-‡Johannas Sicht‡-
Da war ich. Da war Zerian. Wir waren eins. Gleich eines endlosen Traumes lagen wir in den Armen des jeweils anderen und liebten uns innig. Nichts anderes existierte mehr auf dieser Welt. Keine Gedanken. Keine anderen Gefühle. Es gab nur noch uns und diese endlose Zuneigung sowie der leidenschaftliche Sex. Ein wundervolles Gemisch aus schimmerndem Blau und glühendem Rot. Heißes Feuer und eisiges Wasser für immer vereint. Alles war perfekt zwischen uns und machte mich endlos glücklich.
Jedenfalls bis zu jenem Moment, wo eine Stimme in meinem Kopf erwachte und mir etwas zuflüsterte. Die unheimlich klingenden Worte konnte ich zwar nicht verstehen, erkannte jedoch deutlich eine Warnung darinnen. Etwas begehrte in mir auf, aber ich konnte den Grund dafür nicht finden. Schließlich war doch alles in Ordnung. Wir hatten einander und waren in Sicherheit. Zerian und ich und –
Ich stutzte. Mir fiel nicht ein, was es außer uns noch gab, war mir aber sicher, dass da etwas sein musste. Wir beide waren schließlich nicht allein auf dieser Welt. Ich erinnerte mich schemenhaft an andere Gesichter und auch an Orte, die weder aus Wasser noch aus Feuer bestanden. Demnach konnte dieses leuchtende Gemisch aus rot und blau, welches uns von allen Seiten umgab, nicht alles sein.
“W-warte ...”, keuchte ich gegen Zerians Lippen und drückte ihn ein Stückchen zurück. “Irgendetwas stimmt nicht.” Es musste ihm doch auch auffallen, oder? Nein. Offenbar nicht, denn er lächelte mich lediglich verträumt an und schenkte mir weitere Küsse sowie Streicheleinheiten, was sich einfach unglaublich gut anfühlte. Ich seufzte genießerisch und verlor mich sofort wieder in diese wundervolle Zweisamkeit. Genauso wie es sein sollte. Er verdrängte meine aufkommenden Sorgen und die Welt war perfekt. Nur er und ich. Mehr brauchte es nicht.
Dumm nur, dass sich dieses eigenartige Flüstern wenig dafür interessierte. Die Stimme wurde immer nachdrücklicher und je stärker ich sie zu ignorieren versuchte, desto komischer fühlte ich mich. Mir wurde heiß. Richtig unangenehm heiß, obwohl wir schon die ganze Zeit in einem großen Flammengebilde lagen und ich dabei nur prickelnde Kälte empfand. Diese Hitze beunruhigte mich und egal, wie sehr ich das hier auch mit Zerian genoss, ich konnte sie nicht länger ignorieren. Es wurde unerträglich.
“Es hört nicht auf ...” Ich schälte mich aus seiner Umarmung und sah ihn ernst an. “Mir ist plötzlich so verdammt warm ... wobei. Moment!” Ich blinzelte verwirrt und zog die Stirn kraus. “Jetzt wird es wieder besser ... Das ist ja merkwürdig. Ist das bei dir vielleicht auch so? Fühlst oder hörst du etwas Seltsames? In mir ist so ein komisches Flüstern, aber ich verstehe es nicht und dann ... Ich glaube, ich kenne das. Also die Stimme. Ich hab sie schon einmal gehört, weiß aber nicht mehr wo oder wann ... Das ist doch verrückt, nicht wahr?” In meinen Ohren klang es das jedenfalls, aber es ließ sich nun mal nicht leugnen. Je länger ich diese hallenden Worte hörte, desto vertrauter wurde mir das Ganze. Auch normalisierte sich sofort meine Körpertemperatur, als ich ihr nachgegeben und meine Bedenken ausgesprochen hatte. Das musste doch irgendetwas bedeuten!
“Zerian?” Ich umfasste sein Gesicht, da er weiterhin nur liebevoll lächelte und mich von neuem zu streicheln begann. “Hast du gehört, was ich sage? Verstehst du mich überhaupt?” Scheinbar nicht, denn er ging lediglich dazu über, mich küssen zu wollen, was ich vehement verweigerte.
“Warum antwortest du nicht?” Sein Gehabe schürte immer stärker meine Zweifel. “Bitte, sag doch etwas!” Doch da kam nichts. Er lächelte nur, obwohl mich langsam aber sicher Panik ergriff. Irgendetwas stimmte hier eindeutig nicht! Weder mit ihm, noch mit diesem Ort.
“Lass mich los!” Ich stieß ihn weg und verließ hurtig unser gemütliches Feuernest. Mittlerweile war ich mir sicher, dass dieser Mann nicht Zerian sein konnte. Er mochte zwar so aussehen und sich auch so kühl anfühlen, aber der echte würde mich niemals in dieser schrecklichen Ungewissheit lassen.
“Bleib ja auf Abstand!” Wut siegt in mir hoch, als dieser Kerl sich ebenfalls aufrichtete und zu mir schritt, aber entgegen meiner Befürchtung verhielt er sich nicht aggressiv. Er unternahm keinerlei Versuche, mich gewaltsam einzufangen, sondern blieb lediglich einen Meter vor mir stehen. Auch sein liebevoller Gesichtsausdruck behielt er bei, wie schon die ganze Zeit über. Seltsam.
“Was soll das?” Irrte ich mich vielleicht doch? War das Zerian, bloß – anders? Ich mein, je länger er mich nicht berührte, desto mehr Dinge fielen mir wieder ein. Mein früheres Sklavenleben mit all der Folter, Reznick und das Spiel oder Richard und Ludwigs Tod, die anschließende Flucht mit dem Schiff sowie Hekas Sternengeschichte – dass ich ein halber Stern sein sollte. Ich wusste das alles wieder. Auch dass ich und Zerian miteinander geschlafen hatten. Konnte es das womöglich sein?
