╫Hendricks Sicht╫
Mit einem kaum hörbaren Zischen öffnete sich die Verschlusskappe meiner Stasekapsel. Exakt zwei Stunden hatte ich mich darin regeneriert. In dem zähflüssigen blauen Gel traumlos geschlafen. Mich von allem befreit, was mich belastet hatte. Vergessen. Wie immer. Mein Herz schlug entspannt. Mein Atem ging gleichmäßig. Ich fühlte mich gut. Ausgeruht und auf eine Weise erfrischt, wie es nur diese Apparatur vermochte.
Ich setzte mich langsam auf, wischte mir den Schleim grob aus dem Gesicht und blickte anschließend eine ganze Weile auf meinen Körper. Betrachtete meine Hände. Die Finger waren noch etwas taub. Ich musste mich konzentrieren, bis ich volle Kontrolle über ihre Bewegungen hatte. Bei meinen Beinen würde es wohl ebenso sein.
“Darf ich nachfragen, werter Re’Nya’Ca Hendrickson Weckmelan, ob etwas nicht stimmt? Fühlt Ihr Euch nicht gut?” Mein Blick schweifte nach links. Gleich vier Maugeris, je zwei weibliche und zwei männliche, standen dort in knappen Uniformen kerzengerade und warteten, dass ich mich endlich aus der Kapsel erhob. Aber. Ich wollte nicht. Nicht länger ein Teil dieses ewigen Kreislaufes sein.
Eine ganze Weile saß ich da, ohne mich zu rühren. Wie oft hatte ich das schon gemacht? Wie oft einfach stundenlang hier gesessen, bis mein Vater mich rief? Richtig. Bei jedem Erwachen und solange mein Herz schlug, würde es auch immer so weiter gehen. Ich seufzte frustriert. Ich hatte ja doch keine Wahl. Nie hatte ich die.
“Darf ich nachfragen, werter Re’Nya’Ca Hendrickson Weckmelan, ob etwas nicht stimmt? Fühlt Ihr Euch nicht gut?” “Ja, ja. Es ist alles in Ordnung”, antwortete ich resigniert und griff etwas steif die Umrandung der Stasekapsel, hievte meine Beine darüber. Sofort setzten sich die beiden männlichen Puppen in Bewegung und halfen mir. Sie stellten mich aufrecht hin und blieben auch stützend an meiner Seite. Was bitternötig war. Ich wankte bedrohlich. Wie vermutet waren meine Füße noch nicht ganz wach.
“Wir beginnen gleich mit Eurer Waschung, werter Re’Nya’Ca Hendrickson Weckmelan”, sprach eine der Frauen und sofort wurde ich ein Stück weit nach vorne geschoben – genau in die Mitte des kleinen gekachelten Zimmers, das man auch gut als Gefängniszelle erachten konnte. Es gab hier nichts außer die Kapsel, ein paar altertümliche Waschutensilien, kahle weiße Wände und eine kaltweiße Lichtleiste an der Decke.
“Was auch sonst ...”, brummte ich, da mir diese Prozedur noch nie besonders zugesagt hatte. Es gab schließlich Adelstechnik dafür. Selbst eine normale Dusche oder eine primitive Badewanne hätte mir vollkommen gereicht. Aber nein. Vater hatte das schon immer anders gesehen. Er wollte, dass ich ständig angefasst wurde. Warum hatte ich allerdings nie verstanden. Meine Nachfragen zu diesem Thema blieben stets unbeantwortet. Ich sollte lediglich gehorchen und nichts anderes. Alles musste so sein, wie er es wollte. Immer.
Mit den Jahren lernte ich, mich dem zu fügen und die Wünsche meines Vaters zu akzeptieren. Irgendwie. Ich wehrte mich schon längst nicht mehr gegen Regeln oder Anweisungen. Ließ alles mit mir machen, war aber auch nie glücklich darüber. Trotz meiner antrainierten Gleichgültigkeit machten mich Berührungen immer noch nervös. Brachten mein Herz zum schneller Schlagen. Regten das Windelement in mir an. So auch jetzt.
Verkrampft biss ich die Zähne zusammen, als die Maugeris penibel den routinierten Ablauf folgten. Sie strichen erst das restliche Gel mit bloßen Händen von meinem Körper, bevor dasselbe mit Hilfe von Schwämmen passierte.
“Schließt bitte die Augen, werter Re’Nya’Ca Hendrickson Weckmelan.” Ich tat es. Die Berührungen spürte ich dadurch noch intensiver. Überall. Immer und immer wieder. Fürchterlich.
