Unschlüssig passte ich nun schon zum fünfunddreißigsten Mal eine winzige Kleinigkeit im Gesicht des Modells meines neuen Körpers an. Ich war nicht zufrieden. Nichts gefiel mir oder ich konnte mich nicht zwischen mehreren Varianten entscheiden. Unglaublich, wie schwer das war. Wie hatte Leopold nur so viele meiner Hüllen entwerfen können? Ich schaffte nicht einmal, diese eine so anzupassen, dass ich nichts mehr zu beanstanden hatte. Aber. Vielleicht war genau das auch das Problem. Zu viele Möglichkeiten. Man sollte nicht derart viele Einstellungen machen dürfen. Normalerweise beseelte ein ungebundener Elementar einen toten Körper, ohne diesen zu verändern. Da gab es lediglich die Wahl zwischen annehmen oder eben ablehnen.
“Leopold?” Ich sah zu ihm, aber rührte er sich nicht. “Leopold?” Wieder keine Reaktion, was mich wütend machte. Meine Essenz wand sich stürmisch. Die Luft knisterte und feine Lichtbögen huschten über meine Haut. Ich musste mich stark zusammenreißen, seine Kopie nicht augenblicklich mit meinen Blitzen zu durchsieben. Immerhin wollte ich seine Aufmerksamkeit und diese nicht zerstören. Wobei. Wenn ich es tat, würde er mit dem Original kommen müssen. Das war in der Tat sehr verlockend. Bevor ich jedoch einen Blitz auf ihn hetzen konnte, riss er die Augen auf und sah mich an. Er lächelte, was mich wiederum verärgert den Blick senken ließ. Das hatte er doch mit Absicht gemacht!
“Du sollst nicht mit mir spielen!”
“Tu ich nicht, Liebste, und das weißt du auch. Nur weil ich die Augen geschlossen habe, heißt das nicht, dass ich dir nicht aufmerksam zuhöre.” Von wegen.
“Du hast darauf abgezielt, dass ich meine Blitze gegen dich einsetze. Das machst du immer!”
“Ich werde nicht widersprechen. Wenn du es so sehen möchtest, ist das auch in Ordnung. Darf ich dennoch erfahren, was du fragen oder wissen wolltest?”
“Nein.” Ich hörte sein Seufzen, zwang mich aber dazu, jetzt bloß nicht hochzusehen. Leider machte der Bildschirm des Ydels und das darauf angezeigte Modell es auch nicht besser. Schließlich hatte ich deswegen mit ihm sprechen wollen. “Es geht um deinen Modifikator. Er ist fehlerhaft.”
“Inwiefern?” Er stand sofort auf und kam zu mir. “Bitte zeig mir, was nicht richtig funktioniert.” Meine Augen wanderten ganz automatisch zu ihm. Hafteten sich an seine Lippen.
“Das Programm an sich läuft und ist schön übersichtlich ...” Warum verlangte alles in mir nach einem erneuten Kuss? Wieso bloß musste seine blöde Kopie hier sein?
“Aber?” Er beugte sich langsam vor. Kam mir dabei so nah und war doch gleichzeitig zu weit entfernt. Meine Essenz sehnte sich, mit ihm eins zu werden. Auch wenn das dumm war.
“Bleib ja auf Abstand!” Seinem unverschämten Lächeln nach zu urteilen, hatte er meine Sehnsucht gespürt. Was nicht akzeptabel war. Genauso, wie ihn zu wollen. Er war nicht mein Partner! Nicht für mich bestimmt!
“Verzeih.” Er schritt zurück und bemühte sich, mir nicht zu nahe zu kommen, aber gleichzeitig einen Blick auf das Tablet werfen zu können. Das allerdings passte mir auch nicht. Schnell drückte ich das Gerät an meine Brust. Keine Ahnung, warum ich plötzlich nicht wollte, dass er meinen entworfenen Körper betrachtete, aber solange der nicht fertig war, sollte er ihn nicht zu Gesicht bekommen. Diese Handlung verwirrte ihn offensichtlich sehr, sagte aber nichts weiter dazu. Er wartete lediglich und gab mir somit die Zeit, die ich brauchte, um etwas Ordnung in meinem System und Gedanken zu schaffen.
