte ich damit warten wollen, bis ihr beide euren Nullwert erreicht, aber wie mir scheint, ist das wohl vergebener Aufwand meinerseits.”
“Was auch immer ein Nullwert sein soll ...” Mit einigem Abstand ging ich an ihm vorbei, setzte mich auf meinen Stuhl und sah Reznick bemüht ruhig an. Er schien vor Wut zu kochen und wühlte damit auch unweigerlich meine Gefühle auf, aber das war denkbar ungünstig.
“Das hat was mit der Strömung eurer Essenz zutun.” Sein Vater nahm neben mir Platz und füllte sein Glas. “Null bedeutet dabei völlige Gelassenheit und Einklang mit sich und der Umgebung. Aber gut. Kommen wir zum anstrengenden Teil unseres Beisammenseins. Der Einfachheit halber werde ich dir vorerst nicht gestatten, zu sprechen, Alexander. Erst am Ende eines Abschnitts gebe ich dir die Möglichkeit, dich zu äußern. Henriette darf dagegen jederzeit Zwischenfragen stellen.” Er nahm einen Schluck und sah mich danach abschätzig an. “Sofern sich diese auf den Inhalt beziehen und ich noch nicht beantwortet habe. Ich werde nichts wiederholen.” Mit der linken Hand tippte er auf die Oberfläche des Tisches, was erneut rote Zeichen aufleuchten ließ. Ein Schauer erfasste mich, als danach plötzlich bewegte Bilder vor uns in der Luft erschienen. Viele handelten von Reznick, aber es gab auch einige, auf denen ich zu sehen war. Es zeigte unter anderem meine Familie, wie wir am Tisch saßen oder einfache Arbeiten im Dorf verrichteten. Brot backten. Am schlimmsten waren jedoch die schwebenden Rechtecke, die meine Hochzeit mit dem widerlichen Ludwig Van Rotterval wiedergaben. Dinge, an die ich mich gar nicht richtig erinnern konnte oder wollte. Es schmerzte, dass Reznick damals beim Grafen gestanden hatte, als ich betäubt in dessen Bett lag. Er selbst derjenige gewesen war, der bei meinem Rücken einige Stofflagen mit einem Ruck aufschnitt und mich anschließend mit dem Ekel allein gelassen hatte. Ich wandte schnell den Blick ab und starrte auf meinen Teller. Ich wollte nichts davon noch länger mit ansehen müssen.
“All die Spiele, an denen du bisher teilgenommen hast, Alexander, und wo beim letzten Henriette mitwirken durfte, fanden nicht auf meinem Befehl hin statt. Es geht nicht um mein Erbe. Nicht um deinen Namen. Du kannst hierbei kein Geld gewinnen und dich von mir freikaufen. Das war lediglich eine Manipulation meinerseits, damit du einen Sinn im Leben hast und die Spiele überstehst, ohne dich zu lösen. Mit lösen ist der Zerfall in ein Element gemeint, welches man vorhin wunderschön bei dir hatte sehen können.” Das Geräusch von brechendem Glas ließ mich nach rechts sehen. Reznicks Vater hatte in seiner Hand das Trinkgefäß zerdrückt, wobei seine Haut eine schwarze Farbe annahm und sich noch weiter verformte. Die Finger schmolzen zusammen und eine lange Klinge kam zum Vorschein. Das war immer noch unglaublich beeindruckend und unheimlich zugleich.
“Die Fähigkeit, Metall zu bilden, hast du im Übrigen von mir, mein Sohn. Du besitzt keine Waffen-Implantate oder Nanobots, die dich heilen. Das sind alles Eigenschaften, die du von mir vererbt bekommen hast. Und darum geht es den Rea auch im Großen und Ganzen. Um dich. Die Spiele werden veranstaltet, um natürlich einerseits die Leute zu unterhalten, aber auch wegen deiner Kraft. Deinem Können. Jeder will dich sehen.” Er zog die Waffe wieder in sein Fleisch zurück und tippte anschließend mit beiden Händen auf dem roten Licht des Tisches herum. Die Bilder von Reznick und mir verschwanden, dafür bildeten sich nun einige Wappen, die mir aber vollkommen unbekannt waren.