“Kommt das von diesem Binden? Hat es nicht geklappt oder ... muss das so aussehen?” Ich blickte prüfend umher und betrachtete skeptisch die Kuppel aus leuchtenden rot-blauen Farben sowie den Boden, der gleichermaßen aus Feuer sowie Wasser bestand. Eindeutig nicht die richtige Welt, bloß wie kamen wie hier wieder raus?
“Kannst du nicht sprechen oder willst du nicht?” Meine Augen fixierten wieder Zerian, der immer noch bei mir stand und sehr glücklich wirkte. “Wenn du mich verstehst, gib mir bitte irgendein Zeichen.” Ich berührte ihn an den Schultern, was ihn ebenfalls dazu verleitete, seine Arme zu bewegen. Er wollte mich umarmen, aber schon bei dem ersten sanften Auftreffen seiner Finger auf einer Haut, breitete sich eine Gänsehaut aus und mit ihr auch dieses Gefühl von vollkommener Zufriedenheit.
“Nicht!” Sofort wand ich mich aus seinem Griff, denn er hatte tatsächlich wieder damit angefangen, meine Erinnerungen zu verschleiern. “Du darfst mich nicht anfassen!” Das war Übel. Richtig Übel. Wie oft hatte er das schon getan? Wie lange saßen wir hier schon fest? Stunden oder sogar Tage? Und, wie lange mussten wir noch ausharren? Würde uns Heka befreien oder mussten wir selbst einen Ausweg finden?
“Nur wie?” Frustriert fuhr ich mir durch die Haare und versuchte, mich an das Gespräch mit ihr genauer zu erinnern. Sie hatte uns schließlich andauernd gewarnt und mehrfach betont, dass es Risiken gab oder geben könnte. Leider fiel mir von ihren ganzen Erzählungen nichts ein, was dem hier auch nur ansatzweise ähnelte. Schöner Mist!
“Dir fällt auch nichts ein, oder?” Ich sah Zerian verzweifelt an, aber der steckte offensichtlich immer noch in seiner eigenen Traumwelt. Einer in der es ausgesprochen schön sein musste, denn er lächelte weiterhin und blieb in meiner Nähe. “Du bist nur ein stummes Abbild, nicht wahr?” Vielleicht von mir selbst irgendwie unterbewusst geschaffen, damit ich nicht alleine war. Ob er sich selbst auch so ein Abbild von mir gemacht hatte und damit in diesem Augenblick rumkuschelte?
Ich seufzte und rieb mir übers Gesicht. Der Gedanke daran war irgendwie schräg, aber sollte das tatsächlich der Fall sein, konnte ich von seiner Seite aus leider auf wenig Hilfe hoffen. Er wollte doch von Anfang an, dass ich zu ihm gehörte. Wenn es da jetzt auch noch eine Version von mir gab, die sich pausenlos küssen, streicheln und ficken ließ – das würde ihm bestimmt gefallen. Ich selbst wusste nicht, was ich davon halten sollte. Gut, ich war in dieser Hinsicht nicht besser, immerhin hatte ich auch mit diesem Ding hier rumgemacht und es hatte sich absolut nicht falsch angefühlt. Und ohne das Flüstern, von dem ich mittlerweile sicher wusste, dass es von Mylagie stammte, wäre mir das auch niemals aufgefallen.
“Kannst du mir bitte die Richtung weisen?” Ich hob eine Hand und ließ eine kleine Flamme darauf entstehen. Früher hatte seine Stimme mir regelmäßig Trost gespendet, wenn Richard mir Unaussprechliches angetan hatte. Immer und immer wieder. Zwar war es mir damals schon nicht möglich gewesen, seine Worte zu verstehen, aber ohne sein Flüstern hätte ich meinen Verstand wohl schon längst verloren.
Lange betrachtete ich das Feuer, ohne dass etwas passierte. Wirklich enttäuscht darüber war ich jedoch nicht. Mylagie hatte sich noch nie so direkt bei einer Frage gemeldet. Er handelte eher aus der Situation heraus, wie ein passiver Schutz und dafür war ich ihm unendlich dankbar. Warum er allerdings auf mich aufpasste, war mir nicht ganz klar. Die Rea hatten ihn getötet und mich irgendwie aus ihm gemacht – da musste er doch alles und jeden hassen, oder?
“Hm?” In Zerian kam auf einmal Bewegung. Er umkreiste mich und grinste zur Abwechslung mal nicht fröhlich vor sich hin, sondern starrte mit grimmiger Miene nach oben. “Was ist?” Ich tat es ihm gleich, konnte aber nichts Auffälliges entdecken – bis auf dieses sonderliche rot-blaue Farbenspiel eben.
“Oh ...” Doch da passierte etwas! Das Licht flackerte, wie eine Kerze im Wind und trübte plötzlich ein – verdunkelte sich. “Was ist das?” Es wurde zunehmend Grauer. Unheimlich. Düster. Gleich einer Gewitterfront krochen dunkle Wolken durch die Kuppel und vernebelten die Sicht. Zerian löste sich prompt in glühendes blaues Wasser und zerschmolz mit dem Boden. Er versuchte wohl, einen neuen hellen Bereich zu erschaffen, denn eine gewaltige Welle schoss um mich herum und hüllte mich ein – bildete einen neuen vermeintlichen Himmel über mir. Wirklich etwas bringen tat es jedoch nicht. Der Nebel glitt problemlos durch das Blau und breitete sich ungehindert weiter aus.
Dann wurde mir auf einmal heiß und auch das Flüstern kehrte zurück. Deutlicher hätte die Warnung von Mylagie nicht sein können. Egal, was dieses graue Ding also war, es gehörte hier nicht her und würde das auch gleich deutlich auf meine Weise zu spüren bekommen!