Nach einer Weile wurde eine Fuhre Wasser über meinen Kopf geschüttet. Erneut folgten streichelnde Hände. Finger die mein kurzes Haar durchglitten, an meinem Rücken auf und abwanderten oder die Haut meines Schwanzes zurückzogen, um ihn gründlich zu reinigen. Ich hasste es. Das alles.
“Wir sind fertig, werter Re’Nya’Ca Hendrickson Weckmelan.” “Mhm. Toll.” Ich öffnete die Augen und befreite mich aus ihrer Nähe. Schritt mit einem langen Seufzer in die nächste Kammer. Dem Ankleideraum.
Anstelle der üblichen lieblos verarbeiteten Maugeris warfen sich mir diesmal unbezahlbare CeKydes mit perfekt designten Körpern entgegen. Nackt. Zwei schlanke Frauen mit großen Brüsten und zwei muskulöse Männer mit makellos definierten Bauchmuskeln sowie aufragenden Schwänzen schlossen mich in ihre Arme. Trockneten mich mit kleinen weichen Handtüchern ab.
“Verspürt Ihr Lust auf mich, liebster Hendrickson?”, fragte eine schwarzhaarige Schönheit und tupfte dabei auffällig lange mit dem Stoff zwischen meinen Beinen herum.
“Nein.”
“Dann vielleicht auf mich, liebster Hendrickson?” Einer der Männer drängte sich dichter an meinen Rücken. Ich spürte deutlich sein Geschlecht an meinem Hintern reiben und wie seine Lippen einen Kuss auf meinen Nacken hauchten.
“Nein. Die Antwort lautet immer nein! Darf ich mich jetzt ankleiden oder will Vater für einen Test, dass ich nackt bleibe?” “Ihr dürft Euch bekleiden”, sprachen sie alle vier wie aus einem Munde und entfernten sich von mir – eilten zu einigen Schränken und Schubfächern an den Seiten.
“Was möchtet Ihr anziehen?”
“Vielleicht dieses edle Stück?”
“Oder dieses hier?”
“Wie wäre es mit dem hier?”
Jeder von ihnen hielt eine andere Kleidungsart in meine Richtung. Angefangen von einem einfachen Hausmantel und Unterwäsche, bis hin zu einem aufwendigen dreiteiligen Anzug. Ich zeigte gleichgültig auf die weiße Unterhose und den roten Mantel. Mehr würde ich vorerst sowieso nicht brauchen. Nicht, wenn Vater keine Aufgabe für mich hatte und ich gezwungen war, in meinem Zimmer zu bleiben. In meinem Gefängnis.
“Bitte hebt das Bein.”
“Und bitte die Arme hier hinein.”
Nicht einmal anziehen durfte ich mich alleine. Die beiden Frauen führten meine Beine in die Unterwäsche, während die Männer dasselbe mit meinen Armen bei dem Hausmantel machten. Selbstverständlich ließen es sich alle nicht nehmen, mich dabei unnötig umfangreich zu berühren – meinen Herzschlag damit immer weiter in die Höhe zu treiben.
“Wie gefällt es Euch, liebster Hendrickson?” Nach getaner Arbeit stellten die beiden Männer einen großen Spiegel vor mich. Die Frauen gingen dazu über, jede noch so kleine Stofffalte an mir glattzustreichen, um alles zu perfektionieren. Ihre Hände wanderten dabei auffällig oft über meinen Schwanz sowie den Bauch- und Brustmuskeln.
Ich seufzte resigniert und starrte meinem Spiegelbild freudlos entgegen. Lange. Wie hasste ich doch diese Person, die sich dort auf der reflektierenden Oberfläche zeigte. Das fahle Licht hier ließ mich jedes Mal genau wie meinen Vater aussehen. Wenn meine kurzen Haare im Moment nicht in alle Richtungen abstehen würden, wäre diese Illusion sogar vollkommen. Mehr war ich ohnehin nicht. Mein Verhalten, meine Ansichten – mein ganzes Leben bestimmte er. Nichts durfte ich je selbst entscheiden.
“Wollt Ihr etwas ändern, geehrter Hendrickson?”, fragte nach einer Weile eine verführerische Männerstimme, was mich aus meinen trüben Gedanken riss. “Hm? Nein, nein. Es spielt sowieso keine Rolle.” Ich seufzte und schritt zur Tür, die zu meinem eigentlichen Zimmer führte. Eine der Frauen eilte an mir vorbei und öffnete diese für mich. Sofort schlug mir eine angenehme Wärme entgegen, die nach exotischen Blüten roch. Ich mochte diesen Duft – den Anblick in die Räumlichkeit dagegen weniger. Eine Schar von nackten CeKydes, die wieder sowohl weiblich als auch männlich waren, räkeln sich lustvoll auf jedem einzelnen Möbelstück oder davor auf dem Boden.