“Entschuldige”, sprach ich nach einer Weile dieses Wort, das so viel und doch zu wenig ausdrückte. Mir war klar, dass ich schwierig war, aber ich konnte nun einmal auch nicht anders. “Du sollst es noch nicht sehen.”
“So?” Neugierde glitzerte in seinen dunkelbraunen Augen. “Dann hast du also tatsächlich angefangen, einen Körper zu entwerfen? Das ist wunderbar!” Er strahlte regelrecht vor Freude.
“Nein. Es ist ... schwierig.”
“Wobei kommst du nicht weiter? Du sagtest was von fehlerhaft."
“Ja ...” Ich legte das Tablet wieder auf meinen Schoß und starrte auf das Modell. “Ich finde es nicht richtig.”
“Was genau, Liebste? Bitte sag mir, wie ich es für dich leichter machen kann. Fehlen dir irgendwelche Einstellungsmöglichkeiten? Farbvarianten bei den Augen? Für die Allgemeinheit wird diese Funktion natürlich verfügbar sein, bei dir jedoch ist es unnötig. Du weißt ja, dass die Essenz die ursprüngliche –”
“Nein. Oder doch, ja.” Ich sah zu ihm. “Ich halte die Vorgabe ... also dieses Selbstbestimmen für nicht in Ordnung. Es ist doch genau das, was die Augonen in ihren Anlagen machen, oder? Sie entwerfen neue Reas, ganz nach ihren Vorstellungen, aber so funktioniert das bei den Elementaren nicht.”
“Es ist nicht, wie bei den Augonen. Dieses Pr–”
“Ach nein?” Blitze züngelten durch die Luft. “Sie tun doch genau DAS!”
“Liebste.” Er verschränkte die Arme und sein Ausdruck wurde kühl. “Ich kann deine Sorge und Unsicherheit verstehen. Sicher vermutest du wieder irgendetwas Schlechtes und dass ich für die Rea einen Test machen soll, aber das ist hierbei nicht der Fall – war noch NIE der Fall. Ich habe dieses Programm für jene entwickelt, die bereits dem Auwolast entsagt haben oder es noch tun wollen. Jeder von ihnen hat somit schon einmal einen Körper besessen und sich an ein bestimmtes Aussehen gewöhnt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie genau wissen, was sie wollen. Oder haben zumindest eine grobe Ahnung, wie sie sich ihr zukünftiges Aussehen vorstellen. Es wäre anmaßend, diesen Leuten ein fremdes Erscheinungsbild einfach aufzuzwingen. Deswegen habe auch ich immer versucht, dich mit einzubeziehen, wenn ich eine Puppe für dich entworfen habe. Für gänzlich ungebundene Elementare, sofern es überhaupt je dazu kommen sollte, ließe sich eine Funktion einpatchen, die Körper anhand grob gerichteter Merkmale kreiert. Eine Art natürlicher Zufall, wenn du so willst. Sollte auch dass dir nicht gefallen, dann sag mir bitte klar und deutlich, was ich anders machen soll.” Er sah mich auffordernd an, aber darauf konnte ich nichts erwidern. Seine Worte waren schlüssig. Ob ich nun wollte oder nicht. Er hatte sich wahrlich mehr Gedanken darüber gemacht, obwohl er von dieser Thematik nicht einmal betroffen war.
Je länger das Schweigen hielt, desto unruhiger wurde meine Essenz. Ich hasste diesen Stillstand – dieses Nichtstun, also konzentrierte ich mich wieder auf meine Aufgabe. Leopold blendete ich dabei vollkommen aus. Auch Elian drängte ich in meinem Verstand stärker in den Hintergrund. Ich streichelte ein letztes Mal durch sein Haar, bevor ich mich ganz dem Ydel widmete. Meinem zukünftigen ersten echten Körper. Das würde ich schon hinbekommen. Am besten, ohne viel nachzudenken. Keine Berechnungen. Einfach nur machen. Genau. Diese Idee fand ich sogar so gut, dass ich geschwind jedes nicht benötigte System meiner Puppe abschaltete, um mich nicht weiter von irgendwelchen sinnlosen Zahlen ablenken zu lassen. Es sollte für mich nur noch diesen Modifikator geben und sonst nichts auf der Welt.