Feuer schoss aus jeder Faser meines Körpers. Stechendes Rot gefolgt von schillerndem Gelb türmten sich höher und höher. Ich war zwar nur ein halber Stern, aber diese Urgewalt zu fühlen – einfach atemberaubend. Ich wurde immer heißer und heißer, glühte lichterloh und als sich dann auch noch das Wasser an meinen Beinen hinaufschlängelte, explodierte meine Kraft förmlich. Kurzzeitig leuchtete ich an einigen Stellen violett auf, bis sich alle Farben in einem intensiven Blau verbanden und den ganzen Traum bis in den letzten Winkel ausbrannten.
Es war wundervoll. Ich war so unfassbar mächtig und – schwarz. Plötzlich kam alles zum Stehen. Ein stechender Schmerz erfasste mein Innerstes und das tosende Feuer versiegte. Mein Atem erstarb. Ich. Starb.
*
Das Flüstern von Mylagie war das erste, was ich wieder wahrnahm. Gefolgt von dem unbändigen Verlangen, die Augen aufzureißen und tief Luft zu holen, aber es klappte nicht. Jedenfalls nicht auf Anhieb. Ich brauchte einige Anläufe, bis ich endlich die Lider öffnen und auch Sauerstoff in meine Lungen ziehen konnte, was wirklich befreiend war.
“Wo ...?” Ich war verwirrt und orientierungslos. Es war unfassbar dunkel, nur aus einigen Spalten kam dumpfes gräuliches Licht und zeigte – ja, was eigentlich? Ich drehte den Kopf und sah schwarze Wände? War das hier der nächste Traum? Nur diesmal ein Alptraum? Was war bloß passiert? Wo war all das Licht, Feuer und Wasser hin?
Schwerfällig richtete ich den Oberkörper auf und sah mich weiter besorgt um. Was war das hier nur für ein unheimlicher Ort? Ich lag in einer harten Vertiefung im Boden. Eine Wand, nein, zwei Wände rechts und links von mir waren aufgebrochen oder verbogen. Vermutlich Metall. Zudem stank es entsetzlich nach Verbranntem. Sonst jedoch gab mir nichts einen Anhaltspunkt. Konnte das ein alter beschädigter Kerker sein? Vielleicht ein Folterzimmer? Und wieso konnte ich den Raum nicht erhellen?
Verwundert blickte ich auf meinen rechten Arm. Es ließ sich keine Flamme erzeugen, aber dafür prangte ein Reif an meinem Handgelenk. Vorsichtig befühlte ich es und schätzte das Material auf etwas Hochwertiges aus Kristall. Gleich einem Schmuckstück. Seltsam. War das für mein fehlendes Feuer verantwortlich? Da ich sonst nichts am Leibe trug, musste es wohl so sein, jedoch saß es derart eng, dass ich es nicht abnehmen konnte. Das Teil besaß weder ein Schloss, noch einen anderen Schließmechanismus. Verrückt! Wie hatte man es mir angelegt?
“Na komm schon!” Ich zerrte immer brutaler daran oder schlug damit auf den Boden – wollte es unbedingt abhaben und mein Feuer wieder nutzen. Ohne fühlte ich mich richtig hilflos und das war absolut nicht schön.
“S-onne ...” Erschrocken hielt ich inne. Ich kannte diese Stimme!
“Zerian?!” Hektisch stand ich auf und verengte die Augen. War er auch hier?
“Meine ... Sonne ...” Seine Stimme klang schwach und gequält, was mir einen unangenehmen Schauer verpasste.
“Ich bin hier!” Ich eilte wenige Schritte in die Richtung, aus der ich ihn hörte und fand ihn auch tatsächlich am Boden liegen. Seinen regungslosen Körper hatte ich bei diesen schlechten Lichtverhältnissen erst für ein herausgebrochenes Mauerstück gehalten.
“Bist du verletzt? Wo tut es weh?” Ich kniete mich an seine Seite und tastete ihn sofort gründlich ab.
“Über-all ...” Sein Atem ging schwer, was mich immer stärker beunruhigte.
“Kannst du es ein bisschen eingrenzen?” Ich fand leider keine Schnittwunde und fühlte auch sonst weder Schwellungen noch Brüche. “Oder dein Wasser rufen und dich damit heilen?” Vielleicht hing es mit den Kristallreifen zusammen, denn davon trug er gleich fünf Stück. Einen großen um den Hals und die anderen jeweils an den Armen und Beinen.
“Nein ... ich kann nicht. Es tut weh, aber ... dir? Geht es di–”
“Mir ist nichts passiert.” Ich streichelte liebevoll seine Wange. “Mach dir keine Sorgen. Erstmal kümmern wir uns um dich.” So viel musste gesagt werden. Ich fühlte mich tatsächlich den Umständen entsprechend gut. Da war ich schon in deutlich schlimmeren Zuständen wach geworden, aber er dagegen machte einen fürchterlichen Eindruck.
“Wir-klich? Er hat ... dich schlimm verletzt .... Ich habe es gespürt ...”
“Wer? Was ist überhaupt passiert und wo –” Ich hielt inne. Da waren Schritte zu hören! Schnell positionierte ich mich schützend vor Zerian, fühlte mich allerdings so ganz ohne eine Waffe oder die Möglichkeit, mein Feuer zu entfachen, unglaublich unwohl. Wenn wirklich jemand kam, der uns etwas Böses wollte, würde ich dem nichts entgegensetzen können.
Meine Befürchtungen bestätigten sich zum Glück jedoch nicht. Es kamen keine Wachen oder ähnlich furchteinflößende Männer, sondern lediglich zwei kleine Mädchen. Aber keine echten. Es waren eindeutig Servicemaschinen. Eine von Ihnen trug eine Art Lampe in den Händen, die großflächig ein warmes Licht abstrahlte, während die andere zwei Tabletts mit vermutlich Essen dabei hatte.
“Willkommen auf der Tyschenka, werte Gäste”, sprachen beide zugleich, als sie uns entdeckten und kamen direkt auf uns zu.
“Ich bringe euch Speis und Trank”, fuhr dann die mit den beladenen Tabletts fort. “Frische Kleidung wird euch natürlich auch bereitgestellt, dafür müsst ihr jedoch erst die Lichtschranke für eure Reinigung passieren.”