Als ich eintrat, lagen alle Augenpaare auf mir. Bemüht gleichgültig steuerte ich eines der Sofas an, wo mir sofort zwei braunhaarige Frauen lächelnd Platz machten. Die übrigen CeKydes setzten sich natürlich auch in Bewegung und kamen zu mir. Wie immer.
Keinen Moment später wurde jeder Zentimeter meines Körpers angefasst. Ich wurde massiert und gestreichelt. Vielerlei Hände wanderten sogar unter den Stoff meiner Kleidung. Der Mantel wurde dabei fast vollständig beiseitegezogen. Lippen, Zungen und Zähne liebkosten mich. Es war zu viel und doch konnte ich nichts dagegen tun. Ich war hier drinnen gefangen. Musste es über mich ergehen lassen bis mein Vater mich daraus befreite. Hoffentlich bald. Das schneidende Gefühl des Windes in meinen Adern war kaum auszuhalten.
“Habt Ihr Hunger? Hier, für Euch.” Eine Traube wurde mir gegen die Lippen gedrückt. Mein lustloser Blick ging zu der Frau, die mich füttern wollte. Ihr liebliches Lächeln wurde noch eine Spur breiter. Wir wussten beide, dass ich kein Mitspracherecht dabei hatte und ihre Frage allein der Höflichkeit diente. Mein Vater sah einen konsequenten Ernährungsplan für mich vor und das hatten diese Puppen auch alle einprogrammiert bekommen. Sich dagegen zu stellen hieß automatisch, nicht gehorsam zu sein und ihn unzufrieden zu machen. Das durfte ich nicht – wollte ich nicht. Ich war sein perfekter Sohn. Immer.
Aber es war ohnehin unbedeutend, ob ich aktiv mitmachte oder lediglich teilnahmslos rum saß. Von hinten drückten bereits zwei kräftige Hände meinen Kiefer auf und das Fruchtstück landete in meinem Mund. Ich war froh, dass es mir wenigstens vergönnt war, selbst kauen zu dürfen.
“Hier, nehmt auch etwas von Eurem Lieblingsgetränk.” Ich erschauderte innerlich, als ich das Wort Getränk hörte. Blickte unwohl auf einen Mann, der sich sofort breitbeinig auf meinen Schoß setzte und mit seinen weichen Händen mein Gesicht umfasste. Er küsste mich. Seine Zunge bahnte sich schnell einen Weg tiefer hinein und mit ihr auch ein großer Schluck süßer Wein, der umgehend meine Kehle hinunter lief. Ich versteifte. Das war jedes Mal äußerst unangenehm, auf diese Art trinken zu müssen. Dass er sich danach erhob und eine Frau seinen Platz einnahm, um dieses Spiel zu wiederholen, machte es keinen Deut besser.
“Entspannt Euch”, säuselte es von beiden Seiten zugleich an meine Ohren. Die Massage an meinem Nacken wurde stärker, ebenso wie die an den Waden und den Oberschenkeln. Die Finger an meinem Schwanz und den Eiern hingegen blieben zärtlich. Was aber nichts daran änderte, dass ich es hasste. Dabei würde ich niemals entspannen. Mittlerweile raste mein Herz und deutlich wand sich Elektrizität in meinen Adern. So sehr ich das Element in mir – den Sturm auch hasste, so sehr wünschte ich manchmal, mich gänzlich darin lösen zu können. Ganz das Chaos zu sein, welches von niemandem kontrolliert werden konnte.
*
Ich weiß nicht wie lange ich da saß und mich in einem Strudel aus Gleichgültigkeit verlor, um diese unzähligen Berührungen nicht mehr spüren zu müssen, aber irgendwann hörte ich ein leises Klopfen. Gleichmäßig hallte es in meinem Schädel zwischen leichtem Gestöhne und dem Rascheln von Haut auf Stoff, aber vermutlich bildete ich mir das auch nur ein. Wer verlangte hier schon auf diese Art Einlass in mein Zimmer? Alle Puppen dieses Schiffen kamen immer einfach hereinspaziert und wenn mein Vater etwas wollte, ließ er mich schlicht über die Lautsprecher rufen.
“Hendrick, bist du da?”, fragte eine leise Stimme, die mir seltsam bekannt vorkam, aber definitiv zu keiner der CeKydes gehörte. Da diese auch alle in der Bewegung innehielten und zur Tür blickten, erregte das noch mehr meiner abgestumpften Aufmerksamkeit.