“Ich habe den Spielen zugestimmt, Alexander, weil ich dir so ein nachvollziehbares Lebensziel geben konnte und diese öffentliche Aufmerksamkeit zusätzlich ein guter Schutz für dich war. Du musst wissen, dass dein Leben den anderen der Führungsriege schon immer ein Dorn im Auge ist.” Ein Wappen, das als Symbol eine zweifarbige teure Sanduhr auf einem strahlend gelben Hintergrund zeigte, schwebte in die Mitte und wurde größer als alle anderen. “Dieses Zeichen gehört zum Orchikor. Dein Schiff wurde von ihnen angegriffen, bevor ich eintraf, erinnerst du dich? Ihnen gehört das BOLYZAG-Spielsystem und sie haben ein großes Interesse daran, dich in die Finger zu bekommen.” Sein Blick ging zu mir. “Um auf deine Frage zurückzukommen. Als mein Sohn noch klein war, befand er sich eine Zeit lang in der Obhut der Machtsysteme. Es wurde viel ausprobiert, woraus er besteht und wie widerstandsfähig er ist, was die Narben zur Folge hatte. Es sind Essenzwunden, die selbst ich nicht beheben kann.”
“Das ist ja schrecklich!” Ich sah ihn fassungslos an. “Er wurde als Kind misshandelt? Und Ihr habt das einfach zugelassen?”
“Was heißt zugelassen?” Sein Gesicht blieb ausdruckslos. “Durch eine Reihe von Umständen, wusste ich erst nichts davon. Sei jedoch versichert, dass ich alle Verantwortlichen hingerichtet habe, als ich davon erfuhr.” Er sah wieder zu Reznick, der nach wie vor wütend in unsere Richtung starrte. “Seitdem ist es dem Machtsystem untersagt, noch einmal an dir etwas zu testen oder dich direkt zu beeinflussen. Da diese Regel nun allerdings gebrochen wurde und Henriette zukünftig dein Lösen verhindert, wirst du an keinen Spielen mehr teilnehmen. Du bist in dieser Hinsicht frei, wenn du so willst. Hat einer von euch bis zu diesem Punkt Fragen dazu?” Ich überlegte. Bisher klang das für mich zwar alles sehr seltsam, aber nachvollziehbar. Die Rea waren alle durchweg grausam. Reznicks Vater war da keine Ausnahme, aber dann doch irgendwie. Soviel hatte ich ja bereits selbst von ihm mitbekommen. Er versuchte, Reznick zu schützen. Mit allen Mitteln und wie es schien, kämpfte er sogar gegen sein eigenes Volk. Verrückt. Mich überraschte jedoch am meisten, dass sich alles derart stark um Reznick drehte. Dass er diesen Mist seit klein auf durchmachen musste. Er tat mir leid. Mich hatte es dagegen ja nur zufällig getroffen, oder? Das, was ich für ihn fühlte, war also nichts Besonderes?
“Bei dem Spiel ... Das mit dem Grafen hätte auch jedem anderen passieren können?”
“Ja und nein. Die Spielfiguren variieren. In deinem Fa–”
“Verdammt, Dezeria!” Ich zuckte erschrocken zusammen. “Hör auf, dich mit ihm zu unterhalten! Alles, was er von sich gibt, ist doch nichts weiter als reine Manipulation!”
“A-aber ich wollte doch nur ...” Sein Vater unterbrach mich mit einer lockeren Handbewegung.
“Ist dem so? Du erkennst doch jede Wahrheit. Was von meinen Worten war nicht korrekt?”
