⊶Ikathes Sicht⊷
Die Verarbeitung all meiner gesammelten Daten hatte länger gedauert, als ich zuvor dafür einkalkuliert hatte. Bedeutend länger. Die Frage nach dem Warum klärte sich allerdings sofort, als ich meinen Berechnungskomplex verließ und die Netzstruktur um mich herum analysierte. Ich befand mich nicht länger im System des Schlachtschiffs, sondern in einer simplen Maugeri. Das überraschte mich und zugleich auch wieder nicht. Immerhin hatte es prozentuale Chancen gegeben, dass man mein aufgebautes Versteck aus Scheindateien, so gut es auch sein mochte, entdecken würde. Und er hatte es ganz offensichtlich. Re’Nya’Ca Fyl. Leopold Weckmelan hatte mich in der Tyschenka gefunden und in diesen Körper verschoben. Das war frech und passte mir im Moment eigentlich überhaupt nicht in den Kram. Wobei. Es war unvermeidlich gewesen. Unvermeidlich und doch – eine simple Servicemaschine? Das beleidigte mich. Hätte er mir nichts Besseres geben können? Aber gut. Sei es drum. Ich musste eben mit den Dingen arbeiten, die ich hatte, und sicherlich würde mir der Sinn dahinter später noch klar werden. So wie die letzten Stunden mir Klarheit verschafft hatten, welche Ausmaße das Spiel besaß, in dem wir uns alle befanden. Er eingeschlossen.
Mir fehlten zwar einige Antworten, aber für zusätzliche Analysen hatte ich nachher auch noch Zeit. Erst einmal brauchte ich den neusten Stand – eben einen Überblick über alles und jeden. Es gab nichts Schlimmeres als veraltete Daten und davon hatte ich eine Menge. Wie ging es Heka, Reznick, Dezeria, Johanna und Zerian? Wo befanden sie sich? Was hatten sie gemacht und was machten sie gerade? Davon brauchte ich unbedingt ein Update, aber bevor ich mich voll und ganz mit den anderen beschäftigen konnte, benötigte ich zuerst eine detaillierte Bestandsaufnahme zu meiner Person. Eine Grundlage, von der aus ich weiter machen konnte. Immerhin war ich jetzt ein Teil der Gleichung.
Im Nu machte ich mich mit der Steuerung vertraut, schrieb an vereinzelten Stellen etwas im Quellcode um und öffnete schließlich die Lider der Puppe. Gründlich erfasste die Sensorik meine Umgebung. Wobei es hier nicht wirklich viel zu erfassen gab. Ich steckte in einem kahlen grauen Raum, der vor mir eine massive Metalltür und zu meiner Linken eine Wand aus verspiegeltem Glas besaß.
“Och, bitte ... Du hast mich im Sicherheitstrakt untergebracht?” Ich blickte in mein reflektierendes Puppengesicht. “Das ist erniedrigend und absolut unnötig." Gut. Wenn ich es aus seiner Sicht betrachtete, war es nachvollziehbar. Er hielt mich für einen Eindringling, der in seinem System herumgefuhrwerkt hatte – was ja auch stimmte. Von daher konnte ich dankbar sein, dass ich noch existierte. Hätte er in mir eine ernsthafte Gefahr gesehen, wäre ich längst zerstört worden. So jedoch gab er mir eine Chance. Er wollte sehen, was ich war und mich kennenlernen. Ein gutes Zeichen.
“Und nun?” Ich schritt bis dicht vor das Sicherheitsglas. Mit großer Wahrscheinlichkeit befand sich Leopold direkt dahinter und beobachtete mich. “Wie lange muss ich hier drinnen bleiben?” Zeit war immerhin kostbar, gerade jetzt, wo sich durch diesen Körper alles zusätzlich verlangsamte. Verzögerungen könnten uns entscheidende Vorteile kosten und das war inakzeptabel.