Wie viel Zeit letztlich verging, bis ich endlich fertig war, wusste ich nicht. Jedoch stellte ich eines sehr schnell fest, nachdem ich Stück für Stück meine eigentlichen Programme wieder laufen ließ, das Ergebnis – es gefiel mir nicht. Der Körper glich irgendwie zu sehr einer CeKyde. Zu perfekt. Logisch betrachtet ergab das Äußere natürlich Sinn. Dieser Körper würde nicht auffallen und doch störte mich genau das. Ich wollte nicht aussehen, wie all die anderen Rea!
Verstimmt löschte ich das Modell und scrollte wieder einmal durch die Hüllen, die Leopold für mich gemacht hatte. Mein Blick blieb dabei mehrmals an der hängen, die ich aktuell nutzte. Würde es mich stören, wenn ich für immer so aussehen würde? Wäre es nicht komisch, mit eben jenem Körper rumzulaufen, den ausgerechnet ER entworfen hatte? Ich war mir nicht sicher. Mir war nur klar, dass es für mich im Moment keine Rolle spielte. Mir gefiel die helle Haut mit den vereinzelten kleinen grauen Flecken darauf. So sehr, dass ich dem Modell noch weitere dieser Pigmentflecken hinzufügte und mich dann entschied, dass es dieser werden sollte. Mein neues Ich.
Als ich die Datei speicherte und nach einigem Zögern auch den Button für die Fabrikation betätigte, fragte ich mich, wie es wohl sein würde. Die Vorstellung, nicht mehr instabil zu sein – würde es so wie früher werden? Wie in die Zeit vor meiner Gefangenschaft? Vor meiner Verstümmelung? Das wäre schön, aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, erwartete ich zu viel. Diese Hoffnung starb schon vor so unendlich langer Zeit. Ich konnte schon froh sein, wenn der Körper mich nicht abstieß, aber selbst das schien mir noch zu hochgesteckt. Und was machte ich eigentlich, wenn es wieder nicht funktionierte? Konnte meine Seele von der Enttäuschung noch weiter zerstört werden? Wahrscheinlich. So seltsam diese Antwort auch war. Trotz all der Versuche, die ich bisher hinter mir hatte, belastete mich jeder Fehlschlag aufs Neue. Jedes Mal ein Stückchen mehr. Ich war dumm. Warum hatte ich mich damit überhaupt beschäftigt, obwohl ich es doch nie wieder hatte tun wollen?
Ich blickte auf. Sah zu Leopold, der immer noch einen Meter von mir entfernt stand und mich reglos beobachtete. Er war der Grund, warum ich es letztlich doch immer und immer wieder versuchte. Wieso verstand ich dabei selbst nicht. Ich tat es – seinetwegen? Meinetwegen? Es war belastend, darüber nachzudenken. Rührte einen wilden Sturm in meinem inneren. Ich wünschte mir fast, dass der neue Körper scheiterte. Ja. Dann wäre alles leichter. Ich könnte Leopold die Schuld geben, wenn es nicht funktionierte. Ein Streit. Blitze. All die eingesperrte Essenz würde aus mir ausbrechen und blind wüten, bis ich nicht mehr konnte.
“Ist das Spiel jetzt zu Ende?” Ich war erschöpft. Sämtliche Datenspeicher waren überfüllt. Es wurde Zeit. Er sollte mein System von all dem Datenmüll bereinigen und wieder als simple KI in einen Schiffskern laden.
“Spiel?” Er neigte ein Stück den Kopf. Wirkte verwirrt. “Kein Spiel, Liebste. Ich sagte doch, du bekommst eine neue Aufgabe.” Stimmt. Das klang vertraut. Informationsfetzen existierten da und dort. Tauchten aus dem Zahlenmeer auf und gingen wieder unter. Ein beständiges Auf und Ab.
“Meine Lebensaufgabe ...” Reznick beschützen. Was davor war, kannte ich schon gar nicht mehr. Und was danach kommen würde, wenn ich einen echten Körper hatte – wer wusste das schon? Könnte ich ihn dann noch beschützen? Würde er mich überhaupt brauchen? Oder Hendrickson? Oder – zu viel. Alle brauchten mich. Keiner brauchte mich. Für was existierte ich eigentlich? Welchen Nutzen hatte ich?
Meine Kontrolle über die Hülle fiel so abrupt, dass sämtliche Sicherheitsmaßnahmen und ein Schnellreset nicht verhindern konnten, dass ich zusammensackte und nach vorne kippte. Alles schwarz wurde.