“Hältst du mich für so dumm?” Ein Knurren hallte durch den Raum. “Du kennst mich doch besser als ich mich selbst! Was weiß ich schon, was davon wahr ist und was nicht?! Du verpackst deine Lügen in Halbwahrheiten. Das kannst du offensichtlich sehr gut. Ich sehe, dass irgendetwas an deinen Aussagen nicht passt oder etwas fehlt! Du spielst mit uns, so wie du es immer tust.” Er schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch. ”Wenn ich nun frei sein soll, dann gib mir endlich Dezeria, damit wir von hier verschwinden können!”
“Das wäre aktuell äußerst unklug.”
“Is’ mir scheiß egal! Ich will mit ihr soweit wie möglich weg von DIR!”
“Und wohin soll die Reise gehen, Alexander?” Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu. Ein provozierendes Lächeln umspielte seine Lippen. “Einige warten nur darauf, euch in die Finger zu bekommen. Dich will Oliver vielleicht nur als Attraktion für seine Shows, aber deine Freundin wird in den Anlagen der Augonen landen, wie alle Elementare. Man wird sie bis auf die letzte Zelle zerlegen. Willst du das?” Ich schluckte schwer und sah besorgt zu Reznick. Sein Vater hatte nicht ganz unrecht. Wo würden wir hingehen? Gab es überhaupt einen Ort, an dem wir nicht gejagt wurden und sicher waren?
“Gib mir Dezeria, verdammt noch mal! Ich will nur weg von hier!” Seine Wut nahm zu. Ich konnte es nicht nur sehen und hören, sondern spürte es. So verrückt das auch war. Sein Hass strahlte sehr deutlich von ihm – traf mich jedes Mal wie ein Peitschenhieb.
“Bitte ...” Ich wandte mich besorgt an seinen Vater. “Das, was Ihr da tut, hilft ihm nicht. Eure Worte machen es schlimmer. Es brennt ...”
“Warum sagst du es ihm dann nicht direkt? Ihr beide missversteht nach wie vor meine Rolle an diesem Tisch.” Er seufzte. “Sieh ihn dir doch an. Möchtest du ihn in diesem Zustand wirklich bei dir haben?” Ich runzelte die Stirn, verstand aber danach sofort, was er meinte. Aus Reznicks Oberkörper wuchsen silberne Metallspitzen und Zacken. Richtige Klingen sogar überall aus seinen Armen. Dieser Anblick machte es mir tatsächlich schwer, auf seine Frage zu antworten. Ich vertraute Reznick, aber war mir dennoch nicht sicher. Nicht, wenn er derart bedrohlich seinen Vater anstarrte. Er wirkte schon wieder so, als hätte er alles andere um sich herum vergessen.
“Du hast dich nicht im Griff, Alexander. Wie immer.”
“Halt deine Fresse! Ich mach dich kalt!” Ein schweres Seufzen erklang.
“Deine Wortwahl und deine mangelnde Kontrolle langweilen mich, mein Sohn. Sobald ich meinen Einfluss auch nur ein Stück zurücknehme, bricht deine Essenz hervor. Bekommst du das eigentlich mit?”
“Gib mir endlich, was ich WILL!” Sein stechender silber-graue Blick erfasste mich, was mir eine massive Gänsehaut verpasste. Ich hatte das Gefühl, gleich von ihm verschlungen zu werden. Das machte mir Angst.
“Und dann? Wirst du weinend zu mir kommen, wenn dein Spielzeug kaputt ist? Hast du die Frau von vorhin eigentlich schon aus deinem Gedächtnis gestrichen?”
“Welche Frau?”, fragte ich verwirrt und sah zwischen beiden hin und her. Hatte sein Vater etwa schon Ersatz, falls es mit mir nicht funktionieren würde? Oder gab es in Reznicks Leben schon von vornherein eine Frau? Daran hatte ich bisher noch gar kein Gedanken verschwendet und es jetzt zu tun schmerzte irgendwie.
“Die Frau, die das Feuer in sich trägt und die Partnerin von diesem Mondgott ist.”