Da ich auch nach verstrichenen zwei Minuten keine Antwort oder irgendeine andere Reaktion erhielt, leitete ich mehr Energie in die Sensorik. Ich probierte verschiedenste Einstellungen, um mehr sehen zu können – hinter mein Spiegelbild zu blicken. Leider ohne nennenswerten Erfolg. Die Puppe war einfach zu begrenzt in ihren Möglichkeiten. Das konnte noch extrem lästig werden. All ihre Fähigkeiten waren immerhin meine, was nichts anderes als eine Bereicherung von immensen Schwachstellen bedeutete. Aber auch damit würde ich klar kommen oder konnte mir später Alternativen überlegen. Aktuell hatte ich in meinem Innersten keinen Platz für dieses Thema.
Mit laufenden Berechnungen über mein nächstes Handeln starrte ich ins Leere. Gleichzeitig machte ich mir selbst meine Gedanken über die Situation, denn so ungenau wildes Raten auch sein mochte, hatte es einen Nutzen. Es ermöglichte andere Blickwinkel und schärfte immer weiter meinen Verstand. Also. Was erwartete Leopold nun von mir? Machte er einen Test? Prüfte er mein Können? Würde jedenfalls zu ihm passen. Ausgehend davon wollte er dann – was? Sehen wie ich kommunizierte? Meine Wortwahl oder ob ich überhaupt der Sprache mächtig war? Nein. Taten war schon immer das Ausschlaggebende für ihn. Daraus schlussfolgernd wollte er sehen, was ich mit einem Puppenkörper alles anstellen konnte – wie ich mich aus einer Gefangenschaft befreite. Perfekt. Meine Zahlen kamen genau in diesem Moment auf dasselbe Ergebnis. Damit stand mein Ausbruch fest und war nur noch reine Formsache.
Zielstrebig steuerte ich die Tür an und hackte mich via Funksignal in dessen Mechanik. Mit einem Codebrecher war es ein leichtes, die Sicherheitsbestimmungen zu umgehen und das Schloss letztlich zu öffnen. Das hatte Leopold so gewollt. Da war ich mir einhundertprozentig sicher, andernfalls hätte er diese Funktion in mir unbrauchbar gemacht oder mich gleich in eine CeKyde gesteckt, die solche offenen Funkkanäle schlicht nicht besaßen.
“Zufrieden?” Ich trat aus meiner Zelle, musste aber feststellen, dass ich alleine im Überwachungsraum war. Seltsam. Ich hatte fest damit gerechnet, dass Leopold mich erwarten würde. Ein Scan der Umgebung bestätigte auch diese Annahme. Ich fand Rückstände aus Bleasta genau dort, wo er mich hinter dem Sicherheitsglas hätte beobachten können. Der Kristallstaub war schon fast verflogen, was bedeutete, dass sich seine Kopie schon vor längerer Zeit gelöst hatte. Fragte sich nur, warum?
Mein Wissensstand über ihn verwarf die Möglichkeit, dass ich ihm egal geworden war. Das entsprach nicht seiner Persönlichkeit und dem Drang nach Kontrolle. Er wusste aktuell nichts über mich – konnte mich nicht einschätzen und das sollte vollkommen ausreichen, um sein Interesse zu wecken. Es musste demnach etwas bedeutend Wichtigeres passiert sein, wo er all seine Konzentration gebraucht hatte. Laut meinen Zahlen gab es da nur zwei Ursachen. Entweder Reznick oder Heka selbst. Ich tendierte zwar eher zu Reznick, wollte mich aber dennoch nicht festlegen. Heka hatte durchaus das größere Potential, was das Reizen und Zerstören anging.
Schnell begab ich mich zur breiten Steuerkonsole weiter hinten im Trakt und suchte nach einem manuellen Anschluss. Ich brauchte unbedingt mehr Informationen und so gut meine Funkverbindung auch war, die kümmerliche Geschwindigkeit des Datenaustauschs machte mich wahnsinnig.
Leider fand ich bei der hochkomplexen Anlage keinen direkten Port, was mich aber nicht überraschte. Warum auch sollte Leopold hier einen Direktlink verbauen? Er konnte Tyschka jederzeit einen verbalen Befehl geben oder sich eben durch seine Essenz mit Leichtigkeit in die Elektronik klinken. Alles Dinge, die ich nicht vermochte. Dafür besaß ich andere Talente.