“Ich bin’s Dezeria, bitte mach auf.” Ich versteifte. Hatte ich mich verhört? Dezeria war hier? Moment. Dann hatte sich mein kaputter Verstand das mit dem Plexwürfel nicht bloß eingebildet? Scheiße! Verstört drängte ich die CeKydes beiseite und sprang auf – hastete zur Tür.
“Jetzt ernsthaft? Wieso stört es Euch, wenn ich meinen Namen nenne, aber dann wieder nicht, wenn ich mit Eurem Sohn sprechen will?” Mein Arm verkrampfte sich vor dem Bedienfeld der Türsteuerung. Was sagte sie da? Mit wem unterhielt sie sich? O nein. Mit meinem Vater?
“Hendrick? Bitte mach die Tür auf, wenn du da bist ... Bitte.”
Mit einem Wink über die Sensorik entriegelte ich die Tür und stand tatsächlich Dezeria gegenüber. Ein paar Meter hinter ihr lehnte mein Vater lässig an der Wand und winkte mir spielerisch zu. Was sollte das? Warum waren die beiden hier? War das ein Test?
Ich fuhr mir einmal seufzend durch die Haare und verwarf alle Fragen nach dem Wieso und Warum – konzentrierte mich lieber auf das Wesentliche. Dezeria. Überfordert starrte ich sie an und registrierte dabei die vielen kleinen Details ihrer Erscheinung. Sie war immer noch nackt. Verschwitzt. Ihre langen Haare völlig zerzaust. Die Arme hielt sie schützend vor ihren Brüsten und klammerte sich bebend an eine kleine Skulptur, die ich mal hergestellt hatte. Die Spitze war verbogen – beschädigt. Sie hatte diese sicherlich zu ihrer Verteidigung genutzt. Das konnte ich ihr einmal nicht verübeln.
Widerwillig blickte ich auf die vielen Flecke, die hier und da ihre weiße Haut zierten. Ein sonderlich aussehender Roter, befand sich mitten auf ihrem Brustkorb. Ähnelte einem ausgefransten Spinnennetz. Auch die Handgelenke fielen mir besonders negativ auf. Die ersten Anzeichen von Blutergüssen bildeten sich, als wäre sie vor kurzem grob festgehalten worden.
“Darf ich reinkommen?” Meine Augen fanden ihre. Das leuchtende Weiß darin wirkte gräulich und blass. Ihr Gesicht war flehend. Hilflos. Ängstlich.
“Ich will allein mit dir reden ... Dein Vater sagte, er wird draußen bleiben.” Ich verstand sofort. Sie wollte von ihm weg, das konnte ich nur allzu gut verstehen. Eilig zog ich meinen Mantel aus, warf diesen über ihre Schultern und schob sie herein.
“Ich warte dann hier auf dich”, rief mein Vater noch amüsiert bevor sich die Tür schloss. Ich erhaschte kurz sein freudiges Lächeln, welches mir umgehend ein ungutes Gefühl bescherte. Warum sagte er das? Was hatte er vor? Und vor allem, wieso ließ er mich tatsächlich mit ihr alleine?
Verwirrt drehte ich mich zu Dezeria herum, die wie angewurzelt dastand und den Haufen nackter CeKydes anstarrte. Ah, stimmt. Das hatte ich ganz vergessen.
“O Gott ...”, hörte ich sie flüstern und sah deutlich, wie ihr ganzer Körper versteifte. Ihr Kopf drehte langsam zu mir und es war nicht schwer, zu lesen, was sie nun dachte. War das Vaters Ziel gewesen? Sollte sie sich bei mir unwohl fühlen und denken, ich wollte Sex mit ihr? Oder eine Orgie feiern? Das war absurd. Wie auch diese ganze Konstellation an sich.
“Ignorier ... das einfach”, murrte ich und berührte sanft ihre Schulter – drehte sie ganz zu mir. “Was ist passiert? Wieso hat er dich raus gelassen? Warum hat er dich zu mir geschickt?” Ich war völlig durcheinander – verstand den Sinn dahinter nicht. Und auch dieses seltsame Gefühl in mir. Der Wind peitschte kurz auf und wirbelte danach unangenehm in meinem Körper. Prüfend. Lauernd. Irgendetwas stimmte nicht.
“Kannst ... Kannst du mich hier wegbringen? Dein Vater hat gesagt, dass du ein Schiff hast ... und ich dich nur fragen soll.” Sie zog den Mantel enger um sich. Ihr war sichtlich unbehaglich. Auch mein durchdringender Blick schien sie zu verunsichern, aber ich konnte nicht anders. Ich betrachtete jeden Millimeter ihres Gesichts – suchte einen Anhaltspunkt, warum ich mich plötzlich so angespannt in ihrer Nähe fühlte. Erst danach begriff ich die Bedeutung ihrer Worte.