“Hey, Liebste ...” Als meine Sensorik wieder funktionierte, befand ich mich in Leopolds Armen. Eng an seine Brust gedrückt. “Deine Schwingungen sind kritisch.” Es hätte so schön sein können, aber durch die blöde Kopie konnte ich es nicht genießen. “Scheinbar hast du doch ein Problem damit, wenn du eine Hülle bekommst, die aus mir gewebt worden ist. Das tut mir unendlich leid.” Er eilte mit mir zu Tür. “Du bekommst sofort einen anderen, während sich dein erstelltes Model noch im Druck befindet.”
“Nein.” Meine Hand krallte sich an den Rahmen, als er das Zimmer verlassen wollte. “Ich will keinen Wechsel. Mir geht es gut. Lass mich runter!” Der Neustart hatte geholfen. Für wie lange blieb allerdings fraglich.
“Wie du wünschst.” Zu seinem Glück ließ er mich tatsächlich runter, andernfalls hätte ich ihm ungezügelte Blitze verpasst. “Möchtest du dann vielleicht Musik hören und etwas tanzen? Das hat dir bisher immer geholfen.” Ich ignorierte ihn und ging zurück zu Elian. “Ich steuer im Übrigen den Planeten Nepner an. Na? Wie klingt das für dich? Da kannst du dich nach Belieben austoben.” Ich hielt vor dem Krankenbett inne. Starrte wütend auf eine Stofffalte der Decke. Wind floss um mich herum. Wehte die vielen kleinen Bändchen meines Kleides herum.
“Hör auf damit.” Ich wollte das nicht hören. Nichts aus seinem Mund. Es machte alles so viel schwerer. “Du redest und redest ...” Die Falte verzog sich plötzlich. Elian bewegte sich, was mich vor Freude sämtliche weiteren Worte verwerfen ließ. Vorsichtig griff ich nach seiner Hand und beobachtete sein Gesicht. Erfasste jede noch so kleine Regung. Er runzelte die Stirn und wand sich etwas, als wäre ihm das Licht zu hell. Es dauerte eine Weile, bis er es endlich schaffte, die Augen zu öffnen.
“Meekamahi ...” Noch etwas unbeholfen richtete er sich auf, krabbelte ein Stückchen zum Rand und umarmte mich anschließend. “Schön, dein Licht zu sehen.” Das erleichterte mich. Er erkannte mich wirklich in jeder Hülle unabhängig von meinem tatsächlichen Äußeren.
“Weißt du, warum du hier bist?” Leopold stellte sich an meine Seite.
“Leo!” Er wollte auch ihn umarmen, hielt dann jedoch inne und zog eine Schnute. “Du bist nicht wirklich hier. Dein Licht ist trüb.”
“Beantworte die Frage.” Er beugte sich vor und umfasste sein Gesicht. Prüfend besah er sich erst das eine, dann das andere Auge. Kein Schatten ließ sich mehr darin erkennen.
“Woran erinnerst du dich als letztes?”
“Weiß nicht.” Elian ließ die Prozedur gelassen über sich ergehen, während ich die Arme verschränkte und Leopold niederstarrte. “Du bist sehr wütend.” Sein fragender Blick erfasste mich. “Warum?” Nun sah er besorgt zu Leopold. “Hab ich etwas Falsches gemacht?”
“Nein.” Er schüttelte den Kopf und lächelte sanft. “Nur ein kleiner Zusammenbruch. Kannst du aufstehen oder soll ich dich tragen? Suciu macht sich Sorgen. Sie wartet auf dich.”
“Und das soll sie nicht!” Elian strahlte bis über beide Ohren und hatte es auf einmal sehr eilig aus dem Bett zu kommen. “Tut mir leid, dass ich euch Umstände gemacht habe.” Als er stand, fiel ihm erstmals auf, dass er vollkommen nackt war, bevor ihm das jedoch unangenehm werden konnte, hielt Leopold ihm bereits eine aufgeschlagene Robe hin. “Danke.” Wie ein kleiner Junge ließ er sich von ihm anziehen und erinnerte mich dabei so stark an Reznick, dass es mir einen unangenehmen Schlag verpasste. Blitze pulsierten in meinem Inneren. Zahlen. Bilder. Erinnerungen. Reznick war auch einmal so unbeholfen gewesen. Unschuldig. Bedürftig nach Hilfe und Zuneigung. Ich sehnte mich danach, obwohl es nie wieder so sein würde. Warum konnte man die Zeit bloß nicht zurückdrehen? Wieso ging es nur immer weiter und weiter? Mittlerweile war die Kluft so groß zwischen uns, dass sie sicher nie wieder heilen würde.