Ich nutzte die Puppe, um seitlich an dem Pult eine Abdeckung aufzustemmen. Ich brauchte drei Anläufe, bis die Finger richtig fassten und das Leichtmetall verbogen. Im Nu wühlte ich mich durch den Kabelsalat im Inneren und fand schließlich eine Schnittstelle, die ich für meine Zwecke nutzen konnte. Ich verband die Puppe über zwei Kabelkanäle mit der Tyschenka. Kurz spielte ich dabei mit dem Gedanken, mich vollständig zurück ins Schiffnetz zu begeben, verwarf diesen aber sofort. Der Zustand des Systems war einfach eine einzige Katastrophe – ich erkannte es nicht wieder. Energieschwankungen, Überlastungen und Stromausfälle. Die Schäden waren derart groß, dass selbst Tyschka sich in Standby begeben hatte und auf Anweisungen wartete. Merkwürdig. Auch, dass Leopold nicht dabei war, irgendetwas zu reparieren. Ich konnte in den wenigen funktionierenden Daten kein Befehl, geschweige denn ein Programm finden, das an der Wiederherstellung arbeitete. Nichts. Niemand kümmerte sich und wenn das so weiter ging, kam selbst die Lebenserhaltung ins Stocken. Was jetzt nicht unbedingt für mich schlimm wäre, aber doch für alle anderen, die Luft zum Atmen oder einen gewissen Grad an Wärme benötigten.
Unter Auslastung sämtlicher meiner Berechnungsmatrizen entwickelte ich einen Plan, um erst einmal die gravierendsten Probleme zu beseitigen. In Bruchteilen von Sekunden schrieb ich rudimentäre Codes und auch komplexere Programme, die sämtliche Abläufe und Reparaturen in der Tyschenka übernehmen sollten. Betonung lag auf sollten, denn leider war die Vernetzung so aufgebaut, dass ich von meinem Standort aus, nicht auf alle Hauptsysteme zugreifen konnte. Frustrierend. Ich hätte im Moment alles für ein paar Logfiles des Schiffkerns gegeben. Aber gut. Es ließ sich nicht ändern. Ich nutzte stattdessen meine freigewordenen Kapazitäten, um mich in den Backups des Überwachungssystems umzusehen. Somit ließ sich ein Großteil der vergangenen Stunden rekonstruieren. Und es war in der Tat eine Menge geschehen. Diese Daten brauchte ich unbedingt. Alle!
Die Prozessoren der Maugeri glühten von meiner Dauerbenutzung und zwangen mich letztlich dazu, den Download der abertausenden Kopien zu beenden, die ich für spätere Analysen eigentlich hätte haben wollen. Ärgerlich. Inakzeptabel. Ohne Informationen war ich aufgeschmissen und konnte nicht richtig arbeiten. Nicht einhundertprozentig, aber das musste ich. Ich musste funktionieren und nützlich sein! Einen anderen Sinn gab es für mich nicht.
Prüfend wanderten meine Augen durch den Trakt. Ich benötigte unbedingt ein paar Upgrades für meinen Körper und hier gab es eine Menge Technik, die ich bestimmt für meine Zwecke umfunktionieren konnte. Zu aller erst musste ich mein Bedarf an Kühleinheiten decken, aber auch zu zusätzlichen Energiezellen sowie einiges mehr an Arbeitsspeicher würde ich gewiss nicht nein sagen. Ebenfalls musste ich an meine Sicherheit denken. Wenn der Puppe etwas passierte, würde sich das negativ auf mich auswirken – könnte mein Ende bedeuten und das durfte ich nicht zulassen. Nicht, solange meine Aufgabe nicht erfüllt war.
Schnell klinkte ich mich aus und machte mich ans Werk, alles nützliche zusammenzutragen und die ein oder andere Modifizierungen vorzunehmen. Es würde zwar einiges an Zeit in Anspruch nehmen, aber jede andere Alternative hatte ebenso ihre Nachteile. Das hier war der beste Weg, um mich zu schützen und zugleich in meinem Plan voranzukommen. Einen vielschichtigen Plan, der die Machenschaften der Rea ein für alle Mal beenden würde.