“Mondgott? Meint Ihr Zerian?” Interessiert verfolgte ich, wie er etwas auf dem roten Licht eintippte. Würde ich nun Zerian sehen können? Ging es ihm gut? Dass er eine Frau hatte, war mir gar nicht klar gewesen. Ich konnte mich aber auch nicht erinnern, ihn so etwas gefragt zu haben. Oder ging es doch um jemanden ganz anderen?
Ich schluckte. Von Zerian war auf den neu auftauchenden bewegten Bildern über unseren Köpfen nichts zu erkennen, aber dafür die besagte Frau. Eine kleine nackte Frau und Reznick. Er zeigte mit der Spitze seines Klingenarmes auf sie. Da war Wut. Jede Menge Wut in seinen Gesichtszügen, während die Frau mit den schulterlangen rotbraunen Haaren sehr ruhig wirkte. Sie drehte sich kurz zur Seite, wohl um mit jemandem zu sprechen, und dann geschah es. Ohne Vorwarnung rammte Reznick ihr das Schwert in den Bauch, was meinen Körper unwillkürlich zusammenzucken ließ. Schlagartig wurde mir schlecht. Das Metall ragte aus ihrem Rücken!
“O Gott ...” Ich konnte nicht fassen, dass Reznick dazu in der Lage war. Die Frau hatte ihm nichts getan. Nicht angegriffen oder bedroht und seiner anschließenden Panik nach zu urteilen, war er über sein Handeln selbst entsetzt. Auf den magischen Bildern, aber auch in diesem Moment in echt. Er saß da und verfolgte mit großen Augen, was dort in der Luft gezeigt wurde. Je länger er es sich ansah, desto blasser wurde sein Gesicht.
“Das ... Das ist nicht passiert. Nein ...”, flüsterte er und zitterte am ganzen Leib. “Nur ein Trick ...”
“Irrtum. Das ist genau so passiert.” Die Bestätigung seines Vaters war wie ein Schlag in die Magengrube. Diesmal hatte ich mir wirklich gewünscht, dass er nur ein Spiel spielte. Uns Angst machen wollte. “Du hast ihren Körper sauber durchstoßen. Es gab eine starke Einblutung in den Bauchraum und in die Hohlräume einiger Organe. Das Rückenmark wurde knapp verfehlt. Ich könnte auch eine detaillierte Analyse deines Angriffs anfertigen, wenn du willst.”
“Nein, das ist nicht passiert ...”, wiederholte er mit belegter Stimme und auch ich wollte das nicht wahrhaben. Die gezeigten Bilder. Diese Situation dort – es tat weh. Das hätte auch ich sein können. Ob Reznick es wollte oder nicht war unbedeutend. Es passierte einfach. Wie sein Vater es gesagt hatte. Fehlende Kontrolle.
Mir blieb immer wieder der Atem weg, als ich mit ansah, wie er in purer Verzweiflung mit der blutenden Frau auf den Armen irgendwo hinrannte. Vermutlich suchte er nach Hilfe, fand aber keine. Dann kam der Moment, in dem er sie auf den Boden legte und kniend nach ihrem Herzschlag fühlte. O bitte nicht. Ich ahnte Schlimmes. Zudem konnte man von ihr schon keine Bewegungen mehr erkennen.
“Ist ... sie gestorben?” Es war zu schrecklich. Wie Reznick es langsam zu begreifen schien, was er getan hatte. Er war völlig fertig. Lächelte geistesabwesend, während ihm die Tränen liefen. “Bitte ... macht das aus.” Es zerriss mir das Herz und gleich noch mal, als ich meinen Blick von der Rea-Technik nahm und Reznick direkt ansah. Sein Kopf war gesenkt. Wie benommen starrte er auf seine metallverformten Hände.