“Meekamahi?” Elian zupfte an meinem Kleid und musterte mich unsicher. “Was hast du? Ist was Schlimmes beim Spiel passiert? Konntest du das Feuer nicht retten? Oder das Wasser?”
“Nein. Alles ist in Ordnung. Sie sind hier und wohlauf.” Ich sah Leopold dabei kühl an. “Wir können sie bestimmt gleich besuchen, dann mache ich euch gerne miteinander bekannt.”
“Wirklich? Jetzt? Kann Suciu auch mitkommen?” Sein Blick wechselte aufgeregt zwischen mir und Leopold hin und her.
“Später”, warf dieser natürlich sofort ein. “Noch habe ich die fremden Elementare isoliert, Elian. Wir wollen doch keine weiteren Überraschungen erleben, nicht wahr?”
“Nein, wollen wir nicht!” Wild schüttelte er den Kopf und sah anschließend zu mir. “Ich kann warten, Meekamahi ... Das Eis war auch instabil und obwohl Leo gesagt hat, sie kann mir nichts tun, hat sie mich eingefroren!” Das verwunderte mich. Er redete von Dezeria, aber warum hätte sie das tun sollen? “Erzähl doch lieber was du alles gesehen und erlebt hast draußen, ja? Suciu wird sich sicher auch sehr darüber freuen.”
“Sie wird euch alles erzählen.” Leopold fuhr ihm zärtlich durch die Haare und deutete mir dabei Richtung Tür. "Stimmt's, Liebste? Du kannst do–” Plötzlich zerfiel die Kopie, was Elian erschrocken zusammenzucken ließ. Völlig entsetzt starrte er den Haufen Kristallstaub an und klammerte sich fest an mich.
“Warum ist seine Kontrolle gefallen? Wo ist überhaupt Leo? Was ist passiert? Sind wir in Gefahr?” Er hatte Angst, aber das war unnötig. Bei mir würde ihm nie etwas passieren. Allerdings fragte ich mich selbst, was das gerade sollte. Es war offensichtlich kein beabsichtigtes Auflösen gewesen.
“Ganz ruhig, ich sehe mal nach.” Wofür ich für gewöhnlich Tyschka genutzt hätte, aber nicht jetzt. Ich wollte aus reinen Daten erfahren, was hier vor sich ging und keine dumme KI fragen, die voll unter Leopolds Kontrolle stand.
Mithilfe meiner Essenz weitete ich Stück für Stück die Sinne und tastete vorsichtig die Tyschenka ab. Ich fand auf Anhieb die unverkennbaren Schwingungen von Suciu, Johanna und Zerian. Dann noch die ehemaligen Sklaven von Ludwig. Sonst jedoch war da nichts weiter. Was seltsam war. Wo steckte Leopold, Reznick oder Dezeria? Von Hendrickson fehlte auch jede Spur. Hatte er mich dahingehend getäuscht? Oder hatte er sich mit ihnen in einem anderen Schiff heimlich aus dem Staub gemacht? Ergab das Sinn?
Langsam verstärkte ich meine Bemühungen. Dabei wurde mir das erste Mal wirklich bewusst, wie viele verborgene Bereiche es hier gab – verborgen extra vor mir! Etliche Räume waren deutlich spürbar mit Bleasta verkleidet. Wie verschwommene Flecke benebelten sie mein Sichtfeld. Bei den größten Flächen handelte es sich vermutlich um Leopolds Laborzeugs, aber das andere? Es würde ohne Zweifel dauern, alles körperlich selbst abzusuchen, was mich frustrierte. Ich wollte jetzt Antworten!
Verärgert setzte ich mehr Energie frei, verfeinerte mein Netz und variierte die Frequenzen. Es war mir mittlerweile vollkommen gleich, ob dadurch die Elektronik der Tyschenka in Mitleidenschaft gezogen wurde oder ich mich überanstrengte. Denn es lohnte sich. Eins der verborgenen Bereiche erregte meine Aufmerksamkeit – war anders als die anderen. Dort wurde im Moment sehr viel Strom verbraucht und die Art der abschirmenden Wellen glich einer massiven Barriere. Das war verdächtig und musste ich mir unbedingt ansehen.