*
Exakte 48 Minuten und 22 Sekunden später, stand ich auf einem Fahrpannel und sauste durch die immer schlechter beleuchteten Gänge der Tyschenka. Mein Ziel war jener Bereich, von dem aus die ersten Beschädigungen gemeldet worden waren. Jenes Zimmer, indem sich nach dem letzten Stand Leopold, Heka, Reznick und Dezeria befunden hatten. Was darauf folgte, war zwar keiner Datenbank zu entnehmen gewesen, aber dennoch für mich nachvollziehbar. Ich brauchte bei ihnen überraschenderweise keine genauen Zahlen, um das Geschehene zu verstehen. Beim Auftreffen all dieser unterschiedlichen Individuen – bei dieser explosiven Mischung der Kräfte, konnte man in der Tat froh sein, dass das Schiff im Großen und Ganzen noch intakt war.
Fünf weitere Minuten vergingen, bis ich endlich den Teil der Tyschenka erreichte, in dem gar nichts mehr funktionierte. Sämtliche Elektronik hatte es hier durchgeschmort oder regelrecht aus den Wänden gesprengt. Es war vollkommen dunkel, die Luftwerte sahen nicht gut aus und auch die festgelegte Raumtemperatur schwankte. Abweichungen von fünf bis zu zehn Grad registrierte ich. Für einen Menschen mochte das alles sicherlich unangenehm sein, ich jedoch hatte keine Probleme. Die Maugeri musste nicht atmen, war Kälte unempfindlich bis zu -40 Grad und die Optik konnte selbst ohne die geringste Lichtquelle ein scharfes Bild erzeugen. Zusätzlich dazu hatte ich mit einigen Basteleien meine Informationsgewinnung durch die Standardsensoren noch erweitern können. Gleich sechs weiße Drohnen folgten mir und scannten unablässig die Umgebung. Da sie ursprünglich eigentlich nicht für eine derartige Nutzung ausgelegt waren, erzeugte mein Übertakten ein nerviges Surren, aber besser hatte ich es in der begrenzten Zeit nicht hinbekommen. Hauptsache es funktionierte und lieferte mir entsprechende Daten.
Zwei Minuten später passierte ich die vorletzte Abzweigung und drosselte die Geschwindigkeit des Pannels. Ich hatte das Zentrum der Zerstörung fast erreicht und wollte unter keinen Umständen einen Angriff provozieren oder jemanden über den Haufen fahren. Ich musste äußerste Vorsicht walten lassen, da mir ab jetzt nur vage Berechnungen für das Kommende zur Verfügung standen und davon war ich absolut kein Freund. Allein schon, weil eine dieser Möglichkeiten auch mein Ende beschrieb. Nicht unbedingt erstrebenswert, aber darauf wollte ich mich nicht versteifen. Noch war nicht abzusehen, in welche Richtung sich das alles entwickeln würde. Fest stand lediglich, dass sich jemand in der Nähe aufhalten musste. Neben vereinzeltem Raureif an den Wänden erstrahlte der Flur weiter vorne in einem fahlen grauen Licht. Ohne Zweifel eine fremdartige Lichtfrequenz, die nicht zur Tyschenka gehörte.
Im Schritttempo flog ich bis zur nächsten Ecke und hielt schließlich ganz an. Ich schickte eine der Drohnen vor, um die Lage zu erfassen. Leider zeigte sie mir durch unsere Funkverbindung die wohl denkbar schlechteste Konstellation, die unter den gegebenen Umständen existieren konnte. Reznick. Keine Spur von Heka oder Leopold. Nur er, Dezeria und dann auch noch dahinter Elian mit Suciu. Das könnte kompliziert werden. Nicht unbedingt wegen der Angriffshaltung, die Reznick beim Anblick meiner Drohne einnahm und Dezeria währenddessen knurrend hinter sich schob, sondern aufgrund der mir nun zur Verfügung stehenden Dialogoptionen. Elian und Suciu allein, wäre leicht gewesen. Mit der bloßen Erwähnung, dass mich Re’Nya’Ca Fyl. Leopold Weckmelan schickte, hätte ich sie überallhin dirigieren können. Bei den anderen beiden kam dies natürlich nicht infrage. Ebenso nicht, sich als Tyschka auszugeben. Mir blieb allein, im Auftrag von Heka zu handeln, und diese Vorgehensweise hatte massive Schwächen. Ich hatte null Informationen darüber, was sie mit Reznick in der Zwischenzeit alles besprochen oder geplant hatte, und das würde er sofort durchschauen. Jede Ungereimtheit würde sein ohnehin schon hohes Misstrauen stärken und mein Vorhaben erschweren.