“Wegbringen? Ich dich? Das hat er gesagt?” Nein. Unmöglich. Das konnte nicht stimmen. Warum sollte ich sie wegbringen dürfen? Warum würde er es wollen? Ich verengte misstrauisch die Augen. Es war ein Test. Ein Spiel. Und plötzlich realisierte ich, was mich störte – was meinem Wind missfiel.
“Du bist nicht echt.” Ich berührte ihre Wange, zwar nur flüchtig, weil sie davor zurückzuckte, aber es reichte. Ich fühlte es nicht. Kein Eis. Keine Kälte. Keine Zuneigung floss durch meine Adern. Auch die erste Aufregung durch ihren Anblick verebbte vollkommen. Mein Herz verschloss sich. Der Wind fühlte sich um etwas Wichtiges betrogen.
“I-ich bin nicht echt?”, fragte sie verwirrt und hob die Augenbrauen, aber mich täuschte sie nicht damit.
“Tu nicht so! Er ... Er hat dich konzipiert, um meinen Gehorsam zu prüfen ...”, murmelte ich das Letzte mehr zu mir selbst. Was brachte es schon, sich mit einer Puppe oder einem Klon zu unterhalten. Richtig. Gar nichts.
“Ich verstehe nicht ... Aber bitte, Hendrick, er hat gesagt, du kannst mich hier wegbringen. Weg von ihm, bitte.” Sie sah mich flehend an. Ihr Spiel war wirklich gut, aber waren sie das nicht alle? Ich hatte in meinem Leben bereits so viele Puppenmodelle und echte Sklaven erlebt, dass es mich nicht mehr kümmerte. Dezeria war es einfach nicht. Nicht echt. In dem Plexwürfel dagegen – das war echt gewesen. Da hatte ich was gefühlt – hatte sie geliebt. Wäre für sie gestorben. Jetzt konnte sie mir egaler nicht sein.
“Hendrick, bitte!” Sie berührte mich. Ich blickte auf ihre zarte Hand, die federleicht auf meiner Brust ruhte. Ich hasste es. Hasste, dass mich kein prickelndes Gefühl erschaudern ließ. Nichts in mir darauf reagierte, aber ich es wollte. Vermisste. Ich hatte noch nie in meinem Leben so gefühlt und jetzt war es fort. Wahrscheinlich für immer. Ein Stück von mir selbst verloren. Rausgerissen. Zerstört.
“Hendrick?” “Hör auf damit! UND fass mich nicht an!” Jetzt wurde ich wütend. Nicht auf sie, sondern auf meinen Vater. Wieder hatte er mir etwas weggenommen. Spiele mit meinem Verstand und Gefühlen. Aber dafür hatte er doch schon meinen Bruder! Warum tat er mir das an? War das die Strafe, weil ich sie ohne seine Erlaubnis besucht – seine Pläne durcheinandergebracht hatte?
Meine Hand donnerte auf die Sensorik und ohne großartig nachzudenken, stürmte ich aus meinem Zimmer, als die Tür aufsprang. Er stand da. Mein Vater lehnte immer noch an der Wand und schien nur auf mich gewartet zu haben. Sein Lächeln war kalt und berechnend – sagte mehr als tausend Worte.
“Was hast du mit IHR gemacht?!”, knurrte ich und baute mich vor ihm auf. “Wo ist die echte?”
“Hm? Die echte?” Er neigte gespielt ahnungslos den Kopf. “Sagt sie dir so denn nicht zu?”
“Lass den Quatsch! Du weißt ganz genau, was ich meine! Wenn du mit jemandem spielen willst, dann nimm meinen Bruder dafür! Ich will die da nicht! Nicht diesen Klon da. Was hast du mit der echten Dezeria gemacht?”
Er lachte. “Von wem redest du? Und das hier hat rein gar nichts mit deinem Bruder zu tun.”
Ich knirschte mit den Zähnen und ballte knurrend die Fäuste. “Henriette! Ich meine Henriette, die Frau mit dem Eis! Das da ...”, ich deutete hinter mich, “ist sie nämlich nicht! Was hast du mit ihr gemacht? Ist was beim Durchsehen ihrer Erinnerungen schief gegangen? Hast du sie getötet? Weggesperrt? Sag schon!”
“Also wirklich.” Er verschränkte die Arme vor der Brust. “Warum sollte die Frau es nicht sein, hm? Ich verstehe deinen Unmut nicht so ganz, mein Junge. Würdest du dich bitte erklären? Sag schon, wie fühlst du dich?”