“Sie hat es überlebt.” Überrascht drehte ich mich zu seinem Vater. “Die Aufnahme ist noch nicht zu Ende.” Er deutete wieder auf die Bilder und tatsächlich – da war er! Er tauchte bei Reznick auf und fügte sich selbst eine Wunde am Handgelenk zu. Großflächig ließ er sein schwarzes Blut über den Körper der Frau fließen. Gott, noch nie war ich so froh, diese Fähigkeit zu sehen!
“Ihr habt sie geheilt.” Ich lächelte. Es war eine unglaubliche Erleichterung zu beobachten, wie er sie versorgte und danach in einen weißen Kasten bettete, der aus dem Boden fuhr. Reznick schien das jedoch nicht mitzubekommen. Seine Haltung blieb reglos. Ob nun auf den Bildern oder hier am Tisch. Stumm liefen seine Tränen.
“Reznick? Hast du gehört? Die Frau lebt.” Ich war mir nicht sicher, was sie für ihn bedeutete, aber dass er sie nicht getötet hatte, musste doch irgendeine positive Reaktion in ihm wecken, oder? “Reznick?” Bekam er überhaupt mit, was ich sagte? “Reznick? Bitte antworte ...” Er hob langsam den Kopf, aber leider beruhigte mich sein Anblick kein bisschen. Seine Augen waren trüb. Wirkten gebrochen. Willenlos. Es machte mir Angst und versetzte mein Innerstes in Aufruhr. Mehr noch, als das Metall an seinem Körper zerbrach und sich nun dafür die Haut überall dunkel einfärbte. Der intensive Grauton schien ihn regelrecht zu verschlingen. War es das? Schon wieder dieses Lösen? Reznick war in Gefahr! Er konnte daran sterben, wenn ich es richtig verstanden hatte, und das durfte nicht passieren!
Hurtig stand ich von meinem Stuhl auf und ging zu ihm. Vergessen waren sein Vater, dieser Raum und der Grund für unser Hiersein. Ich wollte unbedingt in seine Nähe, auch wenn meine Beine vor Nervosität bei jedem Schritt zu versagen drohten und ich fürchterlich wankte. Es zählte nur eins. Vorwärts. Da konnte mein Herz rasen, wie es wollte oder mein Atem schwer werden. Es spielte keine Rolle. Nicht wenn er mich derart verloren ansah. Ich musste zu ihm!
“Reznick? Kannst du ... mich hören?” Ich erreichte die Ecke des Tisches. Nur noch wenige Meter trennten uns. Sein Blick war ununterbrochen auf mich gerichtet und schien klarer zu werden. Kräftiges Braun verdrängte das dumpfe Grau, je näher ich kam. Ich wertete das als ein gutes Zeichen und lächelte, hielt dann aber erschrocken inne, als plötzlich sein Oberkörper in meine Richtung zuckte. Würde er mich jetzt angreifen? Unsicher ballte ich die Hand, in der sich der Schlüssel für meinen Halsreif befand.
“Du fürchtest dich vor mir.” Seine Stimme klang rau, irgendwie leicht hallend und sein Gesichtsausdruck schrie vor Schmerz. Er versuchte, aufzustehen – mir entgegenzukommen, aber es klappte nicht. Er konnte sich nicht vom Stuhl erheben obwohl seine Muskeln von der Kraftanstrengung bebten.
“Ja ...” Alles andere wäre eine Lüge. Die gezeigten Bilder von der blutenden Frau würde ich nie vergessen. “Aber ich möchte dennoch bei dir sein.” Angst umhüllte mein Denken, aber würde mich nicht vertreiben. Dafür war es längst zu spät. Mein Herz hatte sich entschieden. Ich verspürte Furcht, aber auch den unbändigen Wunsch, bei ihm zu sein. Ihn zu berühren. Was er ebenso zu wollen schien. Soweit es ihm möglich war, streckte er mir die Arme entgegen. Sein Körper lockte meinen und ob nun Fehler oder nicht, ich ließ es darauf ankommen. Ich gab dem unbändigen Verlangen nach und ergriff seine Hand.