“Keine Angst.” Ich fuhr mit dem Pannel ein Stück vorwärts, damit sie mich von ihrem Gang aus sehen konnten. “Ich bin nicht hier, um zu kämpfen.” Reznick reagierte nicht darauf, sondern musterte mich gründlich. Besonders die über mir schwebenden Maschinen und die vier Taschen, die ich bei mir trug, erregten seine Aufmerksamkeit. Ich gab ihm den Moment, mich einzuschätzen, bevor ich drei der Drohnen über ihre Köpfe hinweg weiterschickte, um das Gebiet zu analysieren. Er zuckte kurz zusammen und machte sich noch ein Stück größer, um Dezeria vollständig vor mir zu verbergen.
“Was soll das werden, Vater? Bist du jetzt zu feige, um dich selbst zu zeigen?” Seine Gesichtszüge waren von Verachtung und Wut geprägt.
“Nicht dein Vater. Heka schickt mich.” Wie schlecht diese Worte waren, obwohl sie lediglich als neutraler Bezugspunkt in unserer Konversation dienen sollten, bemerkte ich sofort. Sein Blick schien mich erdolchen zu wollen.
“Tz, wirklich?” Er ballte zitternd die Fäuste, zumindest versuchte er es, aber sein linker Arm gehorchte ihm immer noch nicht. “Was ... will sie?” Seine ganze Haltung machte deutlich, dass eine weitere von mir falsch gewählte Äußerung einen Angriff seinerseits heraufbeschwor. Da war offensichtlich einiges zwischen den beiden vorgefallen. Ursachen könnten eine Handvoll Meinungsverschiedenheiten sein, wobei ein geringer Prozentsatz auch in Betracht zog, dass sie ihm endlich die Wahrheit über das endlose Spiel gesagt hatte. Wie dem auch sei. Ich hatte ohnehin nicht vor, näher darauf einzugehen.
“Ihr sollt das Schiff verlassen. Die Tyschenka ist stark beschädigt und benötigt Reparaturen, die nur durch euer aller Fernbleiben vonstattengehen können.” Was nicht unbedingt stimmte, aber das schien ihm egal zu sein. Er hatte es zwar zu unterdrücken versucht, aber mir waren die Mikro-Ausdrücke von Freude an seinem Körper nicht entgangen. Sein Verlangen von hier wegzukommen, war unermesslich groß. Ein Vorteil für mich.
“Wer’s glaubt! Als ob wir jetzt einfach so gehen dürfen. Das hat Heka dir aufgetragen? Wo ist sie und mein beschissener Vater überhaupt? Was für ein Spielchen wollen sie jetzt mit uns spielen, hm? Haben sie es sich irgendwo gemütlich gemacht und sehen jetzt durch deine Augen oder was?!” Seine zunehmende Wut ignorierte ich. Diese war abzusehen gewesen. Ebenso seine Fragen, auf die ich nicht zu antworten gedachte. Zum einen wusste ich nicht einmal selbst, wo die beiden steckten, noch war diese Unterhaltung in irgendeiner Weise förderlich für mein vorhaben.
“Ich bin eine von Heka programmierte KI, die im Notfall für die Sicherheit aller Personen an Bord zuständig ist.” Das war mit Abstand die beste Lügengeschichte, die meine Wahrscheinlichkeitsrechnungen ausgespuckt hatten. Jede andere Erklärung hätte zu viel Zeit in Anspruch genommen. “Ich bin hier, um euch nach Weckmelan zu geleiten. Solange die Tyschenka in Reparatur ist, werdet ihr dort sicher untergebracht sein.”
“Weckmelan? Ernsthaft? Ich werde garantiert NICHT in die Stadt meines Vaters gehen!” Sein Widerstand zu diesem Vorschlag war nachvollziehbar, jedoch änderte das nichts an dem Ergebnis. Ich kannte ihn zu gut. Durch die immense Datensammlung zu ihm, wusste ich genau, welche Worte er hören musste.