“Wie ich mich fühle? WIE ICH MICH FÜHLE!?” Irgendetwas in mir setzte schlagartig aus. Dieser Satz brachte das Fass zum Überlaufen. Elektrisierte meinen Körper. “Immer geht es dir nur darum, was ich fühle! Wieso? Du machst alles nur kaputt, für das ich mich interessiere! WIESO!? Du bist ein widerlicher Sadist und ich verabscheue dich aus tiefster Seele!” Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. Kein Nachdenken. Keine Unterwürfigkeit. Ich hatte keine Angst vor ihm. Das erste Mal fühlte ich mich nicht wie sein Sklave.
“Hm ... Wut also, ja? Aber Wut hat dich schon immer zu Dummheiten verleitet. Du weißt, dass ich Aufmüpfigkeit nicht leiden kann, Hendrickson. Ganz besonders nicht von dir. Du sollst gehorchen. Immer. Aber scheinbar kann ich deinen Verstand bald nicht mehr halten. Das betrübt mich und ist zugleich auch sehr gefährlich für dich. Ich kann nicht zulassen, dass du mir weiter entgleitest. Du hast dich mir unterzuordnen.” Er griff in die Innentasche seines Mantels. “Und du wirst es auch, nicht wahr?” Zum Vorschein kam ein kleiner Kristall, der unglaublich weiß leuchtete. Einnehmend. Hypnotisierend. Ich konnte meine Augen einfach nicht davon abwenden.
“Ich will jetzt, dass du dich hinkniest und um Entschuldigung bittest. Danach darfst du Henriette in ihr Zimmer bringen. Sie bezieht ab heute die Räumlichkeiten gleich neben deinen und wird ...” Was er sagte, verlor für mich jedwede Bedeutung. Es waren nur Geräusche und selbst das kurz darauf nicht mehr. Stille. Nein. Ein leichtes Rauschen. Nein. Knistern, wie von fallendem Schnee umspielte meinen Geist. Sanft. Liebevoll. Streichelnd.
“Hendrickson?” Der Kristall verschwand aus meinem Sichtfeld – wurde von rotem Stoff verhüllt. “Hast du mir überhaupt zugehört, mein Junge?”
“Gib es mir.” Das war keine Bitte, auch wenn es mir nur flüsternd über die Lippen kam. Noch nie hatte ich etwas so sehr gewollt, wie diesen funkelnden Edelstein. Ich musste ihn haben!
“Wie war das?”, fragte mein Vater gefährlich scharf klingend, was mich sonst immer dazu verleitete, vorsichtig zu werden. Aber. Nicht jetzt. Ich blickte ihm unbekümmert ins Gesicht, als wäre er nicht der gefährlichste Mann der Welt. Er war ein Niemand. Jemand vollkommen Fremdes. Unwesentlich.
“Gib es mir!” Ich schritt vor und griff nach seinem Mantel, um mir den Stein selbst zu nehmen. Ich war allerdings nicht schnell genug. Er packte meinen Arm grob am Handgelenk, noch bevor meine Fingerspitzen seine Kleidung erreicht hatten.
“Und jetzt? Willst du es vielleicht noch einmal mit der anderen Hand versuchen?” Er lächelte. Aber nur ganz kurz. Danach durchzog sein Gesicht purer Schmerz. Diesen Ausdruck fand man bei ihm nur selten, aber auch er konnte ihn fühlen, das wusste ich. Das dumpfe Geräusch, den sein abgetrennter Arm beim Aufprall auf den Boden machte, kümmerte mich nicht. Ich fasste wieder vor, um mir endlich dieses leuchtende Ding zu holen. Es wollte zu mir! Ich hörte es rufen. Verführte mich in solchem Ausmaß, dass ich blind für alles andere wurde. Ich erkannte nicht einmal, was mir als Nächstes die Lichter auspustete. Spürte nur irgendetwas unglaublich hart gegen meinen Brustkorb donnern.
*
“... getan? Gott, was seid Ihr nur für ein Monster?!” Dezerias nervöse Stimme hallte in meinem Schädel. Dumpf spürte ich tupfende Berührungen in meinem Gesicht.
“Ich? Also wirklich. Er hat mich doch provoziert. Hast du eine Ahnung, wie sich das anfühlt? Soll ich dir vielleicht mal etwas abtrennen? Danach können wir gerne weiterreden.” “Bei mir würde es aber bestimmt nicht wieder anwachsen! Habt Ihr überhaupt etwas Menschliches an Euch?” Ein tiefes Lachen folgte.
Ich blinzelte. Verschwommen erkannte ich die Frau, welche nicht die echte Dezeria war. Sie kniete neben mir und fummelte an meinem Kopf herum. Betrachtete mich besorgt.