“Die Tyschenka?” Das sagte mir etwas! In meinem Kopf schwirrten allerhand Daten dazu herum. Ich kannte die Lage sämtlicher Gänge und Räume sowie mit welchen Waffen dieses Schlachtschiff ausgerüstet war oder mögliche Schwachstellen. Dann noch die Positionen der Kameras oder welche anderen Schiffe an Bord waren und sich für eine Flucht nutzen ließen. Verrückt. Warum hatte Heka mir diese Informationen eingepflanzt, wenn sie doch davon überzeugt gewesen war, dass wir dort sicher waren?
“Korrekt”, antworteten wieder beide synchron und sahen sich kurz daraufhin an, bevor nur die mit der Lampe in den Händen weitersprach. “Unser werter Herr, Re’Nya’Ca Fyl. Leopold Weckmelan, wünscht die Unterbringung und Verpflegung von euch. Ihr seid von nun an seine Gäste.” Auch das wusste ich natürlich. Die Tyschenka gehörte schließlich Reznicks Vater, dem König aller Rea. Aber das andere?
“Wenn wir Gäste sind, warum sind wir dann in einem solchen Raum untergebracht?” Es glich mit der Zerstörung und den Brandspuren eher einem Schlachtfeld. Nach Hekas ganzen Worten und Erklärungen hatte ich nicht den Eindruck, dass er uns in eine heruntergekommene Zelle schaffen würde. Sie hatte zwar um seine Person ziemlich rumgedruckst, ihn aber nicht als Tyrannen oder abscheulichen Rea beschrieben. Bisher fehlten mir auf jeden Fall die Zusammenhänge. “Außerdem ...” Mein Blick schweifte zu Zerian, der mittlerweile die Augen geschlossen hatte und ruhig atmete. Kurz wallte Panik in mir, doch als ich schnell eine Hand auf seine Brust legte, schlug darunter gleichmäßig sein Herz. Er schlief also nur. “Mit ihm stimmt etwas nicht! Was hat man mit ihm gemacht? Oder mir? Ich war bewusstlos und das ...” Ich deutete auf den Kristallreif an meinem Arm sowie auf Zerians Hals. “Was ist das? Warum tragen wie diese Dinger? Sind wir Gefangene?”
“Ihr befindet euch aktuell auf dem zerstörten Hapanthma des verstorbenen Ludwig Van Rotterval. Ihr wurdet von einem Kriegsschiff des Orchikors angegriffen und der werte Herr, Re’Nya’Ca Fyl. Leopold Weckmelan, ließ beide verbundenen Schiffe außer Gefecht setzen und in den Hangar der Tyschenka leiten. Dies ...” Sie nahm eine Hand von der Lampe und machte eine allumfassende Geste. “ist selbstverständlich nicht euer Quartier. Um in die für euch vorgesehenen Gästezimmer zu kommen, müsst ihr zuerst das Hapanthma verlassen.” Wow. Das sollte ich alles verpasst haben? Aber wieso? Konnte doch nicht sein, dass ich davon nichts mitbekommen hatte. War ich so sehr in dem Sex mit Zerian versunken gewesen? Oder hatte genau in diesem Moment in unserem Zimmer eine Explosion stattgefunden und mich betäubt? So bei näherem Betrachten war dies sogar am wahrscheinlichsten. Es sah hier ja tatsächlich so aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.
“Die Frage eures Zustandes kann ich dagegen nicht ausführlich beantworten. Es fehlen die entsprechenden Datensätze. Seid jedoch gewiss, dass der werte Herr, Re’Nya’Ca Fyl. Leopold Weckmelan, jeden einzelnen Überlebenden begutachtet hat. Etwaige Verletzungen wurden geheilt. Ein Fehler seinerseits ist ausgeschlossen und die Tyschenka überwacht beständig sämtliche Vitalwerte. Dem jungen Mann dort am Boden fehlt demzufolge nichts. Um jedoch Schiff- und Personenschäden durch eure elementarbasierten Fähigkeiten zu vermeiden, hat unser Herr euch das Bleasta umgemacht. Ich bitte diesen Umstand zu entschuldigen, aber es ist für alle neuen Elementare Pflicht.” Das verstand ich sogar irgendwie. Der König kannte uns nicht und wollte auf Nummer sichergehen. Wenn hier zuvor ein Kampf gewütet und Zerian mich beschützt hatte – da war er vermutlich wenig erfreut beim Anblick eines weiteren Rea gewesen. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er ohne mit der Wimper zu zucken auch diesen mächtigen Mann mit seinem Wasser attackiert hatte. Würde zumindest erklären, warum er gleich so viele Kristalle bekommen hatte, wohingegen ich nur eines trug.
Ich seufzte und streichelte sanft seinen Oberkörper. Er hatte bestimmt wie besessen gekämpft und sich damit zusätzlich verletzt. Jetzt bei dem Licht erkannte man gut eine Vielzahl von Verfärbungen. Seine Haut war stellenweise richtig dunkel und erinnerte von den Wundrändern her an Verbrennungen oder Stromschlägen. Auch an mir fand ich ähnliche Spuren am linken Arm, aber wie es die Bedienstete bereits sagte, hatte man die Wunden versorgt. Sogar außerordentlich gut, da es keine wirklichen Narben gab, sondern nur noch leichte Unebenheiten und eben die Farbflecke von den Blutergüssen, die sicherlich auch noch verschwinden würden.
“Kann ich eigentlich mit dem König Re’Nya’Ca Fyl. Leopold Weckmelan sprechen?” Ich wollte ihm danken und mir unbedingt selbst ein Bild von diesem Mann machen.
“Bedaure, dies ist vorerst nicht möglich. Unser Herr ist aktuell mit seiner Gemahlin in seinen privaten Gemächern und verbietet jedwede Störung unsererseits. Ich werde ihn, sobald dies wieder möglich ist, über Euren Wunsch nach einer persönlichen Unterredung in Kenntnis setzen.”