“Ich habe die Order, euch zum Hangar zu führen und den Gleiter auf Stellplatz 46 zum Start vorzubereiten.” Kurz zeigte er Verwunderung, bevor sein Gesicht gekonnt ausdruckslos wurde. Er überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Wägte die Risiken ab. Er würde einen Moment brauchen, bis er auf dieselben Zahlen – denselben Schluss kommen würde wie ich. So wenig es ihm auch schmeckte. Er würde mir folgen. Die Aussicht auf ein eigenes Schiff und der damit verbundenen Fluchtmöglichkeit – das konnte er nicht ausschlagen.
“Die Zeit drängt.” Ich erhöhte den Druck. Er sollte nicht so viel darüber nachdenken. Dumme kopflose Aktionen konnte er sich später noch zur Genüge einfallen lassen. Immerhin bestand weiterhin die Möglichkeit, dass entweder Heka oder Leopold oder gleich beide auftauchten und mir einen Strich durch die Rechnung machten. Denn sie würden einhundertprozentig nicht gutheißen, dass ich vorhatte, die ganzen Störfaktoren fortzuschaffen. Aber das war zwingend erforderlich. Jede Entscheidungsmatrix hatte dies ausgeworfen. Ohne eine Ablenkung von außen blieb ihnen genug Raum, um endlich dieses Bindungsthema zu klären, was längst überfällig war. Danach konnte sich Leopold vollumfänglich um das Rea-Problem kümmern. Frei von allem, was ihn sonst immer davon abhielt.
Ein weiterer Grund für meine Hast war der Zustand von Elian. Selbst Dezeria war es aufgefallen. Immer wieder drehte sie sich besorgt zu ihm um, wagte es aber nicht, sich von Reznick zu lösen, um Hilfe zu leisten. Aber diese hatte er dringend nötig. Er befand sich nach wie vor am Boden und starrte apathisch vor sich hin. Die uns umgebenen drei leuchtenden Kugeln aus seiner Fähigkeit hatten sich bereits eingetrübt. Das linke Auge war schwarz und auch durch sein Gesicht zogen sich einige dunkle Äderchen. Kein gutes Zeichen, wenn man seinen Zusammenbruch von vor zwei Stunden berücksichtigte. Wenn es schlimmer wurde, musste er erneut durch Leopolds Blut behandelt werden. Dies galt es unbedingt zu verhindern.
“Zudem müssen eure Wunden professionell versorgt werden.” Ich schaltete das Fahrpannel aus, wodurch dieses auf dem Boden aufsetzte und wandte mich anschließend einer der Taschen zu, die sich hinter mir befanden. “Ich habe etwas zur Linderung mitgebracht, aber eure Essenzwunden werden dadurch nur begrenzt heilen.” Mit drei Int-Ampullen in den Händen machte ich anschließend einige Schritte in Reznicks Richtung. ”Bitte sehr.” Ich hielt ihm die kleinen Geräte für den Sofortgebrauch mit gebührendem Abstand hin, damit er die Etiketten sehen konnte und ich dennoch nicht Gefahr lief, von ihm zerstört zu werden. Ich hatte zwar die Drohnen, die mich im Notfall mit einer Barriere schützen konnten, aber ich war nicht scharf darauf, die Funktionalität davon einmal auszutesten.
“Als ob ich von dir irgendein Medikament entgegennehme.” Er lehnte überzeugend ab, obwohl mein Scanner nach wie vor schlechte Vitalwerte bei ihm feststellte und mir damit bestätigte, was ich ohnehin schon optisch an seiner nackten Erscheinung hatte feststellen können. Sein Körper war am Ende. Gerne hätte ich ihn gefragt, wie er es dennoch schaffte, aufrecht zu stehen, denn keine meiner Berechnungen ergab diese Variante. Mochte sein, dass ich die Zahlen von den Kampfaufzeichnungen zwischen ihm und Leopold nur grob gerundet hatte, trotzdem kam keins meiner Ergebnisse auch nur annähernd zu diesem Schluss. Interessant.