“Hendrick? Alles in Ordnung?” “Geh weg ...”, brummte ich und drückte ihre Hände bestimmend von mir – richtete mich auf. Ich lag ein gutes Stück von meinem Vater entfernt. Mitten auf der Türschwelle zu meinem Zimmer. Der Rahmen auf der rechten Seite hatte deutlich was abbekommen und so wie sich mein Körper anfühlte, war ich volle Kanne dagegen geknallt.
“Aber ich wollte nur ... Du blutest ...” In der Tat. Mir lief etwas Kaltes über die Stirn und verklebte mir das linke Auge.
“Ist nicht das erste Mal ...”, sprach ich gleichgültig und ignorierte den Schmerz. Wackelig stand ich auf – wischte mir übers Gesicht. Starrte meinen Vater an, der sich mit einem breiten Grinsen immer noch den verwundeten Arm hielt. Besser gesagt die schwarzen Wundränder aufeinanderdrückte, um sich diesen wieder an den Körper zu pinnen.
“Gib es mir.” Ja, daran hatte sich nicht geändert. Ich brauchte diesen Stein. Musste ihn haben!
“Du wirst übermütig. So leicht werde ich es dir nicht noch einmal machen”, sprach mein Vater, als ich zielstrebig auf ihn zu schritt. Aber seine Worte waren bedeutungslos. Alles war das. Allein was er in seiner Jackentasche hatte, spielte noch eine Rolle.
“Wenn du es mir nicht freiwillig geben willst, dann wirst du es eben in Stücken tun.” Erneut jagte Wind völlig lautlos von mir. Unsichtbare scharfe Klingen ließ ich auf meinen Vater niedergehen. Sie zerschnitten mühelos seine Kleidung, aber nicht das darunterliegende Gewebe. Selbst als ich die Kraft der Luftströmung erhöhte, geschah ihm nichts. Vielmehr erklang bei jedem einzelnen Aufeinandertreffen ein metallisches Kreischen und seine Haut verdunkelte sich an genau diesen Stellen.
Es hätte mir zu denken geben sollen. Mich Vorsicht walten lassen, aber es ging nicht. In mir setzte alles aus, als ich den Stoff an seiner Brust zerfetzte und das leuchtende Weiß zu Boden fiel. Meine Augen sahen nur diesen Kristall. Wie in Trance bückte ich mich und griff danach. Überaus vorsichtig legten sich meine Finger darum. Hoben es auf. Ich spürte ein beständiges Pulsieren. Kälte, die mich zu verschlingen drohte. Ein liebliches Säuseln und Rauschen in mir. Mein Herz flatterte wie wild.
“Wie fühlst du dich?” Die Frage meines Vaters hörte ich, aber es konnte mir egaler nicht sein. Mein Körper rührte sich nicht. Erstarrte vollkommen.
“Antworte mir, das ist ein Befehl.” Ein reißendes Ziehen durchfuhr mein Innerstes, jedoch entkam meinem Mund kein einziger Ton. Der Zwang zu gehorchen wallte kurz in mir und verebbte sofort wieder. Unbedeutend. Alles war so unbedeutend, solange ich dieses Licht hatte.
Plötzlich schob sich etwas in mein verschwommenes Sichtfeld. Eine fremde Hand strich behutsam über meine Haut und entnahm meinen steifen Fingern ohne Mühe dieses faszinierende Weiß. Verwirrt blickte ich auf. Sah meinem Vater mitten ins Gesicht.
“Das ist nicht gut ...”, sagte er verstimmt und berührte meinen Kopf. Es tat seltsam weh. Irgendwie schmerzte auf einmal mein ganzer Körper.
“Deine Verletzung heilt nicht. Du blutest immer noch.” Er zeigte mir das verschmierte Blut, aber ich hatte nur Augen für den Kristall, denn er fest in seiner anderen Hand verschloss. Absichtlich vor mir verbarg.
“Gib es mir zurück.” Meine Stimme war leise. Nur ein kümmerliches Hauchen. Ich fühlte mich seltsam berauscht und gleichzeitig all meiner Sinne beraubt. Taub. Dumpf. Sämtliche Organe spielten verrückt. Eine schreckliche Empfindung, als würden sie kochen oder langsam vor sich hin schmoren. In mir wand sich der Wind, um etwas Größeres zu entfachen. Die Vorreiter des Sturms kündigten sich an. Blitze. Irgendwo in meinem Verstand wusste ich, dass diese schwer zu lenkende Macht nicht gut war – mir schadete, aber selbst das verlor sich. Hauptsache ich war dadurch stärker als mein Vater.