“Verstehe ...” Das erklärte natürlich, wo Heka steckte. “Was ist mit den anderen? Haben sie bereits das Hapanthma verlassen? Kann ich vielleicht mit ihnen reden?” Wie Reznick das ganze aufgenommen hatte, interessierte mich brennend und ob es tatsächlich allen gutging. “Ist es zudem möglich, mir beim Tragen von Zerian zu helfen? Ich möchte ihn gerne in das Gästezimmer bringen.“ In seinem Zustand war ein weiches Bett schließlich viel besser und auch ich wollte nicht länger hierbleiben. Zudem sah das Essen auf den Tabletts köstlich aus und überhaupt war es verlockend Kleidung und ein eigenes Zimmer zu bekommen. Vielleicht gab es dort auch wieder die Möglichkeit zu duschen.
“Aktuell hat noch kein Gast sein Zimmer bezogen. Es ergeben sich unplanmäßige Verzögerungen. Ihr könnt dementsprechend noch mit allen Gästen auf dem Hapanthma Kontakt aufnehmen.”
“Verzögerungen? Was soll das bedeuten?”
“Unerwartete Feindseligkeit und Misstrauen anderer Einheiten gegenüber, aber das braucht Euch nicht zu beunruhigen. Für den Transport des von Euch benannten Mannes Zerian wurde soeben eine Transportmöglichkeit geordert. Diese wird in wenigen Minuten hier eintreffen. Wenn Ihr wünscht, kann ich Euch zwischenzeitlich zum Ausgang begleiten und auf Euer eigenes Zimmer bringen.” Die Maugeri mit der Lampe in den Händen lächelte freundlich und deutete in die Richtung, aus der sie zuvor gekommen waren.
“Nein, danke. Ich will ihn nicht alleine lassen.” Obwohl es mir richtig unter den Fingernägeln brannte, zu den anderen zu laufen. Hauptsächlich zu Reznick, um eine Eskalation zu unterbinden. Das mit dem Misstrauen und der Feindseligkeit klang ja schon arg nach ihm, aber was dachte er sich bloß dabei? Zugegeben kapierte ich noch nicht, wie dieses komplizierte Familienverhältnis zwischen ihm, Heka und dem mächtigsten Mann der Welt entstehen konnte. Aber er musste doch selbst so viel Verstand haben, um zu wissen, dass seinen Vater absichtlich zu reizen, ihn nicht weiterbrachte. Auch sein Umgang mit Heka, die eindeutig seine Mutter war, fand ich mehr als nur fragwürdig. Vor allem weil es ihm nicht einmal auffiel, obwohl es doch offensichtlicher nicht hätte sein können. Natürlich konnte ich mich auch irren, aber was war denn so falsch daran, auf andere zu hören und sich zuerst einmal einen guten Überblick zu verschaffen? Reden fand ich da eindeutig besser, als von vornherein dicht zu machen, blindlings rumzukämpfen oder sich gar umzubringen.
Gedankenversunken bettete ich Zerians Kopf auf meinen Schoß, streichelte ihm anschließend durchs Haar und aß hin und wieder einen Happen von den Speisen, die mir die eine Maugeri auffordernd hinhielt. Ich hatte keine Angst, etwas davon zu essen, zumal das Zeug tatsächlich nicht nur lecker aussahen, sondern auch verdammt gut schmeckte. Warum sollte ich es auch verschmähen? Ich bin mein Leben lang gefoltert, misshandelt und auf allen nur erdenklichen Weisen trainiert worden, um meinen Willen zu brechen – was war dagegen schon ein vermeintlich vergiftetes Essen? Der König würde sich wohl kaum derartige Umstände machen. Wenn er uns töten oder quälen wollen würde, konnte er das jederzeit und auf allen nur erdenklichen Arten tun.
Mich beschäftigte vielmehr all das Gesagte von Heka und das Spiel, welches sie mit dem König sowie Reznick spielte. Welche Rolle hatten wir darinnen? Ob es da einen tieferen Sinn gab oder was davon tatsächlich stimmte oder was sie uns verschwiegen hatte. Dann natürlich das mit den Sternen. Der König kannte sich sehr gut damit aus, wenn er sogar einen Kristall besaß, der diese gewaltigen Kräfte unterdrücken konnte. Er musste auch einer sein, andernfalls hätte Heka sich nicht an ihn binden können oder lag ich damit vielleicht doch komplett falsch? Irgendwie war das alles ziemlich verzwickt.
Plötzlich erklang ein spitzer Schrei, der mich alarmiert aufhorchen ließ. Ich hielt den Atem an, blickte in Richtung Flur und lauschte konzentriert. Hatte ich mir das doch nur eingebildet? Nein. Es wiederholte sich. Da schrie tatsächlich eine Frau vor starken Schmerzen!
“Wer schreit da? Was ist passiert?!” Das beunruhigte mich und der Drang nachzusehen wallte enorm in mir, aber ebenso wollte ich auch Zerian unter keinen Umständen alleine lassen.
“Bedaure, darüber kann keine genaue Auskunft erteilt werden.”
“Was soll das denn bedeuten? Wird sie wenigstens versorgt?”
“Negativ. Art der Verletzung unbekannt. Vitalwerte widersprüchlich. Der werte Herr, Re’Nya’Ca Fyl. Leopold Weckmelan, wurde über den Vorfall informiert.” Ich runzelte die Stirn.
“Er wurde nur informiert? Sonst passiert nichts?”
“Korrekt. Es liegen keine Anweisungen vor, die einen solchen Fall beschreiben. Die Einheiten vor Ort warten auf Instruktionen.”
“Das kann doch nicht alles sein!” Bei dem Gedanken, dass da jemand vor Schmerzen windend am Boden lag und von allen nur angestarrt wurde, bereitete mir einen unangenehmen Schauer nach dem anderen. Vorsichtig hob ich Zerians Kopf von meinem Schoß, stand auf und sah die Maugeris wütend an. “Ihr müsst helfen!” Ich ballte die Fäuste, wollte selbst loslaufen, aber – nein. Von Zerians Seite zu weichen war unmöglich.