“Wie du willst.” Es war in der Tat egal, ob er etwas davon zu sich nahm oder nicht. Weder er noch Dezeria schwebten aktuell in Lebensgefahr. “Wenn von euch kein Siasal oder KasXal zur Stabilisierung gewünscht wird, dann eben nicht.” Das schien ihn zu verwirren. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,71 Prozent hatte er eine andere Aussage erwartet, aber auch das war für mich nicht von Belang. Mein Blick schweifte an ihm vorbei. “Fräulein Dezeria, wärt Ihr dann so freundlich, Elian zwei Einheiten von dem Neubottin zu geben?” Sie sah überrascht zu mir, während Reznick ein Knurren ausstieß.
“Wag es nicht, sie anzusprechen!” Ich ignorierte ihn und warf besagtes Behältnis mit der grünen Flüssigkeit zu ihr. Natürlich schaffte sie es nicht, es zu fangen. Reznick kam ihr zuvor und starrte mich grimmig an. Faszinierend wie viel Zeit er uns mit diesem unsinnigen Widerstand stahl, wo wir es doch eigentlich eilig hatten. “Niemand wird diesen Scheiß zu sich nehmen!” Er war ohne Zweifel im Trotzmodus und dadurch absolut unbrauchbar. Vielleicht kam er ja wieder zur Vernunft, wenn ich ihm den Spiegel vorhielt.
“So?” Ich verschränkte die Arme und stellte die Mimik der Puppe so ein, dass der Gesichtsausdruck Geringschätzung ausdrückte. “Und was schlägst du dann vor? Elian steckt offensichtlich bereits in einem neuen Anfall und braucht ein Beruhigungsmittel, damit seine Essenz ihn nicht noch weiter schädigt oder ein anderes Unglück passiert. Das Wissen um seine Person sollte dir doch wohl vorliegen. Willst du wirklich eine schwarze Sonne riskieren? Hier? Direkt neben dir? Neben deiner Partnerin?” Reznicks Herzschlag beschleunigte und seine Muskeln spannten sich unmerklich an. Er begriff also die Gefahr. Sehr schön. Doch reichte es noch nicht aus, dass er seine Aufmerksamkeit von mir nahm, um meine Aussage zu überprüfen. Ein Blick auf Elian traute er sich nicht, weil er von mir irgendeine hinterhältige Aktion erwartete. Eine wahre Zwickmühle.
Und er hatte Recht. Selbstverständlich führte ich in einer der Taschen gewisse Dinge mit mir, die ihn in Bedrängnis bringen konnten. Der Sicherheitstrakt war schließlich voll von allerhand disziplinarischen Gegenständen gewesen. Für den Fall der Fälle hatte ich auch einige davon mitgenommen. Hauptsächlich elektronische Halsbänder für Sklaven, um mögliche Gewalt unterbinden zu können, aber es befanden sich ebenso jene darunter, mit denen ich meinen Willen jemandem aufzwingen konnte. Ein Gedanke, der von Mal zu Mal verlockender wurde, aber doch wenig hilfreich war.
“Reznick ...” Dezeria streichelte sanft über seinen Oberarm. “Elian sieht wirklich nicht gut aus. Wenn das Mittel ihm helfen könnte ...” Er stöhnte frustriert.
“Ist ja gut. Ich mach’s.” Mit einem letzten warnenden Blick zu mir wandte er sich ab. “Wird im schlimmsten Fall sowieso nur eine Betäubung sein.” Seine Aussage amüsierte mich. Dachte er das ernsthaft?
“Welch unlogische Annahme. Ich habe nicht vor, ihn durch die Gegend zu tragen. Du etwa?”
“Halt die Klappe!” Reznick hockte sich wankend neben Elian, setzte den Injektionsstempel an dessen Hals an und verabreichte ihm die von mir zuvor genannte Dosis. Die Prozedur ließ der Junge auch ohne eine Regung über sich ergehen. Was das anging, war er ein unproblematischer Charakter. Ebenso wie Suciu, die alles bisher still mitverfolgte. Wobei. Ganz freiwillig wohl nicht. Ihre Augen waren geschlossen und ihr Kopf kippte immer mal wieder leicht zur Seite. Ein Scan ihres Körpers bestätigte die Schwäche. Sie rang eindeutig mit dem Schlaf. Die ausgehende Lichtfrequenz von Elians Fähigkeit reichte nicht aus, um sie angemessen zu versorgen. Wenn er das nicht bald änderte, würde sie künstliches Licht benötigen. Was an sich auch nicht schlimm war. Ihr Transportgerät verfügte dank Leopolds Umsicht über eine dementsprechende Funktion. Die Sitzfläche des STH’s samt Lehne ließen sich in jeder gewünschten Intensität beleuchten. Man musste es nur einschalten.