Und das war ich auch. Ich spürte es bis in die Haarspitzen. Kreischende Elektrizität kombiniert mit peitschender Luft umhüllte meinen Leib. Diesmal würde ich ihn töten. Ganz gewiss.
Etwas irritiert war ich dann allerdings doch, als mein geplanter Angriff verpuffte. Meine unsichtbaren Klingen und die grellgelben Blitze prallten erneut von seiner mittlerweile komplett schwarz gewordenen Haut ab. Nicht mal einen Kratzer konnte ich ihm zufügen.
“Völlige Selbstüberschätzung, wie?” Er schüttelte den Kopf und seufzte – verschränkte die Arme vor seiner blanken Brust. “Du enttäuscht mich. Wie immer. Aber gut. Ich zeige dir nur zu gerne, wo dein Platz ist.”
Ich wollte etwas Abfälliges erwidern, aber es ging nicht. Ich konnte nicht atmen. Pure Säure fraß sich meine Kehle hinauf. Meine Muskeln zitterten. Verweigerten mir ihren Dienst. Ich stürzte keuchend vor ihm auf die Knie. Ich spürte seinen niederschlagenden Einfluss in mir. Wie er jeder meiner Zellen seinen Willen aufzwang.
“Ich habe dir schon oft genug gesagt, dass du nicht nur aus den Fähigkeiten deiner Mutter bestehst. Dieses unkontrollierte Freisetzen deines Elements überstrapaziert deinen minderwertigen Körper und das weißt du auch ganz genau.”
“H-halt de-den Mu-nd!”, brachte ich unter größter Anstrengung hervor und starrte verzweifelt den Boden an. Dunkle Tropfen fielen reihenweise auf den weißen Teppich unter mir. Ob es mein Blut oder meine Tränen waren, konnte ich dabei nicht sagen. Zu viel Verzweiflung brach gerade über mich herein und lähmte jedes klare Denken.
Das unumstößliche Wissen, dass ich verloren hatte. Versagt hatte, mich gegen ihn zur Wehr zu setzen, erdrückte mich. Brachte mich um. Dabei kümmerte mich nicht die diabolische Strafe, die er für den Ungehorsam später über mich verhängen würde, sondern der Verlust des weißen Steines. Ich wollte gewinnen. Nur einmal ihm etwas entreißen, dass mir wichtig war, bevor es für mich unerreichbar wurde. Nur. Dieses. Eine. Mal.
Ich biss die Zähne zusammen. Krallte meine Finger in den harten Stoff. Ich hatte keine Chance – ich wusste das. Und doch. Noch schlug mein Herz. Noch atmete ich. Der Wind in mir tobte. Blitze knisterten auf meiner Haut. Sturm. Der Sturm war endlich da und er wollte raus. Wollte wüten.
“Vergebene Liebesmüh”, brummte mein Vater, aber da ließ ich bereits los. All meine Mauern. Jeden Rest Selbstkontrolle gab ich auf. Sollte der Sturm meinen Körper haben. Meine Knochen brechen. Muskeln und Sehnen zerfetzen. Mein Blut verschlingen. Hauptsache er fügte dafür auch meinem Vater Schmerzen zu.
Ein Singsang aus kreischenden Blitzen und heulendem Wind erklang. Von irgendwo gesellte sich das grässliche Reißen von Metall dazu. Die panischen Schreie einer Frau wurden völlig von meinem Gebrüll verschluckt. All mein Elend zwang ich aus meinen Lungen. Aus meiner Seele. Ich wollte vergehen. Jedes bisschen Opfern, nur um dadurch mehr Schaden anzurichten. Chaos. Ich war das reinste Chaos.
Plötzlich wurde es still. Mein rasender Herzschlag stoppte und wechselte zu einem gleichmäßigen langsamen Pochen. Ich sackte zusammen. Mir wurde schwarz vor Augen.
“Sieh dich nur an. Was ein katastrophaler Zustand. Du hast es übertrieben. Deutlich.” Berührungen folgten. Zwischen all den Schmerzen spürte ich, wie mein Vater mich auf seine Arme hob und zärtlich an seine Brust drückte.
“Du bist schwach und instabil. Es ist leicht, dich zu beeinflussen, und das soll es nicht sein, Hendrickson. Aber darüber reden wir später, wenn du wieder fit bist.” Er hauchte mir einen federleichten Kuss auf die Stirn. “Schlaf jetzt.” Es war zwar kein Befehl, aber dennoch hämmerte es in meinem Innern als wäre es einer. Der letzte Faden meines Verstandes riss und ließ mich endgültig in die Dunkelheit gleiten.