“Bedaure.” Beide Puppen schüttelten den Kopf, was mich frustriert schnauben ließ. Das war doch zum Verrücktwerden! Man musste doch etwas tun können!
“Johanna?!”, brüllte auf einmal jemand aus der Ferne und kam mit schnellen Schritten näher.
“Ich bin hier!”
“Wo?” Durch einige Risse in der Wand, wo sich dahinter der Flur befand, konnte ich grob den Schemen eines Mannes erkennen. Es war einer derer, die wir von Ludwigs Anwesen mitgenommen hatten.
“Ah, da seid Ihr!” Er passierte den Bereich der zerstörten Tür und kam hastig zu uns. “Da hinten gibt es einen Notfall! Dieser Mari geht es nicht gut!” Hektisch atmete er mehrfach ein und aus. “Sie ... Sie hat starke Schmerzen und ... Keine Ahnung was ihr fehlt! Könnt ... Ihr helfen? Oder ... der Mondgott?” Er blickte auf Zerian, was sein Gesicht gleich noch schockierter werden ließ. “Du lieber ... Ist er tot?”
“Nein, nur bewusstlos ...”, antwortete ich etwas überrumpelt. “Was ist denn überhaupt passiert? Wurde Mari verletzt?” Ich konnte einfache Wunden versorgen, aber eben nicht alles und Zerian war gerade nicht in der Lage, jemanden zu heilen.
“Was weiß ich denn!” Er raufte sich die graumelierten Haare. “Ich war bei Van Rotterval lediglich wegen eines Arbeitsauftrages und nun bin ich in dieser Hölle!” Völlig mit den Nerven am Ende gestikulierte er wild mit den Händen und schritt vor mir auf und ab. “Ich hatte zuvor nie mit sowas zu tun! Verdammt, ich bin ein einfacher Handwerker und kein Sklave!” Ich runzelte die Stirn. Das überraschte mich, aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen.
“Beruhige dich, deine Panik hilft niemandem!” Ich packte den Kragen seiner feinen Kleidung und zog sein Gesicht zu mir, damit er mit diesem herumgelaufe aufhörte. Er mochte größer und älter sein als ich, aber das hatte keinerlei Bedeutung. Ob nun Sklave oder nicht, ich konnte niemanden gebrauchen, der genauso wie Reznick am Rad drehte. “Was ist jetzt mit Mari?”
“Sie ...” Sein Blick rucke kurz zu meinen Brüsten, bevor er mir nervös in die Augen sah. “Ich weiß es ehrlich nicht! Erst meinte die Frau nur, dass sie sich komisch fühlt ... und danach hatte sie nur leichte Bauchschmerzen, aber dann wurde es immer schlimmer! Die kurzhaarige Blonde hat sich um sie gekümmert und nach ein paar Minuten was von einem Schlüssel oder was zum Schneiden gefaselt. Hat wohl was mit dieser komischen Kleidung zu tun. Sie wollte die Schreiende ausziehen, hat es aber nicht geschafft und dann sollte ich nach Euch suchen.” Ich ließ ihn los und hob eine Augenbraue.
“Mit der Kleidung?” Das ergab doch keinen Sinn. “Und die Servicemaschinen konnten dabei nicht helfen?” Irgendwie verstand ich den Notfall darin nicht. Dass Marianne ein spezielles Korsett trug, hatte ich zwar mitbekommen, aber warum sollte das Schmerzen verursachen?
“DIE tun gar nichts!” Er spuckte vor einer der Maugeris auf den Boden. “Die Dinger stehen drüben auch nur untätig rum!”
“Stimmt das?” Ich betrachtete das Mädchen mit der Lampe. “Wenn das der Grund für ihre Schmerzen ist und nur ein Schlüssel oder so benötigt wird, könnt ihr das dann nicht mit einer Rea-Technik oder sonst eben anderweitig öffnen?” Immerhin hatte so eine Maschine ziemliche Kraft unabhängig von der äußeren Erscheinung.
“Verzeiht, aber dies ist nicht möglich. Wir haben noch keine neuen Anweisungen erhalten.” Die Puppe setzte ein entschuldigendes Lächeln auf. “Der Vorfall wurde als Ganzes gemeldet. Die Situation zu verändern und somit den Bericht zu verfälschen ist uns nicht gestattet. Noch liegen keine Befehle des Herrn, Re’Nya’Ca Fyl. Leopold Weckmelan, vor. Wir warten. Ich bitte diesen Umstand zu entschuldigen und bedanke mich für das Verständnis.”
“Pff! Verständnis, dass ich nicht lache!” Der Handwerker raufte sich erneut die Haare. “Ich sagte es ja. Völlig nutzlos, diese Dinger!” Da hatte er recht und wie lange es noch dauerte, bis der König reagierte, war ungewiss. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er mit Heka eine ganze Weile beschäftigt sein wird.
“Was ist eigentlich, wenn Mari währenddessen stirbt?” Was ich zwar nicht glaubte, aber die Schreie wurden immer lauter und lauter. “Irgendetwas muss man doch gegen ihre Schmerzen machen können!” Ich ballte die Fäuste. Es wurde von Sekunde zu Sekunde schwerer, nicht sofort loszulaufen und nach ihr zu sehen.
“Bedaure. Auf diese Frage kann keine Antwort gegeben werden.”
“Jetzt hört doch auf, Euch weiter damit zu unterhalten, und kommt endlich mit!” Der Mann umfasste meinen linken Oberarm, ließ aber sofort wieder los, als ich ihn böse anblickte. “Entschuldigt, aber Ihr seid doch hier die nächste Adlige, oder nicht?”