“Was ist mit deiner Schulter?” Reznicks Wut hatte offensichtlich soweit nachgelassen, dass er mir nicht länger seine volle Aufmerksamkeit schenkte. Zwar warf er mir nach wie vor regelmäßig einen prüfenden Blick zu, kümmerte sich dazwischen aber konzentriert um Dezeria – begutachtete ihre Verletzungen.
“Es geht schon.” Er verzog unerfreut das Gesicht und berührte anschließend die gezackte schwarze Verbrennung auf ihrer Haut. “Aua!” Sie zuckte vor seiner Hand weg.
“Hör auf, es herunterzuspielen!” Er atmete einmal tief durch. “Ich will die Wahrheit von dir hören ... Es hat zu bluten angefangen.” Das war mir auch nicht entgangen, hielt sich aber noch im normalen Rahmen einer Essenzwunde.
“Es lässt sich aushalten, wenn du nicht draufdrückst! Aber was ist mit dir? Du hast deutlich mehr abbekommen als ich ... Dein Arm ... Du kannst ihn immer noch nicht bewegen. Ich mache mir Sorgen.” Gerade, als ich den beiden erneut das Siasal anbieten wollte, kam eine meiner Drohnen zurück und erschlug mich förmlich mit dem darauffolgenden Dateneingang.
Der vollumfängliche Bericht vereinnahmte sogleich mein ganzes Selbst. Interessiert und unter Abschirmung aller äußeren Ablenkungen ging ich die empfangenden Zahlen durch. Die kleine Maschine hatte scheinbar Leopold gefunden, oder eher, was sein Essenzausbruch von ihm übriggelassen hatte. Er war der Ursprung eines gigantischen blitzgeladenen Metallgeflechts, welches noch immer durch die Wände der Tyschenka kroch und sie beschädigte. Ein faszinierender Anblick.
Von Heka selbst fehlte zwar jede Spur, aber ich war mir sicher, dass sie dafür die Verantwortung trug. Bei meinem ersten Gang durch die Datenbanken des Schiffes, fand ich diverse alte Aufzeichnungen, in denen Leopold ähnlich ausgesehen hatte und sie damals der Auslöser dafür gewesen war. Seine Auswertungen zu diesem komplexen Thema hatte ich richtiggehend verschlungen. Ob nun intensive Meinungsverschiedenheiten oder missglückte Bindungsversuche zweier Elementare – der Ausgang blieb immer derselbe. Völlige Zerstörung. Kapazitäten von unmessbarer Energie.
Sorgen um Heka machte ich mir allerdings nicht. Zwar hatte es sie mit einhundertprozentiger Wahrscheinlichkeit dabei selbst zerlegt, aber das war unbedeutend. Hier gab es genug Hüllen, in die sie nach solch einem Fall schlüpfen konnte. Sei es eine von ihren vorgefertigten Körpern, eine simple Servicemaschine, wie ich sie hatte, oder ein plumper Bleasta. Irgendwo steckte sie schon. Allem Zerfall zum Trotz. Sie musste sich lediglich zuerst erholen, ebenso wie Leopold.
Wehmütig schloss ich sämtliche Dateien des Berichtes. Gerne hätte ich sie noch näher analysiert, aber dafür fehlte mir eindeutig die Teck. Zudem hatte ich keine Zeit. Die Gelegenheit, dass beide im Moment außer Gefecht waren, musste ich nutzen. Es spielte meinen eigenen Plänen so unfassbar gut zu, dass es dafür weder Worte noch Zahlen gab. Jetzt galt es unbedingt alle Störenfriede zusammen zu sammeln und in einen Gleiter zu verfrachten. Solch eine Gelegenheit kam sicher kein zweites Mal!