“Hast du was gefunden?” Elian blickte mich erwartungsvoll an, als ich meine Essenz wieder zügelte. Ich brauchte jedoch einen Moment, um zu antworten. Der Ursprung nagte gewaltig an meiner Seele. Diese Aktion hatte wahrlich sämtliche meiner Sinne überstrapaziert und selbst die Puppe in Mitleidenschaft gezogen. Einige der Prozessoren waren derart erhitzt, dass die Systeme erst gar nicht reagieren wollten.
“Einen abgeschirmten Raum mit einer starken Barriere.”
“Und Leo ist da drinnen? Warum?” Das wüsste ich auch gerne, aber wenn er da drin war, bedeutete es zwangsläufig, dass Reznick und Dezeria dort sein mussten. Das gefiel mir irgendwie nicht. Ganz und gar nicht.
“Ich werde mal nachsehen.” Behutsam löste ich mich von Elian und eilte zu Tür. Er folgte mir jedoch. Griff nach meinem Kleid.
“Also sind keine Fremden da, um uns zu holen? Suciu ist auch sicher?”
“Ja, ist sie. Du brauchst dir keine Sorgen machen.” Sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Er hatte Angst und glaubte mir nicht. “Ich sehe nach Leopold und komme dann wieder mit ihm zurück, ja? Warte du bitte hier.”
“Oki ...” Er nickte brav, auch wenn es ihn viel Mühe kostete, seine Finger von meiner Kleidung zu lösen. Ich schenkte ihm noch ein aufmunterndes Lächeln, ehe ich mich abwandte und aus der Tür verschwand. So gerne ich ihn auch umsorgte und seine Nähe genoss, ich musste gehen – musste wissen, was hier vor sich ging.
Ein Fahrpannel brachte mich geschwind durch die Flure und erheiterte mein Gemüt, als die Hautsensorik vielerlei Zahlen aufblinken ließ, die einen beständigen Lufthauch bedeuteten. Es war schön und lenkte mich von all meinen schweren Gedanken ab, jedenfalls bis zu dem Augenblick, als ich diesen ominösen Raum erreichte. Der Durchgang, gleich einem großen Torbogen, war verschlossen. Dabei nicht von einer materiellen Tür. Nein. Ich legte prüfend eine Hand auf das weiße undurchdringbare Feld. Das war in der Tat bereits die Barriere und wie es aussah, war sie für gewöhnlich nicht hier. Das war keine Isolierkammer oder ein Laborabteil.
Prüfend schritt ich zu der Steuerkonsole an der Seite und versuchte, Tyschka einen Befehl zum Öffnen zu geben. Was seltsamerweise nicht funktionierte. Ein Schlüsselcode wurde benötigt, was mich auf so vielen Ebenen verstörte, dass es dazu keine Worte gab. Noch nie hatte Leopold vor mir einen Raum verschlossen. Warum also jetzt?
Ohne es ein zweites Mal zu probieren, jagte ich einen kreischenden Blitz mitten in das Bedienfeld. Mir reichte es. Endgültig. Ich grillte sämtliche Elektronik der Tyschenka in diesem Area, was nicht nur den Durchgang freigab, sondern auch etliche Kabelschächte aus den Wänden sprengte. Egal, es war mir alles so egal. Da war so viel angestaute wilde Wut in mir, dass ich schon glaubte, gänzlich daraus zu bestehen. Jedenfalls bis zu der Sekunde, in der mich Leopold völlig durcheinanderbrachte. All mein Zorn verschwand und wich unendlicher Sorge. Sorge und Angst. Plötzlich war er überall, aber nicht auf die gute Art. Nicht in einem angenehmen Rahmen, vorsichtig oder behutsam. Nein. Ich spürte Überforderung. Nicht durch die Puppe. Nicht durch Zahlen. Seine Essenz strömte derart brutal aus dem Raum, dass es mir fast den Verstand raubte. Welle um Welle peitschte auf mich ein. Feine Blitze schnappten von allen Seiten nach meiner Seele, dass ich Mühe hatte, mich zusammenzuhalten. Was war bloß passiert? Warum strahlte Leopold derart viel Macht aus?