“Ich wi–” Die nächsten Worte blieben mir buchstäblich im Halse stecken, als plötzlich ein Zischen hinter uns ertönte und es taghell wurde. “Was zum ...?!” Ich versuchte, mich mit den Händen vor dem Licht zu schützen, und brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass da nun ein übergroßes viereckiges Loch im Schiff prangte. Also eines, das diesmal bis nach draußen reichte.
“Hilfe, was ist das?! Was passiert hier?” Der Handwerker suchte hinter mir Schutz, was wirklich erbärmlich war.
“Für euch wurde ein zweiter Ausgang geschaffen.” Beide Maugeris gingen zu der gleißenden Öffnung und stellten sich jeweils rechts und links davon hin. “Ihr könnt das Hapanthma nun durch diesen verlassen, um zu euren Gästezimmern zu ge–”
“O Gott, ja! Mir egal was die alle sagen, aber ich will nur noch hier raus! Ich halt das nicht länger aus!” Der Handwerker, von dem ich immer noch nicht wusste, wie er hieß, rannte an mir vorbei und direkt ins Licht.
“Hey, warte!” Mein Rufen ignorierte er und verschwand im Nu hinter der leuchtenden blassgelben Wand.
“Was lässt Euch zögern?” Beide Puppen deuteten nach draußen. “Die Transportmöglichkeit für den Mann namens Zerian ist auch eingetroffen. Ihr könnt nun ebenso gehen.” Kaum ausgesprochen schwebte in der Tat eine Liege oder eine Art längliche Platte herein, dicht dahinter ging ein Mann, von dem ich erst dachte, dass es der König höchstpersönlich sei. Aber ich irrte. Er trug eine ähnliche Dienstkleidung, wie die beiden Mädchen. Vermutlich war das eine CeKyde. Ich wusste es natürlich nicht mit Sicherheit, aber so perfekt wie dieser Kerl aussah, lag die Vermutung nahe, dass er kein Mensch war.
“Was ist mit Mari? Wird sie denn nun auch versorgt?” Die Schreie waren immerhin verklungen, was mich hoffen ließ, dass es ihr besser ging. Es musste einfach so sein. Heka würde sicherlich nicht zulassen, dass einem von uns ernsthaft etwas passierte.
“Bedaure. Auf diese Frage kann keine Antwort gegeben werden.” Ich runzelte die Stirn und betrachtete erst sie skeptisch und dann die männliche Puppe, die sich samt der hellen Platte neben Zerian positionierte.
“Warum ... He, du!” Ich ergriff den muskulösen Arm des Mannes und zog ihn zurück. “Fass ihn nicht an!” Mir war schon klar, dass er nur helfen wollte, aber was auch immer mich gerade nicht von Zerians Seite weichen ließ, es bezog sich ebenso auf das Anfassen. Ich ertrug es nicht, dass diese Maschine ihn hatte berühren wollen.
“Entschuldigt mein vorschnelles Handeln”, erhob die CeKyde auf einmal das Wort und sah erst auf meine Hand, bevor er mir in die Augen sah. “Es lag nicht in meiner Absicht, Euch zu verärgern. Ich bin als Euer persönlicher Diener eingeteilt. Ich wollte Zerian lediglich auf das Telvit legen. Wenn Ihr gestattet, würde ich damit gerne fortfahren.” Ich zögerte eine Weile, bis ich ihn schließlich losließ. Es war so am besten. Irgendwo in meinem Kopf wusste ich das. Alleine konnte ich das immerhin nur äußerst umständlich bewerkstelligen und die Puppe ging wirklich vorsichtig mit ihm um. Behutsam hob er Zerian hoch und legte ihn ebenso sanft auf diese komische Trage, die davon unbeeindruckt weiterhin lautlos einen Meter in der Luft schwebte. Gedankenversunken legte ich eine Hand auf seinen Brustkorb und atmete einmal tief durch. Es tat gut, seinen gleichmäßigen Herzschlag zu spüren. Es beruhigte meine angespannten Nerven ungemein. Jedenfalls solange, bis sich das Teil mit ihm in Bewegung setzte.
“Halt, warte!” Meine Finger krallten sich in die weiße Liege, um sie zu stoppen, was auch erstaunlich leicht funktionierte. “Ich will kurz nach Mari sehen, bevor wir gehen.” Andernfalls würde ich keine Ruhe finden. Innerlich zerriss es mich ohnehin schon die ganze Zeit und jetzt mit diesem praktischen fliegenden Ding, konnte ich Zerian ja problemlos mitnehmen.
“Davon rate ich ab”, erwiderte die CeKyde und zeigte zum Ausgang. “Bitte folgt mir jetzt nach draußen.” Ich hob eine Augenbraue.
“Warum?” Gleich nachdem diese Frage meinen Mund verlassen hatte, schüttelte ich allerdings den Kopf. “Wobei, nein. Ich brauch darauf keine Antwort.” Es war doch völlig egal, was er dazu sagte, denn ich würde mich nicht davon abhalten lassen. Ich hatte schon viel zu viel Zeit verschwendet, darum ging ich auch schnellen Schrittes los und zog Zerian hinter mir her.
“Bitte, so halten ein. Das ist die falsche Richtung.” Natürlich folgte mir die Maschine, wagte es aber nicht, mich körperlich aufzuhalten. Er blieb auf gebührendem Abstand. “Die Einheiten in den anderen Zimmern wurde die Abschaltung befohlen. Solange noch keine Rückmeldung von unserem Herrn vorliegt, sollen wir uns von diesem Bereich fernhalten. Es könnte Eurem Wohlergehen schaden, da ich aktuell nicht weiß, was dort vor sich geht. Zudem ist dieser Ort hier vollkommen heruntergekommen. Kein gutes Umfeld für Euch. In Eurem persönlichen Zimmer ist es da deutlich besser und es fehlt an nichts. Wie wäre es zum Beispiel mit einem warmen Bad? Würde Euch das erfreuen? Ich werde Euch gerne eins vorbereiten. Außerdem gibt es bequeme Kleidung und reichlich Essen und Trinken. Alles, was Ihr wollt.” Ich ignorierte sein Gerede und ging immer schneller, als mir die massive Zerstörung im Flur auffiel. Im Schiff war tatsächlich noch viel mehr zerstört, als ich zuerst angenommen hatte. Richtig schockierend. Wie hatte ich von diesem heftigen Kampf nichts mitbekommen können?
“... Dreckskasten!”, hörte ich wenige Meter weiter eindeutig Reznick brüllen und erblickte auch schon zwei mir bekannte Männer, die vor einem großen Riss einer schiefen Wand standen. Sie starrten beide in den Spalt, woraus weiter Geschrei kam. “Steh sofort wieder auf! Na los!”
“Was ist passiert?”, fragte ich sofort alarmiert, da Reznick schrecklich wütend klang und das war gefährlich. Vor allem sein Lachen danach hatte was von Wahnsinn. Viel Wahnsinn.
“Wh-as wo-hl ...” Gaudin drehte sich zu mir und hielt sich die blutige Nase, die eindeutig Reznicks Handschrift trug.
“Ich weiß nicht, was er hat ... Erst wollte er Mari helfen, aber jetzt ist er verrückt geworden”, fuhr Carsten fort und schlang die Arme dabei um sich selbst. Es war offensichtlich, dass er sich fürchtete. Verständlich, als ich selbst einen Blick in das verwüstete Zimmer warf. Reznick stand halbnackt, blutverschmiert und lachend vor einigen am Boden liegenden Puppen, redete dann mal mit sich selbst, während sein einer Arm die Form eines langen silbernen Schwertes hatte.
“Verdammt, Reznick, reiß dich zusammen!”, rief ich und wollte einem Impuls folgend zu ihm, wurde aber von Gaudin grob am Oberarm gepackt und aufgehalten.
“Sp-innst dhu? Bl-eib zuhrück!”
“Er hat recht, Johanna.” Auch Carsten berührte mich, jedoch deutlich sanfter. “Er wird dich töten. Wir sind auch nur noch hier, um die anderen mitzunehmen. Aber ... sie trauen sich nicht an ihm vorbei.”
“Die anderen?” Ich sah erneut in den Raum und in der Tat – etwas weiter hinten saßen Marianne und Emeli Arm in Arm sowie Fridolin, der schon gebückt auf dem Weg zu uns war, sich nun aber keinen Millimeter mehr rührte, weil Reznick sich umgedreht hatte. “Und er ist doch kein blutrünstiges Tier ...” Wobei. So mordlüstern, wie er gerade schaute, und bedrohlich die Klinge schwenkte, da hatte er nichts mehr von einem vernünftig denkenden Menschen.
“Reznick, hör auf, sie zu bedrohen!”, rief ich, als dieser sich im nächsten Moment verrückt lachend zu den beiden Frauen bewegte. Das würde eskalieren, wenn wir noch weiter hier sinnlos zuschauten. “Gott, Gaudin! Lass mich los!”
“A-ber dehr is’ ver-rückt und ... wihrd dich u-mbringen!” Trotz Protest drängte ich mich in das Zimmer und hatte sogleich Reznicks volle Aufmerksamkeit. Gut. Besser ich als jemand anderes.
“Wird er nicht! Am besten, wir beruhigen uns alle erstmal, ja? Bitte ...” Ich ging langsam zu ihm.
“Beruhigen?” Er lachte abfällig. “Du hast ja keine Ahnung ... Ich bin noch sehr ruhig, dafür, dass ihr mich alle in den Wahnsinn treibt.”
“Kannst du deine Waffe bitte noch verschwinden lassen? Dann reden wir, in Ordnung?” Diese Fähigkeit fand selbst ich tausendmal gruseliger als mein Feuer oder Zerians Wasser. Selbst Hekas Erzählungen von Wind oder ihre Blitze hatten da im Vergleich noch was Natürliches an sich.
“Du kannst mich nicht täuschen! Nicht schon wieder!” Er deutete mir der Spitze der Waffe auf mich, woraufhin ich anhielt. “Du bist doch von Anfang an in diesen Plan eingeweiht gewesen, der wie-auch-immer aussehen mag. Ich bin eine Lüge und das mit der Wahrheit sehen ist doch nur ein Trick, um mich in Sicherheit zu wiegen. Ja, genau! Ich weiß das! Wie sollte es sonst auch möglich sein, die Echtheit von Worten zu erkennen? So ein Blödsinn!” Ich verstand leider überhaupt nicht, was er meinte.
“Du redest wirr ...” Ich lächelte ihn ruhig und freundlich an. “Erzähl mir doch einfach, was passiert ist, ja? Dann kann ich vielleicht helfen ...” Mir fehlten immerhin auch noch einige Zusammenhänge und ob das alles stimmte, was mir die Puppen erzählt hatten, stand auch auf einem ganz anderen Blatt. “Alle anderen mögen bitte den Raum verlassen.” Mein Blick ging kurz zur Seite, wo sich Emeli und Marianne befanden, bevor ich mich wieder an Reznick wandte. “Dann können wir uns –” Es ging schnell. Viel zu schnell, als das ich hätte reagieren können. Reznick rammte mir das Schwert der länge nach in den Bauch, was kurzzeitig all mein Denken aussetzen ließ. Ich fühlte nichts. Die Zeit stand still. Emotionslos starrte ich auf seinen klingenförmigen Arm, der in meinem Körper steckte. Dann war da plötzlich ein unmenschlicher Schrei, der nicht von mir stammte, aber mich irgendwie doch brutal wachrüttelte und somit auch den Schmerz brachte. Schmerz und die Frage, warum er das getan hatte. Wie er das hatte tun können. Heka hatte mich schließlich gebeten, auf ihn aufzupassen und obwohl Zerian vehement dagegen gewesen war, hatte ich dem zugestimmt. Einfach, weil er der Erste überhaupt gewesen war, der mich hatte retten wollen. Weil ich all das Leid in seinen Augen gesehen hatte und seinen verzweifelten Hilferuf. Weil ich ihn mochte ...